Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2019 Kurt Lehmkuhl (Fotos und Texte)

Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH Norderstedt
ISBN 978-375-044-564-2

Inhaltsverzeichnis
  1. Reich ohne Gold (Anstelle eines Vorworts)
  2. Mit dem Fahrrad auf den Vulkan
  3. Vom Sportplatz in die Vitrine
  4. Made in Europe
  5. Die Armee der strammen Soldaten
  6. Toast Costa Rica
  7. Ein Leben ohne Autos
  8. Über zehn Brücken
  9. Ein Drahtseilakt von Baum zu Baum (von Petra Lehmkuhl)
  10. 200 Jahre im Zeichen der Demokratie
  11. Der schwankende Weg zur Bohne
  12. Zum Glück Palmöl
  13. Das Leben der Wale
  14. Ein Musterland?
  15. Unter Brücken
  16. Das Vermächtnis der Quäker
  17. Der hustende Riese
  18. Schlaflos durch die Nacht
  19. Tropische Trockenheit
  20. Blaue Tischtennisschläger
  21. Wo ist eigentlich das Problem?
1. Reich ohne Gold

(Anstelle eines Vorworts)

Selbstverständlich ist auch in Costa Rica nicht alles Gold, was glänzt. Vieles ist anders, als es auf den ersten Blick scheint. Diese Erfahrung hat schon Christoph Kolumbus machen müssen, als er Ende des 15. Jahrhunderts bei seinen Eroberungszügen an der Atlantikküste das Land betrat. Die Goldgeschenke und die Edelsteine, mit denen die Einheimischen die vermeintlichen Götter beschenkten, ließen ihn zu der Überzeugung gelangen, er sei in einem reichen Land und an einer reichen Küste gelandet. Costa Rica hatte seinen Namen – der blieb, auch als sich schnell herausstellte, dass Land und Küste in diesem zentralamerikanischen Land gar nicht so reich waren, wie es zunächst schien. Gold und Edelsteine stammten nicht aus Costa Rica, sondern vielmehr von reisenden, durchziehenden Händlern auf ihren Wegen von Nord- nach Südamerika und zurück.

Das Interesse an Costa Rica ging bei den spanischen Eroberern schnell verloren. Ackerbau und Viehzucht in einer von Vulkanketten geprägten Region war nicht das, was man sich erhofft hatte, zumal es immer wieder zu zerstörerischen Vulkanausbrüchen kam.

Und dennoch ist Costa Rica ein reiches Land. Die goldene Bohne, der Kaffee, hat Wohlstand gebracht und hat Spuren hinterlassen, auch wenn die Hochzeit des Kaffees inzwischen längst vorbei ist. Ein anderer Reichtum nahm den Platz ein: der fruchtbare Boden, auf dem landwirtschaftliche Produkte bestens gedeihen. Die Folge der ertragsreichen, gewinnbringenden Landwirtschaft waren ausgedehnte Rodungen der tropischen Wälder, ein weiterer Reichtum des Landes, der verprasst wurde. Es war fast schon die Notbremse, die in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts gezogen wurde, als der Staat die weitere Rodung des natürlichen Reichtums gestoppt hat und die Gegenbewegung begann. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur noch zehn Prozent der natürlichen Vegetation. Die Restbestände des tropischen Waldes wurden zu unantastbaren Nationalparks.

Wiederaufforstungsmaßnahmen in großem Stil liefen an und sind immer noch im Gange. Die Menschen verstanden, dass der hemmungslose Raubbau an der Natur sie zu armen Menschen machen würde. Sie erkannten den eigentlichen Reichtum ihres Landes: die Natur, mit der und von der sie leben konnten. Die Pflanzenwelt und die Tierwelt machen die Menschen zufrieden und damit reich, aber nur dann, wenn man Pflanzen und Tiere erhält. So ist das Leben in Costa Rica der immerwährende Versuch, im Einklang mit der Natur zu leben und selbst Teil der Natur zu sein.

Nur dies ist das reine Leben, das wahre Leben, das richtige Lebens.

Pura vida – das Lebensgefühl von Costa Rica.

Es ist nicht immer alles perfekt, es klappt nicht immer alles reibungslos, aber man lebt zufrieden. Und das ist nicht nur ein subjektiver Eindruck. Das ist auch das Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen: Costa Rica gehört schon seit Jahrzehnten weltweit zu den Ländern, in denen die größte Zufriedenheit herrscht.

Die Zufriedenheit überträgt sich auf die Besucher; er passt sich an, versteht es als selbstverständlich, dass er nicht im Zentrum der Welt steht, sondern dass die faszinierende Natur nicht ein Schauspiel für ihn darstellt, sondern dass er sich als Teil der Natur verstehen muss, damit er leben und genießen kann.

Pura vida – ein Lebensgefühl, das reich und das nicht immer leichte Leben erträglich macht und das vielleicht auch den italienischen Eroberer Christoph Kolumbus ganz anders auf das Land hätte blicken lassen, wenn er dieses Gefühl als Reichtum erkannt hätte und sich nicht vom Schein des Goldes und der Edelsteine hätte täuschen lassen. Aber Kolumbus stand nicht allein da mit seinem Irrtum. Viele Menschen nach ihm und in späteren Jahrhunderten haben ebenfalls den wahren Reichtum des Landes verkannt, der vielleicht nur deshalb zum Reichtum wurde, weil die heimischen Menschen rechtzeitig erkannt haben, was der wahre Sinn ihres Daseins ist: das Leben mit der Natur.

Pura vida eben.

2. Mit dem Fahrrad auf den Vulkan

Hochbetrieb auf der Autobahn am Sonntagmorgen. Wer kann, der macht einen Familienausflug, verlässt die Hauptstadt San José und fährt entweder ans Meer oder, weil es näher ist, in einen der Nationalpark, von denen es mehrere gibt auf den Gebirgsketten beiderseits des Valle Central, in dem die Hauptstadt San José und weitere größere Städte des Landes liegen. Hier stoßen die vier wichtigsten Provinzen aneinander. Knapp zwei Millionen der vier Millionen Einwohner von Costa Rica leben in der zentralen Ebene.

Die meisten Wochenendausflügler sind mit dem Auto unterwegs; fast ausschließlich jüngere Modelle aus asiatischer Produktion. Amerikanische und noch mehr europäische Automarken sind die Exoten unter den Asiaten. Die Autos aus Korea, Japan und China sind die unangefochtenen Platzhirsche auf den Straßen. Verkehrsuntaugliche Schrottkisten werden rigoros bei den alljährlichen Untersuchungen ausgesiebt, was durchaus auch als Selbstschutz für deren Besitzer verstanden werden kann. Schlaglöcher und Unebenheiten auf den Autobahnen oder gar die Schotterpisten in den Bergregionen bedingen sichere und stabile Vehikel. Die ausgemusterten Fahrzeuge landen bei den armen Nachbarn, in Panama oder Nicaragua etwa.

Aber es ist nicht nur die Autoschlange, die sich bergauf in Richtung Zufahrt zum Nationalpark rund um den Vulkan Irazu staut. Fahrräder, vornehmlich Rennräder, begleiten die Vehikel, wobei auch der Begriff Autobahn nicht wortwörtlich zu verstehen ist. Niemand kontrolliert oder moniert, dass der Lenker eines Drahtesels die Straße benutzt, die eigentlich den Autos vorbehalten ist.

In vielen Ländern ist das Fahrrad das Fortbewegungsmittel schlechthin für die Ärmsten und Ärmeren der Bevölkerung, wenn es nicht doch noch zu einem Moped reicht. In Costa Rica hat das Fahrrad in erster Linie eine Freizeitfunktion, ist es ein Sportgerät, mit dem sich interessante Touren zu interessanten Zielen fahren lassen.

Es geht ständig bergauf zum Nationalpark. Nicht jeder Radler hat die Kraft und die Luft, es bis zum Eingang des Nationalparks in rund 3000 Metern Höhe zu schaffen. Wer es, ob auf zwei oder vier Rädern, bis zum Eingang schafft, muss Geduld mitbringen. Ein kilometerlanger Stau schon frühmorgens beweist die Attraktivität der Region, die zu Fuß erkundet wird, wenn endlich das Gefährt auf dem Parkplatz vor einem Souvenir- und Getränkeshop erreicht wird. Im Prinzip sind es drei Krater, die es am Irazu zu besichtigen und teilweise sogar zu bewandern gilt.

Vor knapp 50 Jahren hatte einer der drei Krater des Vulkans seine letzte Aktivität gezeigt, seitdem ist er ruhig. Bis auf 3400 Metern Höhe führt der Weg zum Rand des längst erloschenen ältesten Kraters, ausgehend vom Kraterboden, der mit schwarzer Schlacke bedeckt ist und auf dem sich nur spärlicher Bewuchs zeigt. Der zweite Krater „versteckt“ sich geradezu und ist nur schwerlich erkennbar. Die Attraktion ist der jüngste Krater des Irazu mit einem Durchmesser von einem Kilometer und einer Tiefe von 300 Metern. Auf seiner Sohle hat sich ein See ausgedehnt, der vom Regen beziehungsweise von den Wolken gespeist wird, die über die Berge heranziehen und am Irazu hängen bleiben. Im Minutentakt wechseln die Verhältnisse. Liegen die begrünten Kraterhänge gerade noch im strahlenden Sonnenschein, so zieht schon wenige Minuten später der Nebel auf, der die Sicht verdeckt, um dann doch wieder der Sonne zu weichen.

Wer will, wandert über den Hang der großen erloschenen Vulkans bis an die Kuppe. Was er dort sieht, ist ein Anblick, der überall wiederkehrt in Costa Rica: Er blickt auf die kahlen Gebirgsketten und die Vulkankegel über den scheinbar immergrünen Wäldern und staunt über die Wolken, die scheinbar über die Ränder rollen, sich dann aber auflösen. Es regnet nicht, sie verdunsten, werden zu leichtem Nieselregen oder zu Nebel. Wolkenbruchartige Regenfälle sind die Ausnahme.

Am bewachsenen Krater des Irazu ist das Schauspiel regelmäßig zu erleben. Eben noch im strahlenden Sonnenlicht getaucht, rollt eine Nebelwand heran, die einen grauen Schleier über die Vegetation legt und den Blick auf den See versperrt. Aber nicht lange hängt der Dunst in der Luft. Dann hat wieder die Sonne die Kraft, um sich durchzusetzen – bis zum nächsten Mal.

3. Vom Sportplatz in die Vitrine

Der Rückweg vom Irazu nach San José führt fast zwangsläufig an Cartago vorbei. Für viele ist Cartago schlechthin mehr als nur ein Zwischenziel und der Besuch ein unbedingtes Muss. Die Stadt ist das Zentrum des Katholizismus in Puerto Rico. 80 Prozent der rund vier Millionen Einwohner werden der katholischen Kirche zugerechnet.

Die Kirche gehört zu Costa Rica wie der Fußball. Beides wird mit Leidenschaft gelebt, gehegt und gepflegt. Und es ist nicht selten, dass sich unmittelbar neben dem Kirchenbau ein Fußballplatz befindet.

Da bleibt es nicht aus, dass Ball und Kreuz bisweilen eine innige, von Überzeugung und Begeisterung getragene Beziehung eingehen, was auch in Cartago, dem katholischen Glaubenszentrum, eindrucksvoll gezeigt wird.

Cartago, eine mittelgroße Stadt mit den üblichen Wellblechhütten oder einfachen Steinhäusern am Stadtrand und einer zunehmend städtischer wirkenden Ansicht, je mehr sich der Reisende dem Zentrum nährt. Das Zentrum, das ist eine Kirche, das ist die Kathedrale unserer jungen Frau. Es ist nicht unüblich, dass an einem Samstag rund 30.000 Gläubige nach Cartoga kommen, um die Kirche zu besuchen, ihre Spuren zu hinterlassen und ihre Mitbringsel mitzunehmen. In der Kirche, einem farbenfroh ausgeschmückten Steinbau, herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Alle wollen einen Blick werfen auf ein kleines Bild in einer Nische, nur aus großer Entfernung zu erblicken und fast nicht erkennbar. Es zeigt die Nationalheilige von Costa Rica, Unsere Junge Frau, die verehrt und angebetet wird, weil sie Wunder bewirkt haben sollen, aus Sicht der Gläubigen sogar tatsächlich bewirkt hat.

Sie hat eine Quelle entdeckt – oder ist sie zu der Quelle geführt worden? –, die heilspendendes Wasser liefert. Neben der Quelle befand sich bald eine Kapelle, inzwischen ist daraus die Catedrale Nosta Nueva Femina geworden. Die Quelle sprudelt nach wie vor. Ein Wandelgang führt zu ihr hin. Die Menschen füllen dort ihre Behälter mit dem Quellwasser. Der Zugang zu den Zapfstellen muss kontrolliert werden, weil der Andrang zu groß ist.

Das Wasser hat angeblich heilende Kräfte, in Verbindung mit dem innigen Gebet lassen sie von Krankheiten genesen, die Fruchtbarkeit fördern und das Siechtum begrenzen.

Ob es wirklich nützt? Man muss halt dran glauben. Und Belege, Beweise, Danksagungen, Ehrerbietungen und Geschenke gibt es in unübersehbarer Hülle und Fülle. Die Schlange der Gläubigen, die geduldig darauf warten, vor der kleine Madonnenfigur in der Kapelle unter der Kirche treten zu dürfen, um ihr Bitte im Gebet zu äußern, ist lang und wird nicht kürzer. Die Kranken kommen oder lassen sich zum Abbild der Heiligen führen, ihr Anliegen ist klar. Die jungen Menschen haben ein Anliegen, das nur zu erahnen ist, Glück in der Liebe, ein gesundes Baby, eine sichere Arbeitsstelle. Herauszufinden, wer im Gebet bittet oder im Gebet dankt, ist nicht immer leicht. Verbunden sind alle Menschen in ihrem Glauben und in ihrer Liebe zu der Heiligen, die sie durch Geschenke zum Ausdruck bringen. Vom kleinen Amulett bis zum großen Pokal, vom handgeschriebenen Brief bis zur ausgeschmückten Urkunde reicht die Auswahl, die in Vitrinen und Schränken ausgestellt wird. Hinter Glas sind winzige Füße, Hände, Ohren, Arme, Beine, Köpfe aus Metall aufgesteckt. Unzählige sind es, und es werden jeden Tag mehr. Die Blechteile werden direkt neben dem Eingang zum Museum und zur Gebetsstätte verkauft und meistens in den Kasten neben der Madonnenfigur eingeworfen. Aber es bleibt nicht bei Blech oder Geld, das als Bitte gespendet oder als Dank geschenkt wird. In einem Trophäenschrank steht unter anderem neben einem Spielzeugauto aus Blech ein mächtiger Pokal. Erst beim zweiten Blick erkennt der Betrachter, dass es sich um den Pokal für den besten Torschützen der zweiten Fußballliga von Puerto Rico handelt. Der Kicker hat Glück und Erfolg gehabt, Madonna sei Dank!

Aber auch ein Schiedsrichter, der wie die Nationalmannschaft an der Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland teilnehmen durfte, hat sich verewigt. Sein Akkreditierungskärtchen, das ihn als Mitglied des Fußballweltverbands von Costa Rica ausweist, ist an den Pokal angelehnt. Wem der Fußballschuh in der Nachbarschaft gehört, ist nicht herauszufinden. Aber er zeigt nachdrücklich, dass Kreuz und Tor, Fußball und Glaube zusammengehören; nicht nur, aber auf jeden Fall extrem hier in dieser Museumskrypta unterhalb der Kirche, die zum Wallfahrtsort für die Katholiken aus Costa Rica, aber auch aus den Nachbarländern geworden ist, und neben der von der Jungfrau gefundenen Quelle, die Trost spenden und Heil bringen soll.

4. Made in Europe

Die Nähe zur „neuen Welt“ ist unverkennbar. Der US-Dollar ist gleichwertiges Zahlungsmittel neben den heimischen Coronas, Englisch die Sprache, die wie selbstverständlich neben dem Spanisch als Landessprache verstanden und gesprochen wird. Werbung in Englisch findet nicht weniger Aufmerksamkeit als die in der spanischen Sprache.

Ist Costa Ricas etwa auf dem Weg zu einem „amerikanisierten“ Staat, zu einem quasi Pseudo-US-Staat?