Thomas Hager

HEILMITTEL
PARTYDROGE
TEUFELSZEUG

Die unglaublichen Karrieren
der zehn wichtigsten Wirkstoffe der Welt

Aus dem Amerikanischen
von Annika Tschöpe

Copyright © 2019 Thomas Hager
First published in the English language in 2019
By Abrams Press, an imprint of Harry N. Abrams, Incorporated, New York englischer Originaltitel: Ten Drugs
(All rights reserved in all countries by Harry N. Abrams, Inc. )

Abbildung S. 248: Anastasiya Litvinenka / shutterstock

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

Für Jackson, Zane und Elizabeth

INHALT

Einleitung

KAPITEL 1

Die Freudenpflanze

KAPITEL 2

Lady Marys Ungeheuer

KAPITEL 3

Der K.-o.-Tropfen

KAPITEL 4

Mit Heroin den Husten lindern

KAPITEL 5

Zauberkugeln

KAPITEL 6

Das am wengisten erforschte Gebiet der Welt

INTERMEZZO

Das Goldene Zeitalter

KAPITEL 7

Sex, Medikamente und noch mehr Medikamente

KAPITEL 8

Der verzauberte Ring

KAPITEL 9

Statine: eine persönliche Geschichte

KAPITEL 10

Die Perfektion des Blutes

EPILOG

Die Zukunft der Arzneimittel

Quellenhinweise

Bibliografie

Register

EINLEITUNG

Zwischen 1835 und 1935 war Deutschland fast hundert Jahre lang nicht nur in der Chemie und Physik, sondern auch in weiten Teilen der Medizin, Mathematik und Biologie führend. Die moderne wissenschaftliche Bildung, die vornehmlich auf originäre Forschung und den Austausch zwischen Studierenden und Professoren in kleinen Seminaren setzt, nahm genauso in Deutschland ihren Anfang wie ein neues Modell der engen Zusammenarbeit zwischen akademischen Wissenschaftlern, privaten Industriellen und Regierungsstellen. Deutschland beherrschte in jener Zeit die Welt der Wissenschaft und damit auch die Entwicklung von Arzneimitteln.

Zwei meiner Bücher sind deutschen Forschern gewidmet. The Alchemy of Air erzählt, wie Fritz Haber und Carl Bosch entdeckten, dass Luft zu Brot werden kann (genauer gesagt entdeckten sie ein großindustrielles Verfahren zur Fixierung des Stickstoffes in der Atmosphäre). Das Ergebnis ihrer Arbeit ernährt heutzutage die Hälfte der Menschheit auf dem Planeten, ermöglichte allerdings auch die Herstellung von Waffen, die viele Millionen getötet haben. Ein anderes Buch von mir, The Demon Under the Microscope, beschreibt, wie Gerhard Domagk in den 1920er- und 1930er-Jahren Sulfonamide entdeckte, die ersten in großem Maßstab vertriebenen Antibiotika (ein Kapitel des vorliegenden Buches enthält eine Kurzfassung der Sulfa-Geschichte). Meine Nachforschungen für diese Bücher haben mich nach Deutschland geführt, wo ich mit deutschen Wissenschaftlern, Archivaren, Historikern und Unternehmensleitern sprach.

Daher freue ich mich sehr, dass Ten Drugs nun auch in deutscher Fassung mit dem Titel Heilmittel, Partydroge, Teufelszeug erscheint. Ich hoffe, Sie haben Freude daran.

50 000 PILLEN

Vor einigen Jahren hatte ich auf einer Geschäftsreise einen freien Tag in London. Wie so viele Touristen besuchte ich das Britische Museum. Und dort stieß ich auf etwas Außergewöhnliches, das mich zu diesem Buch veranlasste.

In einer großen, lichtdurchfluteten Galerie im Erdgeschoss befand sich ein riesiger Tisch, vierzehn Meter lang, der mit Tausenden von Pillen übersät war. Das Werk stammte von einem Künstler und Arzt und zeigte die Gesamtmenge von 14 000 Dosen verschreibungspflichtiger Medikamente, die ein durchschnittlicher Brite im Laufe seines Lebens einnimmt. Die Pillen, die in Stoffbahnen eingewebt und mit Erläuterungen versehen waren, bedeckten den gesamten Ausstellungstisch, ein Teppich aus Arzneimitteln. Ich traute kaum meinen Augen. Nahmen die Menschen wirklich so viele Pillen?

Die Antwort lautet: In Großbritannien vielleicht, doch in meiner Heimat, den USA, sind es noch viel mehr – und in Deutschland ebenfalls. Amerikaner schlucken als eifrigste Arzneimittelkonsumenten der Welt im Schnitt drei- bis viermal mehr Pillen als die Briten – Schätzungen zufolge etwa 50 000 Tabletten im Leben – und zahlen dafür über die Hälfte der Gelder, die die Pharmaindustrie alljährlich einnimmt.

Betrachtet man die Menge der pro Jahr verkauften Arzneimittel, so belegt Großbritannien weltweit nur Rang neun, hinter (in absteigender Reihenfolge) den USA, Japan, Deutschland, Frankreich, China, Italien, Spanien und Brasilien. Deutsche wenden für Medikamente im Schnitt zwei Drittel der Summe auf, die Amerikaner zahlen, aber immer noch erheblich mehr als die Briten.

In anderen Ländern ist die Situation sehr unterschiedlich, sowohl hinsichtlich Arzneimittelverbrauch als auch hinsichtlich der Kosten. Die fünfzehn Prozent der Weltbevölkerung in wohlhabenden Ländern, in erster Linie in Nordamerika und Westeuropa, konsumieren etwa neunzig Prozent der weltweiten Medikamente. In der Schweiz sind die Pro-Kopf-Kosten fast genauso hoch wie in den USA, während sie in Portugal nur ein Drittel ausmachen. Menschen in ärmeren Ländern schlucken dagegen weniger Arzneimittel und geben dafür weniger Geld aus (in reicheren Ländern nimmt man mehr moderne, patentierte und besonders teure Medikamente, in ärmeren dafür vermehrt ältere, preiswertere Generika). Der Arzneimittelkonsum ist somit ein Zeichen für Wohlstand, sodass der Medikamentenverbrauch gemeinhin zunimmt, wenn sich die Wirtschaftsleistung eines Landes verbessert. In Indien und China ist beispielsweise gerade zu beobachten, dass sich der Arzneimittelverbrauch an westeuropäische Verhältnisse annähert, da das Durchschnittseinkommen steigt. Das heißt, die Menschen dort nehmen mehr (und teurere) Medikamente.

Natürlich kommt es nicht nur darauf an, wo man ist, sondern auch wer man ist. Es versteht sich von selbst, dass ältere und weniger gesunde Menschen mehr Arzneimittel einnehmen. Da sich die Generation der Babyboomer allmählich dem Rentenalter nähert und die Weltbevölkerung insgesamt immer älter wird, werden künftig immer mehr Menschen immer mehr Medikamente nehmen.

Das erklärt, wieso die Pharmaunternehmen sehr zuversichtlich in die Zukunft blicken. Man geht davon aus, dass der weltweite Umsatz der Pharmabranche schon bald mehr als eine Billion US-Dollar pro Jahr übersteigen wird – mehr als das jährliche Bruttosozialprodukt der allermeisten Länder der Welt. Deutschland, das mehr Arzneimittel herstellt als jedes andere Land in Europa, wird auf dieser Welle mitschwimmen.

Vor diesem Hintergrund sollten wir unsere Spezies vielleicht in Homo pharmacum umbenennen, also die Spezies, die Medikamente herstellt und einnimmt. Wir sind das Volk der Pille.

Dieses Buch wird Ihnen zeigen, wie es dazu gekommen ist, und dabei ein besonderes Augenmerk auf medizinische (also legale, nicht zum Vergnügen genommene, zumeist verschreibungspflichtige) Drogen richten. In einer Reihe von kurzen, anschaulichen Abhandlungen wird quasi die Biografie von zehn Medikamenten umrissen, die die Geschichte der Medizin verändert haben, jeweils durch gemeinsame Themen verbunden sind und zeitlich aneinander anknüpfen.

Eines dieser gemeinsamen Themen ist die Entwicklung der Arzneimittel. Das Wort Droge, im Sinne von Arznei oder Medikament, selbst stammt aus alten französischen und niederländischen Bezeichnungen für die Fässer, die einst zur trockenen Aufbewahrung von Kräutern dienten. Vor einhundertfünfzig Jahren arbeiteten Apotheker im Prinzip so wie heutzutage Pflanzenheilkundler, die ihre Medikamente in erster Linie aus getrockneten Pflanzen gewinnen und zusammenstellen. Ärzten standen damit im 19. Jahrhundert ein paar Dutzend einigermaßen wirksame Naturheilmittel zur Verfügung, mit denen sie ihren Patienten helfen konnten (neben den vielen Hundert nutzlosen, oft alkohollastigen Elixieren, Umschlägen und Pillen, die von Apothekern vor Ort hergestellt und angepriesen wurden). Heute gibt es mehr als 10 000 immer speziellere, immer wirkungsvollere Hightechmedikamente zur Behandlung und oft sogar Heilung von Krankheiten, die Medizinern jahrtausendelang Rätsel aufgegeben hatten.

Innerster Antrieb dieser Entwicklung ist die Suche des Menschen nach Wundermitteln, nach Medikamenten, die Krankheiten in unserem Körper zuverlässig aufspüren und vernichten können, ohne dabei unserer Gesundheit zu schaden. Von jeher strebt man nach allmächtigen, aber risikofreien Arzneimitteln, ein Ziel, das höchstwahrscheinlich nicht zu erreichen ist. Eine perfekte Wunderwaffe wurde bislang nicht gefunden. Aber wir kommen der Sache immer näher.

Ein weiterer roter Faden, der sich durch alle Kapitel zieht, ist die Entwicklung der Branche, die Medikamente herstellt – das globale Ungeheuer, das Kritiker als »Big Pharma« bezeichnen –, und der Art und Weise, wie wir diese Branche steuern. In den 1880er-Jahren waren beispielsweise fast alle Medikamente ohne Rezept frei erhältlich, sogar Mixturen mit Opium, Kokain und Cannabis. Heutzutage ist für beinahe jedes starke Medikament eine Verordnung erforderlich, und Betäubungsmittel wie Heroin kann man nicht einmal mit Rezept kaufen (die einzige Ausnahme ist Großbritannien). Bis in die 1930er- Jahre konnten Arzneimittelhersteller so gut wie alles auf den Markt bringen, solange niemand daran starb. Ob das Mittel tatsächlich wirkte oder nicht, spielte für den Verkäufer keine Rolle. Heute dagegen dürfen verschreibungspflichtige Medikamente erst verkauft werden, wenn sie sich als unbedenklich und wirksam erwiesen haben. Diese Arzneimittelgesetze haben sich – in manchmal überraschender Weise – zusammen mit den Arzneimitteln selbst entwickelt.

Auch unsere Einstellung hat sich verändert. In den 1880er- Jahren bestimmte man in der Regel selbst, was man einnahm. Manche hörten auf den Ratschlag von Ärzten, andere nicht, aber was man schluckte, war die eigene Entscheidung – sei es ein selbst gebrautes Horrormittel wie radioaktives Wasser gegen Krebs oder ein opiumversetzter Sirup für unruhige Babys, den ein kaum geschulter Apotheker in seinem Hinterzimmer zusammengemischt hatte. Jeder konnte frei entscheiden, und der Staat hielt sich weitestgehend heraus.

Heutzutage ist es genau andersherum. Der Weg zu unseren hochwirksamen Arzneimitteln führt in den allermeisten Ländern über die Ärzteschaft mit ihren Verordnungen. Wenn wir heute Medikamente nehmen, halten wir uns zumeist an die Anweisungen.

All diese Arzneimittel haben auch die medizinische Praxis verändert. In den 1880er-Jahren waren die Ärzte Familienberater, die gut diagnostizieren sowie Angehörige trösten und beraten konnten, dem Verlauf tödlicher Krankheiten aber nahezu machtlos gegenüberstanden. Heute dagegen sind die Mediziner allzu oft überlastete, datenversessene Technokraten, die weitaus lieber Laborberichte lesen, als einem Patienten die Hand zu halten. Dafür vollbringen sie wahre Wunder, von denen ihre Kollegen vor einem Jahrhundert nur träumen konnten.

Ein Großteil dieser Fähigkeiten ist Arzneimitteln zu verdanken.

In den letzten fünfundsechzig Jahren hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung in aller Welt Jahr für Jahr um vier Monate verlängert – in erster Linie aufgrund von Medikamenten. Mit Impfungen konnten wir uralte Feinde wie die Pocken nahezu vollständig besiegen (bei Polio stehen wir kurz davor). Verschreibungspflichtige Medikamente haben zusammen mit der Förderung der öffentlichen Gesundheit dazu geführt, dass wir heute viel länger und im Allgemeinen viel gesünder leben.

Allerdings bringt das auch große Risiken mit sich. Jahr für Jahr sterben weltweit rund 200 000 Menschen an einer Überdosis, und zwar nicht nur an illegalen Drogen, sondern auch an ganz legalen Arzneimitteln. Allein in den USA erliegen mittlerweile pro Jahr mehr Menschen einer Überdosis, als der gesamte Vietnamkrieg an Todesopfern unter US-Militärangehörigen gefordert hat. Besonders rasant steigt die Anzahl der Todesfälle, die auf verschreibungspflichtige Medikamente, und zwar vor allem Opioide zur Schmerzlinderung, zurückzuführen sind. Das Problem ist so gravierend, dass ein Rückgang der Lebenserwartung bestimmter Altersgruppen droht, nachdem diese dank der medizinischen Fortschritte ein ganzes Jahrhundert lang kontinuierlich gestiegen war.

Folgendes haben wir den Arzneimitteln zu verdanken: In den schlechten alten Zeiten, vor etwa zweihundert Jahren, lebten Männer im Durchschnitt doppelt so lange wie Frauen (vor allem aufgrund der Gefahren, die Schwangerschaft und Geburt mit sich brachten). Und insgesamt wurden die Menschen etwa halb so alt wie heute. Das lag zum großen Teil daran, dass so viele sehr jung starben. Ein Baby konnte sich damals glücklich schätzen, wenn es die Gefahren und Traumata der Geburt sowie die typischen Kinderkrankheiten wie Pocken, Masern, Keuchhusten, Diphtherie und andere überstand und das Erwachsenenalter erreichte. Dann nämlich konnte es an Schwindsucht, Mandelentzündung, Cholera, Wundrose, Wundbrand, Wassersucht, Syphilis, Scharlach oder ein paar Dutzend anderer Krankheiten sterben, von denen wir heutzutage kaum noch hören. Mittlerweile sterben die Menschen in den meisten wirtschaftlich weit entwickelten Ländern vornehmlich an Herzerkrankungen und Krebs, also an Krankheiten, die eher im mittleren und späteren Lebensabschnitt auftreten (dieser Trend lässt sich allmählich auch in schnell wachsenden Volkswirtschaften wie Indien und China beobachten). Früher fürchtete man sich nicht vor Herzleiden oder Krebs, weil nur wenige Menschen das Alter erreichten, in dem man typischerweise daran erkrankt. Den Arzneimitteln, so schrieb eine Gruppe von Wissenschaftlern kürzlich, ist es zu verdanken, dass »Menschen unterschiedliche Krankheiten, Ärzte unterschiedliche Meinungen zu diesen Krankheiten und Krankheiten in der Gesellschaft unterschiedliche Bedeutungen haben«.

Dieses Buch wird Ihnen zeigen, dass wir Epidemien dank Impfstoffen und Antibiotika nicht mehr hilflos ausgeliefert sind, sondern sie abwehren können. Neben effektiveren Maßnahmen der öffentlichen Gesundheit – saubereres Trinkwasser, bessere Abwassersysteme, bessere Krankenhäuser – haben Medikamente dazu geführt, dass wir nicht mehr die Krankheiten der Kindheit, sondern die Krankheiten des Alters fürchten. Das verdanken wir der Medizin im Allgemeinen und insbesondere den Arzneimitteln.

Die Entwicklung der Arzneimittel ist damit auch mit einem gesellschaftlichen Wandel verknüpft. Medikamente verändern nicht nur die demografische Struktur – unsere Gesellschaft wird immer grauer, weil Arzneimittel das möglich machen –, sondern auch unsere Einstellung zur Gesundheit. Diese technologischen Hilfsmittel sind durchaus in der Lage, unsere Kultur zu verändern.

Wenn man genauer überlegt, sind Arzneimittel wirklich eine seltsame Sache. Moderne Pharmazeutika sind Hightechprodukte, für deren Entwicklung in hochmodernen Labors zig Millionen investiert werden, dabei aber trotz aller Spitzentechnologie so intim, so persönlich, dass sie mit dem Menschen verschmelzen müssen, um ihre Arbeit zu verrichten. Man muss sie schnupfen, trinken, einnehmen, injizieren oder auf die Haut auftragen, damit sie sich mit dem Körper verbinden. Im Menschen zersetzen sie sich und rasen durch das Blut vom Muskel zum Herzen, von der Leber zum Gehirn. Erst dann, wenn sie ganz absorbiert wurden, sich im Körper aufgelöst haben und darin aufgegangen sind, entfalten sie ihre Kraft. Dann können sie verbinden und auslösen, beruhigen und lindern, zerstören und schützen, das Bewusstsein verändern oder die Gesundheit wiederherstellen. Sie können aufmuntern oder ruhigstellen, süchtig machen und Leben retten.

Was verleiht ihnen diese Kraft? Sind sie tierischen, pflanzlichen oder mineralischen Ursprungs? Alles zusammen. Sind sie gut für den Menschen? Oft. Sind sie gefährlich? Immer. Können sie Wunder vollbringen? Allerdings. Können sie uns versklaven? Einige schon.

Immer wirkungsvollere Medikamente, immer mächtigere Ärzte, immer mehr besiegte Krankheiten. Aus diesem Blickwinkel stellt sich die Geschichte der Arzneimittel als Siegeszug des Fortschrittes dar. Doch lassen Sie sich nicht hinters Licht führen: Arzneimittel sind, wie Sie sehen werden, in weiten Teilen aus Fehlern, Unfällen und glücklichen Umständen hervorgegangen.

Dennoch sollte man den Fortschritt nicht vorschnell abschreiben. Definiert man Fortschritt als logische, rationale Anwendung einer wachsenden Anzahl erwiesener Fakten, dann spielt er bei der Arzneimittelentwicklung ebenfalls eine wichtige Rolle. Jedes neue Medikament verrät uns etwas Neues über den Körper, und jede neue Erkenntnis über den Körper trägt zur Herstellung besserer Medikamente bei. Jede neue wissenschaftliche Feststellung wird kritisch beurteilt, geprüft und abermals geprüft sowie gegebenenfalls abgewandelt, bis sie schließlich in den globalen Bestand an Fakten eingeht, die andere Wissenschaftler nutzen können. So mehrt sich das Wissen. Diese Synergie zwischen Arzneimittelherstellung und Grundlagenforschung, die Wechselbeziehung zwischen Labor, Pille und Körper, die in den letzten drei Jahrhunderten in Zehntausenden wissenschaftlichen Publikationen beschrieben wurde, wird aktuell immer schneller und intensiver. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes fortschrittlich. Wenn wir unsere Welt zusammenhalten können, steht uns Großes bevor.

Ich möchte gern deutlich machen, was dieses Buch nicht ist.

Es ist keine wissenschaftliche Geschichte der Pharmaindustrie. Es enthält keine Fußnoten. Es lässt aufgrund seiner Kürze gezwungenermaßen viele weltbewegende Medikamentenentwicklungen außer Acht. Sie werden hier nicht alle wichtigen Medikamente finden, aber viele der Arzneimittel, die sowohl die Geschichte der Medizin als auch die moderne Welt geprägt haben. Ich hoffe, dass Sie diesen faszinierenden Teil der Gesellschaft nach der Lektüre besser verstehen werden.

Dieses Buch wird Wissenschaftlern in der Pharmaindustrie nicht viel Neues verraten, denn es richtet sich nicht an Pharmazeuten, sondern an Menschen, die nur wenig über Arzneimittel wissen und mehr darüber erfahren wollen. Es wurde für den Durchschnittsleser geschrieben, nicht für Fachleute – obwohl ich hoffe, dass auch Fachleute einige interessante neue Aspekte mitnehmen können.

Dieses Buch wird weder Arzneimittelhersteller besonders glücklich machen noch Propharmalobbyisten oder Antipharmaaktivisten. Weder prangert es die böse Pharmaindustrie an noch singt es ein Loblied auf die Wunder der Wissenschaft. Ich habe mit niemandem ein Hühnchen zu rupfen und verfolge keine bestimmte Absicht.

Ich möchte Sie lediglich unterhalten und Ihnen eine neue Welt – die Welt der Medikamentenentdeckung – vorstellen, die nicht nur vieles über die Geschichte der Medizin, sondern auch etliche Aspekte unseres modernen Lebens erklärt, von unserem Verhältnis zu Ärzten bis hin zur Fernsehwerbung, von der Epidemie des Opioidmissbrauches bis hin zu den Möglichkeiten der personalisierten Medizin. Arzneimittelhersteller erzielen unglaubliche Gewinne, und doch können sich viele Menschen dringend benötigte Medikamente nicht leisten. Dieses Buch wird Sie dazu bringen, über die Gründe dafür nachzudenken.

Wenn ich mir eine Sache wünschen dürfte, die Sie aus diesem Buch mitnehmen, dann wäre es die Erkenntnis, dass kein Arzneimittel grundsätzlich gut ist und kein Arzneimittel grundsätzlich schlecht. Jedes Arzneimittel ist beides gleichzeitig.

Anders ausgedrückt: Ausnahmslos jedes wirksame Medikament geht mit potenziell gefährlichen Nebenwirkungen einher. In der Welle der Euphorie, die bei der Markteinführung eines neuen Medikamentes hochschwappt, wird das leicht übersehen. Neu entwickelte Supermedikamente, die oft durch enorme Werbekampagnen und begeisterte Medienberichte gepusht werden, durchlaufen unweigerlich den sogenannten Seige-Zyklus (benannt nach Max Seige, einem deutschen Forscher, der das Phänomen bereits Anfang des letzten Jahrhunderts beschrieb). Der Ablauf ist immer gleich: Ein erstaunliches neues Medikament kommt auf den Markt und trifft auf große Begeisterung und breite Akzeptanz (das ist Stufe 1 des Seige-Zyklus). Auf diese rosigen Zeiten folgen innerhalb weniger Jahre immer mehr negative Nachrichten über die Gefahren des neuen Verkaufsschlagers (Stufe 2). Plötzlich befürchtet man allgemein, die Wunderdroge von gestern könne die große Bedrohung von heute sein. Irgendwann ebbt auch diese Phase ab, und wir erreichen Stufe 3, eine nüchternere Einstellung, in der das Leistungsvermögen des Medikamentes realistisch eingeschätzt wird, es sich in normalem Rahmen verkauft und einen angemessenen Platz im Pantheon der Arzneimittel findet.

Doch dann, ta-da!, stellt ein Pharmaunternehmen das nächste Wundermittel vor, und der Zyklus beginnt von Neuem. Wenn Sie demnächst mal wieder einen aufgeregten Bericht über ein neues bahnbrechendes Arzneimittel hören, denken Sie an den Seige-Zyklus.

Zu den zehn Medikamenten, die ich für dieses Buch ausgewählt habe, ist zu sagen: Einige kennen Sie sicherlich, andere werden Ihnen neu sein. Die Gesamtidee zu diesem Buch stammt von meinem hervorragenden Lektor Jamison Stoltz, doch die endgültige Liste ist von mir.

Ich wollte nicht einfach der Reihe nach die »größten Hits« unter den Arzneimitteln abarbeiten. Deshalb habe ich einige der üblichen Verdächtigen – darunter Aspirin und Penizillin – ausgelassen, weil darüber bereits umfassend geschrieben wurde. Stattdessen finden Sie überraschende Kapitel über weniger bekannte (aber sehr wichtige) Medikamente wie Chloralhydrat (K.-o.-Tropfen, die vielerorts zum Einsatz kommen, in der Arztpraxis genauso wie in zwielichtigen Bars) und Sulfanilamid (das erste Antibiotikum, das Penizillin den Weg bereitete), dazu berühmtere Medikamente wie die Pille oder Viagra. Das Buch geht ausführlich auf Opioide in ihren vielfältigen Formen ein, von der ersten Mohnsafternte in prähistorischen Zeiten bis hin zu den mörderisch starken synthetischen Stoffen, die wir heute kennen. Die Abkömmlinge des Opiums haben es wegen ihrer historischen Bedeutung (ihre Optimierung und Weiterentwicklung im Lauf der Jahrtausende verrät viel über die Geschichte der Arzneimittelherstellung insgesamt) und ihrer gegenwärtigen Rolle (als entscheidender Faktor der aktuellen Epidemie von Sucht und Überdosis) verdient, dass man sich genauer mit ihnen befasst; zudem ist ihre Geschichte voll mit interessanten Charakteren und Geschichten, von einer verlorenen chinesischen Kaiserin bis hin zu einem genialen mittelalterlichen Alchemisten, von Opiumpiraten bis hin zu Hustentropfen mit Heroin.

Wer aufmerksam liest, wird vielleicht bemerken, dass ich nicht ganz exakt zehn Medikamente abhandele. Einige Kapitel konzentrieren sich auf einen einzigen chemischen Stoff (wie CPZ), andere auf eine chemisch verwandte Medikamentengruppe (wie Statine). Also zählen Sie bitte nicht zu streng nach. Darauf kommt es nicht an.

Wichtig ist, dass sich keine ultimative Bestenliste der wichtigsten Arzneimittel der Geschichte festlegen lässt – der Versuch wäre sinnlos. Deshalb habe ich mich bei meiner Auswahl von meiner Einschätzung der historischen Bedeutung des Arzneimittels und seinem Unterhaltungswert leiten lassen. Zudem verzichte ich zugunsten der allgemeinen Lesbarkeit auf allzu viel wissenschaftlichen Fachjargon; ich setze auf anschauliche Geschichten und unvergessliche Charaktere. Das mag Wissenschaftlern vielleicht nicht gefallen. Aber ich hoffe, es kommt bei Ihnen an. Willkommen in der Welt der Arzneimittel.

Thomas Hager
Eugene, Oregon, 2018

KAPITEL 1

DIE FREUDENPFLANZE

Stellen Sie sich einen frühzeitlichen Jäger und Sammler vor, der im Nahen Osten nach der nächsten Mahlzeit sucht. Er streift durch eine unbekannte Gegend, probiert hier und da von einem Insekt, einem Tier oder einer Pflanze. Samen mit einem hohen Nährstoffgehalt sind meist einen Versuch wert, oft auch die Schoten und Früchte, die sie umgeben. An diesem Tag entdeckt er auf offenem Gelände hüfthohe Pflanzen, in deren Kopf schwere, faustgroße, wachsartige hellgrüne Samenkapseln stecken.

Mal probieren. Einmal schnuppern. Vorsichtig abbeißen. Dann das Gesicht verziehen und ausspucken. Das Fleisch der Kapsel schmeckt unerträglich bitter, und das ist ein schlechtes Zeichen. Wir Menschen empfinden viele giftige Dinge als bitter; so zeigt uns die Natur, was wir meiden sollten. Bitter bedeutet in der Regel Magenschmerzen oder Schlimmeres.

Folglich wendet sich unser frühzeitlicher Entdecker von den Pflanzen mit den großen Samenkapseln ab. Doch eine oder zwei Stunden später nimmt er etwas Seltsames wahr. Einen traumartigen Zustand. Linderung seiner Schmerzen. Ein angenehm wohliges Gefühl. Eine Verbindung zu den Göttern. Diese Pflanze war heilig.

Vielleicht hat es irgendwann so angefangen. Vielleicht hat auch ein aufmerksamer frühzeitlicher Mensch bei einem Tier, das von diesen Samenkapseln gefressen hatte, seltsame Verhaltensweisen bemerkt. Auch damit zeigten die Götter die Macht der Pflanze.

Wir wissen nicht, was genau ablief, aber wir wissen in etwa, wann es war. Die lange Liebesbeziehung zwischen der Menschheit und dieser wunderbaren Pflanze begann vor mehr als zehntausend Jahren – noch bevor es Städte, Landwirtschaft, Wissenschaft oder die Geschichte gab. Als in den Tälern von Euphrat und Tigris die ersten Städte der Erde entstanden, verzehrte man die Samen dieser heiligen Pflanze als Nahrung, verwendete ihren bitteren Saft als Medizin und sang ihr Loblieder. Bei der Ausgrabung eines viertausend Jahre alten Palastes im heutigen Nordwestsyrien entdeckten Archäologen kürzlich einen ungewöhnlichen Raum nahe der Küchen. Dort gab es acht Kochstellen und eine Reihe großer Töpfe, aber keinerlei Lebensmittelrückstände. Stattdessen fand man Spuren von Mohn zusammen mit Heliotrop, Kamille und anderen Kräutern, die bekanntermaßen in Medikamenten verwendet wurden. War dies eine der ersten Arzneimittelproduktionsstätten der Welt?

Die Pflanze, der man im Altertum so viel Beachtung schenkte, war eine besondere Mohnart. Die Samenkapseln, besonders der Saft in ihren Außenwänden, hatten eine so starke und heilsame Wirkung, dass sie nicht von dieser Welt zu sein schien. Auf Kreta fand man eine mehr als dreitausend Jahre alte Terrakotta-Statuette einer Göttin mit einem Kopfschmuck, der mit Mohnkapseln verziert ist. Diese Kapseln sind genauso eingeritzt, wie man es heute tut, um den Saft zu gewinnen. »Die Göttin scheint sich in einem durch Opium hervorgerufenen Zustand der Betäubung zu befinden«, schrieb ein griechischer Historiker. »Sie ist in Ekstase, ihr Gesicht zeigt eine Freude, die zweifellos durch die angenehmen Visionen hervorgerufen wird, welche die Droge in ihrer Fantasie entstehen lässt.« Einige Archäologen vertreten die Ansicht, dass die Minoer in dem Raum, in dem diese Göttin gefunden wurde, die Dämpfe von getrockneten Mohnsamen einatmeten.

Die Griechen brachten die Pflanze mit ihren Göttern des Schlafes (Hypnos), der Nacht (Nyx) und des Todes (Thanatos) in Verbindung und verzierten mit ihrem Bild Münzen, Vasen, Schmuck und Grabsteine. Der Sage nach soll die Göttin Demeter mit Mohn den Schmerz über den Verlust ihrer entführten Tochter Persephone gelindert haben. Der antike Dichter Hesiod schrieb achthundert Jahre vor Christi Geburt über eine Stadt in der Nähe von Korinth namens Mekone, was in etwa »Mohnstadt« bedeutet. Der Name könnte laut Historikern darauf zurückzuführen sein, dass es dort ausgedehnte Mohnfarmen gab. Homer erwähnt die Pflanze in der Ilias, während er in der Odyssee erzählt, wie Helena einen Schlaftrank herstellt, der nach gängiger Ansicht Mohnsaft enthielt. Hippokrates nennt Mohn häufig als Bestandteil von Medikamenten. Die Pflanze kam in Tempelritualen zum Einsatz, wurde in Statuen geschnitzt und auf Grabwände gemalt. In getrocknetem Zustand gegessen oder geraucht war sie in der Antike die stärkste Medizin, die die größte Linderung verschaffte, heute ist sie so umstritten wie kaum eine andere. Dieses Arzneimittel ist das wichtigste, das der Mensch je entdeckt hat.

Im Grunde ist es erstaunlich, dass der Mensch in der Frühgeschichte überhaupt natürliche Arzneimittel entdeckte. Immerhin sind fünfundneunzig Prozent der rund 300 000 Pflanzenarten auf der Erde für den Menschen ungenießbar. Wenn Sie in den nächsten Wald marschieren und auf gut Glück Grünzeug futtern, stehen die Chancen zwanzig zu eins, dass Sie sich in Krämpfen winden, übergeben oder sterben werden. Die Wahrscheinlichkeit, unter den wenigen bekömmlichen Pflanzen nützliche Arzneimittel zu finden, geht gegen null.

Unseren Vorfahren jedoch gelang das. Durch systematisches Ausprobieren, Inspiration und Beobachtung entdeckten prähistorische Völker auf der ganzen Welt nach und nach pflanzliche Arzneimittel, die sie in ihr Sortiment aufnahmen. Die ersten Heilkundigen setzten auf heimische Kräuter, die in ihrer Gegend wuchsen; in Nordeuropa waren dies vor allem Alraunwurzel (für fast alle Beschwerden, von Magenproblemen über Husten bis hin zu Schlafstörungen), Schwarze Nieswurz (ein starkes Abführmittel), Bilsenkraut (zur Linderung von Schmerzen und Förderung des Schlafes) und Tollkirsche (bei Schlafstörungen und Augenleiden). Andere frühe Arzneimittel, wie Cannabis, kamen über Handelsrouten aus dem Süden und Osten. Viele begehrte Gewürze, die Händler aus dem Nahen Osten und Asien mitbrachten, zum Beispiel Zimt und Pfeffer, wurden nicht nur zum Würzen, sondern auch als Arzneimittel verwendet. Die Heilkundigen wussten auch genau, wie die heimischen Kräuter richtig zu verwenden waren. Der griechische Arzt Pedanius Dioskurides, der im 1. Jahrhundert in Neros Armee tätig war, fasste das damalige Wissen in seinem mehrbändigen Werk De Materia Medica zusammen, einem der ersten und wichtigsten Arzneimittelhandbücher. Darin listete er nicht nur Hunderte von Kräutern und deren Wirkung auf, sondern beschrieb auch ihre Zubereitung und empfohlene Dosis. Pflanzenblätter konnte man trocknen, zerkleinern und zu Tränken hinzufügen, die über kleiner Flamme gebraut wurden; Wurzeln wurden geerntet, gereinigt, zu Brei zerquetscht oder frisch gegessen. Einige konnte man mit Wein, andere mit Wasser vermischen. Arzneimittel wurden geschluckt, getrunken, eingeatmet, auf die Haut aufgetragen oder als Zäpfchen eingeführt. Dioskurides’ Werk diente mehr als tausend Jahre lang als Leitfaden für die Verwendung von Heilmitteln.

Er beschrieb auch den Mohn, fasste seine Wirkung zusammen und ging auf seine Gefahren ein: »Eine geringe Menge«, so schrieb er in De Materia Medica, »lindert Schmerzen, fördert den Schlaf und die Verdauung, während er bei Husten und Beschwerden in der Bauchhöhle hilft. Wird er zu oft als Getränk eingenommen, ist er schädlich (denn er macht träge) und tödlich. Mit Rosaceum bestreut hilft er gegen Schmerzen, bei Ohrenleiden wird er mit Mandelöl, Safran und Myrrhe ins Ohr geträufelt. Bei Entzündungen der Augen verwendet man ihn mit einem gerösteten Eigelb und Safran, bei Wundrose und offenen Wunden mit Essig, bei Gicht hingegen mit Frauenmilch und Safran. Mit dem Finger als Zäpfchen eingeführt macht er schläfrig.«

Jede Kultur hatte ihren eigenen Namen für die Pflanze und ihren magischen Saft, vom Altsumerischen hul gil für »Freudenpflanze« bis zum Chinesischen ya pian (daher stammt der englische Ausdruck »having a yen for a drug« = Verlangen nach Drogen haben). Das griechische Wort für Saft ist opion, und davon leitet sich das heutige Wort für die aus dem Mohn gewonnene Rohdroge ab: Opium.

Opium lässt sich nicht aus jeder Mohnsorte gewinnen. Weltweit gibt es achtundzwanzig verschiedene Mohnarten, die zur Gattung Papaver gehören. Die meisten sind auffällige Wildblumen, die nur geringe Spuren von Opium produzieren. Nur zwei der achtundzwanzig Arten erzeugen nennenswerte Mengen dieser Droge, und nur eine lässt sich leicht anbauen, wird nur selten von Schädlingen befallen und benötigt nur wenig Wasser. Ihr wissenschaftlicher Name lautet Papaver somniferum (somniferum kommt von Somnus, dem römischen Gott des Schlafes). Diese eine Pflanze, der Schlafmohn, versorgt mit ihrem natürlichen Opium nach wie vor fast die ganze Welt.

Schlafmohn (Papaver somniferum): weiße Blüten, Samen, von M. A. Burnett. Wellcome Collection

Heute diskutiert die Forschung, ob dieser spezielle Mohn schon immer so opiumhaltig war oder ob er in der Frühzeit gezielt kultiviert und gezüchtet wurde, um die Wirkstoffmenge zu erhöhen. Wie dem auch sei, vor zehntausend Jahren wurde Mohn genauso angebaut wie heute, und sein Wirkstoff wurde im Prinzip genauso verarbeitet.

Vor zweitausend Jahren beschrieb Dioskurides, wie man den Saft gewinnt. Das ist erstaunlich einfach: Nach einer kurzen Blütezeit fallen die Blätter der Mohnblüte ab. Innerhalb weniger Tage bringt die Pflanze eine wachsartige grüne Samenkapsel hervor, die so groß wird wie ein Hühnerei. Die Mohnbauern beobachten genau, wann die Kapsel zu trocknen beginnt und eine mattbraune Farbe annimmt, damit sie im richtigen Augenblick einige flache Schnitte in die Rinde machen können. Aus diesen Schnitten sickert dann der Zaubersaft. In diesem Saft aus der Rinde der Samenkapsel ist der Wirkstoff besonders hoch konzentriert (Mohnsamen, die zum Backen und Aromatisieren verwendet werden, enthalten nur sehr wenig Opium).

Frischer Mohnsaft ist wässrig, weißlich, trüb und annähernd wirkungslos. Wird er jedoch einige Stunden der Luft ausgesetzt, verwandelt er sich in eine braune klebrige Masse, die an eine Mischung aus Schuhcreme und Honig erinnert. Dann entfaltet sich seine medizinische Wirkung. Er wird aus der Hülse gekratzt und zu kleinen, klebrigen Klötzen geformt, die man kocht, um Verunreinigungen zu beseitigen. Dabei verdampft die Flüssigkeit, sodass ein Feststoff zurückbleibt, das Rohopium, das zu Kugeln gerollt wird. Und diese dunklen, klebrigen Bälle haben die Geschichte verändert. Schon vor dem 19. Jahrhundert bestanden Arzneimittel nicht nur aus den Kräuterbüscheln, die Hexen, Medizinmänner und Priester in Hinterzimmern trockneten. Auf halb therapeutische, halb magische Weise wurden sie zu Gebräuen und Elixieren verarbeitet, zu Pillen gedreht, mit allen erdenklichen Zutaten von Mumienstaub und Einhorn-Hörnern über zerstoßene Perlen bis hin zu getrocknetem Tigerkot vermischt und für wohlhabende Patienten in aufwendigere Präparate verpackt.

Opium war eine sehr beliebte Zutat. Es ließ sich in Wein auflösen oder mit anderen Inhaltsstoffen vermengen. Wie man es auch einnahm – oral, über die Nase, rektal, geraucht, in Getränken oder in fester Form geschluckt –, es wirkte immer. In jeder Darreichungsform stellte sich, mal schneller, mal etwas weniger schnell, die gleiche Bandbreite an Wirkungen ein, von Müdigkeit und Traumzuständen bis hin zur Linderung von Schmerzen.

Am wichtigsten – eine Art himmlischer Bonus – war jedoch, dass Opium die Patienten glücklich machte. Es hob die Stimmung. Dieser Stoff war nicht nur eine Medizin, sondern der Weg zur Seligkeit. Ein Historiker drückte es so aus: »Opium war so verlockend, weil es den Körper zuverlässig beruhigte und gleichzeitig die Seele umschmeichelte. … Psychische und physische Beschwerden wurden von Zuversicht und seliger Ruhe abgelöst.« Dieses Gesamtpaket an Wirkungen war wahrlich verführerisch: keine Schmerzen mehr, dafür angenehmes Wohlbefinden, ein Glücksgefühl, eine Einladung zum Träumen. Die ersten Konsumenten und Heilkundigen beschrieben die Wirkung oft mit dem gleichen Wort: Euphorie. Opium machte die Schmerzen einer Krankheit oder Verletzung erträglich, während sich gleichzeitig eine große Ruhe einstellte. Für die Ärzte der Frühzeit war es das ideale Mittel (sofern es umsichtig eingesetzt wurde, denn schon damals war bekannt, dass zu viel davon die Patienten leicht vom Schlaf in den Tod befördern konnte).

Kein Wunder, dass sich die Droge im Lauf der Zeit im gesamten Nahen Osten und im Abendland verbreitete, von den Sumerern über die Assyrer und Babylonier bis zu den Ägyptern, von Ägypten nach Griechenland, Rom und Westeuropa. Das beste Opium der Antike soll aus der Gegend um Theben gestammt haben; ein medizinischer Text aus Ägypten dokumentiert seine Verwendung in etwa siebenhundert verschiedenen Medikamenten. Die Armeen Alexanders des Großen hatten den Stoff dabei, als sie sich von Griechenland über Ägypten nach Indien durchschlugen, und machten die Bevölkerung der durchquerten Gegenden damit bekannt. Mohnblumen wurden zum Symbol des Schlafes, sowohl des vorübergehenden als auch des dauerhaften, und wurden mit den Göttern des Schlummers, der Träume und der Verwandlung in Verbindung gebracht, die den Übergang vom Leben zum Tod markierten.

Dass man den Mohn mit dem Tod assoziierte, hatte nicht nur poetische Gründe. Schon im 3. Jahrhundert vor Christi Geburt waren sich die griechischen Ärzte darüber im Klaren, dass Opium ebenso gefährlich wie euphorisierend wirken konnte, und sie diskutierten, ob das Medikament den hohen Preis, den die Patienten zahlten, wert sei. Die Griechen fürchteten, ihren Patienten eine Überdosis zu verabreichen, und erkannten auch, dass es schwierig war, ihnen die Einnahme von Opium abzugewöhnen, wenn sie einmal damit angefangen hatten. Damit beschrieben sie erstmals die Symptome einer Sucht.

Allerdings schienen die Vorteile des Opiums gegenüber den Gefahren deutlich zu überwiegen. Als Rom im 1. und 2. Jahrhundert nach Christus die Welt beherrschte, war Opium angeblich genauso weitverbreitet wie Wein und wurde auf römischen Straßen in Form von Mohnkuchen angeboten – ungebackenen, weichen Süßigkeiten aus Opium, Zucker, Eiern, Honig, Mehl und Fruchtsaft –, der die Stimmung heben und kleinere Beschwerden der Bevölkerung lindern sollte. Kaiser Marc Aurelius nahm angeblich Opium, um besser zu schlafen, und der Dichter Ovid gilt ebenfalls als Konsument.

Nach dem Niedergang des Römischen Reiches eroberte das Opium dank arabischer Händler und Kaufleute neue Märkte. Die leichte, problemlos zu befördernde Substanz war den richtigen Käufern Gold wert und damit in fast jeder Karawanenfracht enthalten, sodass sie sich in Indien, China und Nordafrika verbreitete. Einer der größten arabischen Ärzte, Ibn Sina (im Westen Avicenna genannt), schrieb um 1000 nach Christus, Opium sei eines der wichtigsten Geschenke Allahs, für das man ihm jeden Tag danken sollte. Er erläuterte nicht nur die vielen nützlichen Anwendungsbereiche, sondern auch die Gefahren, zum Beispiel das Risiko einer Störung des Gedächtnisses und des logischen Denkens, die verstopfende Wirkung und die Gefahr einer Überdosierung. Avicenna hatte selbst miterlebt, wie ein Patient verstarb, weil ihm rektal zu viel Opium verabreicht worden war. Die tausend Jahre alte Schlussfolgerung, die dieser große Heiler zum Thema Opium traf, klingt sehr modern: »Ärzte sollten die Dauer und Schwere der Schmerzen und die Toleranz des Patienten abschätzen und dann die Risiken und Vorteile einer Opiumgabe abwägen«, schrieb er und empfahl eine Verwendung nur als letzten Ausweg, und er riet gleichzeitig, Ärzte sollten so wenig Opium wie möglich verabreichen. Höchstwahrscheinlich war Avicenna selbst ebenfalls opiumsüchtig.

Er und andere arabische Ärzte verarbeiteten das Mittel zu Kuchen, Infusionen, Umschlägen, Pflastern, Zäpfchen, Salben und Tinkturen. Arabische Ärzte des Mittelalters waren die besten Mediziner der Welt und entwickelten die Kunst der Arzneimittelherstellung durch Filtration, Destillation, Sublimation und Kristallisation entscheidend weiter. Der Oberbegriff für diese Prozesse hieß bei ihnen »al-chemie« (angeblich nach dem Wort khem für Ägypten, also in etwa »die ägyptische Wissenschaft«). Der Grundgedanke der Alchemie, wie man sie im Westen nannte, bestand darin, die Rohstoffe der Natur zu perfektionieren, um aus unbehandelten natürlichen Substanzen raffiniertere, verfeinerte Formen zu gewinnen, die ihren reinen, inneren Geist freisetzen sollten (diese Vorstellung ist in unseren Sprachgebrauch eingeflossen: Durch die alchemistische Destillation von Weinen und Bieren entstanden die gehaltvollen Getränke, die wir heute noch als »Geiste« beziehungsweise »Spirituosen« bezeichnen).

Avicenna erläutert seinen Schülern die Pharmazie. Wellcome Collection

Die Alchemie beschränkte sich nicht auf die Herstellung von Nützlichem wie Medikamenten und Parfümen, sondern erforschte gleichzeitig die Welt der Natur und befasste sich in fast religiöser Weise mit der Seele in allen Dingen.

Alte islamische Schriften zeigen deutlich, dass Opium zwar Großes leisten, seine Konsumenten aber auch versklaven konnte. Die Manuskripte beschreiben Opiumsüchtige mit ihren gefährlichen Illusionen, ihrer Antriebslosigkeit, ihrer Trägheit und ihren eingeschränkten geistigen Kräften. »Es macht aus einem Löwen einen Käfer«, warnte ein Verfasser, »aus einem stolzen Mann einen Feigling und einen gesunden Mann krank.«

In Europa ging der Konsum von Opium nach dem Untergang Roms zurück und nahm erst wieder zu, als Soldaten die Droge nach den Kreuzzügen aus dem Heiligen Land mitbrachten. Im 16. Jahrhundert diente sie von Italien bis England zur Behandlung der verschiedensten Leiden, von Fieber und Cholera über Hysterie bis hin zu Gicht, Juckreiz und Zahnschmerzen.

Gefördert wurde dies von einer der seltsamsten und faszinierendsten Persönlichkeiten der Medizingeschichte, einem Schweizer Alchemisten und revolutionären Heiler mit dem eindrucksvollen Namen Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, heute besser als Paracelsus bekannt. Er war ein einzigartiges medizinisches Genie, halb Rebell, halb Hochstapler, halb mystisch, halb verrückt, eine legendäre Gestalt, die mit ihren Heilmitteln und Instrumenten in Europa von Stadt zu Stadt zog und ein riesiges Schwert mit sich trug, in dessen Knauf sich angeblich das Elixier des Lebens befand. Kam Paracelsus in eine Stadt, sprach er dort mit den Einheimischen, bot seine Künste an, heilte die Kranken, legte ketzerische neue Theorien dar, trug die Ratschläge von ortsansässigen Heilkundigen zusammen und schimpfte über die Engstirnigkeit der damaligen Medizin. »Zu meiner Zeit gab es keine Ärzte, die Zahnschmerzen heilen konnten, geschweige denn schwere Krankheiten«, schrieb er. »Ich suchte überall nach gesichertem und erprobtem Wissen über die Kunst [der Medizin]. Und zwar nicht nur bei ausgebildeten Ärzten: Ich erkundigte mich auch bei Scherern, Barbieren, weisen Männern und Frauen, Exorzisten, Alchemisten, Mönchen, Adligen und einfachen Leuten.« Er hörte zu, er stritt, er lernte, und er wandte die überzeugendsten Ideen auf seine Patienten an.

Daneben verfasste er mehrere Bücher, die zum größten Teil erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden. Die Schriften sind nach Ansicht eines Historikers »sehr schwer zu lesen und noch schwieriger zu verstehen«, ein Mischmasch aus fantastischen alchemistischen Symbolen und magischen Anspielungen, astrologischen Bezügen und christlicher Mystik, medizinischen Rezepten, göttlicher Inspiration und philosophischen Überlegungen. Hinter alldem stecken jedoch etliche bahnbrechende Ideen der Medizin.

Paracelsus hielt die meisten Ärzte für »eitle Schwätzer«, die Geld scheffelten, indem sie einfach die altmodischen Vorstellungen des Altertums nachplapperten, das überlieferte Wissen römischer, griechischer und arabischer Koryphäen wiederkäuten und alte Fehler wiederholten. Paracelsus hingegen bot eine einfache Alternative: Wer wirklich nach Wissen strebe, solle das Buch der Natur lesen. Statt blindlings den Schriften der alten Weisen zu folgen, sollten sich Ärzte seiner Ansicht nach auf das verlassen, was sie in der Welt um sich herum am Werke sahen, sich all den Wundern der Natur öffnen, neue Ansätze suchen, neuartige Medikamente auf neuartige Weise einsetzen, die Wirkung beobachten und dieses Wissen dann nutzen, um die Heilkunst zu verbessern.

Porträt des Paracelsus, Ganzbild. Wellcome Collection

Paracelsus experimentierte mit seinen Medikamenten, probierte neue Mischungen aus und beobachtete, was Wirkung zeigte. (Dabei ist zu beachten, dass es sich hier nicht um Experimente im modernen wissenschaftlichen Sinn handelte. Vielmehr verfuhr er nach dem Motto: »Das sieht interessant aus. Ich werde es ausprobieren, um herauszufinden, was passiert.«)

Einer seiner größten Erfolge war eine mysteriöse, wunderbare kleine schwarze Pille, die fast jede Krankheit zu lindern schien. »Ich besitze ein geheimes Mittel, das ich Laudanum nenne und das allen anderen großartigen Mitteln überlegen ist«, schrieb er um 1530. Einer seiner Zeitgenossen schildert seine Erinnerung so: »Er hatte Pillen, die er Laudanum nannte und die wie Mäusekot aussahen, die er jedoch nur bei schwersten Leiden einsetzte. Er brüstete sich damit, mit diesen Pillen könne er die Toten wieder zum Leben erwecken, und das stellte er tatsächlich unter Beweis, denn Patienten, die wie tot wirkten, standen plötzlich wieder auf.«

Das Laudanum des Paracelsus wurde zur Legende. Mittlerweile ist sein Geheimrezept bekannt: Jede Pille bestand zu etwa einem Viertel aus Rohopium, der Rest war eine fantasievolle (und meist wirkungslose) Mischung aus Bilsenkraut, Magenstein (eine feste Masse aus dem Darm von Kühen), Bernstein, Moschus, zerdrückten Perlen und Korallen, verschiedenen Ölen, dem Herzen eines Hirsches und zum krönenden Abschluss ein wenig vom Horn eines Einhorns (dies war in vielen mittelalterlichen Medikamenten eine hoch gerühmte und sicherlich nur imaginäre Zutat; was man damals als »Einhorn- Horn« bezeichnete, waren in der Regel Stoßzähne von Narwalen). Die Wirkung des Laudanums war in erster Linie auf das Opium zurückzuführen.

Wenn Paracelsus behauptete, »die unwissenden Ärzte sind Diener der Hölle, die geschickt wurden, um die Kranken zu quälen«, oder demonstrativ eines von Avicennas Büchern öffentlich verbrannte, wirkte er so von sich überzeugt, dass ihn viele für einen überheblichen Aufschneider hielten. Dabei war er keineswegs ein Scharlatan, sondern einer der Väter der Pharmakologie, der im Alleingang dazu beitrug, die Arzneimittelkunde aus dem Würgegriff alter Theorien zu befreien und sie auf eine modernere Grundlage zu stellen. So sagt man ihm zum Beispiel nach, er habe Opium studiert, indem er es sich selbst und seinen Anhängern verabreichte, um dann die Wirkung zu beobachten – diese Praxis der Selbstversuche sollte in den kommenden Jahrhunderten unter Medizinern üblich werden.

Als Paracelsus 1541 starb, war in Europa der Appetit auf Opium gestiegen. Kolumbus hatte die Anweisung, auf seinen Entdeckungsreisen nach Opium zu suchen und es mitzubringen. Gleiches galt für andere Entdecker wie Giovanni Caboto, Ferdinand Magellan und Vasco da Gama. Das lag daran, dass Opium im Gegensatz zu vielen anderen Pillen und Tränken der Renaissance tatsächlich wirkte. Je größer seine Beliebtheit, desto vielfältiger wurde es von Ärzten eingesetzt. Ein gewiefter Arzt löste das Opium in einer Lösung mit Maulbeere und Schierling auf und kochte das Gebräu in einen Schwamm ein. Wurde dieser mit Drogen angereicherte »Schlafschwamm« dann angefeuchtet und erwärmt, stiegen Dämpfe auf, die Schmerzen linderten und die Patienten einschlafen ließen. Damit war Opium eines der ersten Betäubungsmittel. Mit Venezianischem Theriak, einer Mischung aus Opium und bis zu zweiundsechzig weiteren Inhaltsstoffen von Honig und Safran bis hin zu Vipernfleisch, behandelte man alles von Schlangenbissen bis zur Pest. Theriak war so beliebt, dass er in London zur Entstehung der ersten Arzneimittelgesetze beitrug. 1540 verlieh Heinrich VIII. Ärzten das Recht, Apotheken zu durchsuchen und alle als gefährlich oder mangelhaft befundenen Medikamente, einschließlich Theriak, zu melden. Zu Shakespeares Zeiten durfte in ganz London nur eine einzige Person Theriak herstellen, und selbst diese musste es vor dem Verkauf der Ärztevereinigung präsentieren.