Jáchym Topol

Ein empfindsamer Mensch

Roman

Aus dem Tschechischen von Eva Profousová

Suhrkamp

Inhalt

1 Bristol Globe · Warum er sich an beide wendet · Nächtliche Horden · Mama am Morgen · Das Heft · Tätowierter Junge · Brennendes Lager · Raus! Eleanor and her boys · Weiter geht’s

2 Travelers – No Holidays! Grimmiger Offizier · Erinnerung an die Slowakei, Erinnerung an die Liebe · Das Bein · Die Sucht · Auf der Brücke · Unter der Brücke: Die Sinfonie des Weltenraums

3 Charleville, les poètes maudits · Proviantsicherung · Vorbereitung eines Auftritts · Brielle und weiter · Nach München · Soschtschenkos Ende · Ins Land der Ruhebluter

4 Kurortmomente · Kommissar nimmt Spur auf · Wohin mit den Finanzen · Keleti pu · Iwan und Waska · Drama am Schwimmbecken · Tragödie der Schwimmer · Wer spielt Othello? Von wo ist Iggy geflogen?

5 Vater, gib Maske! Von den Ajwaren · Die Vision vom Geistesstaat · Über Literatur · Feuerüberfall · Der große Gérard und das Mönchlein · Feier von Noworossija – gefloppt · Politische Diskussion · Abzweigung nach Slowatsch · Zitadelle

6 Armada – wir zuhauf! Monastyr, die Katakomben · Glühende Maschinen · Tote Urlauber · Über Ehe und Kinder · Wer steckt hinterm Türchen · Mal sehen! Bete zu Gott …

7 Die Karpaten · Pass von Snina · Was hat Serafion bei sich, das pocht und klopft · Der Göttliche tanzt · Massel gehabt! Sonja … Auf D1

8 Auf der D1 · Die Brücke von PoŘíč · Das Bildnis der Jungfrau wird erwähnt · Scherben und Insekten · Perfekte Pläne · Bist du’s, Sonja? Welk und männlich · In dem Duschdings, vor dem Duschdings: Mama

9 Die Polizistin · Zusammenrottung der Bürger · Richie als Späher · Baschta, der Herr des Autofriedhofs · Ein etwas anderes Hospiz · Hunnenfeldzüge · Reinigung in der Strömung · K-Haus anrufen · Jungens weinen nicht

10 Clan-Treffen · Der Jux mit dem Umschlag · Er atmet unterm Tuch, wächst, nimmt zu · Vom Pfannenmann · Ins Gewitter · Etwas vom Himmel · Die Große Kirmes von Pyšely · Bison taucht auf · Und das Mädel

11 Echt, Mutter? Der Ratz · Vom Panzer · Russennutte in deiner Sippschaft · Tirade gegen Milda Zeman · Wo ist Moni? Er krabbelt und saugt · Irrung an der Tür · Kopftuch mit Erdbeeren usw.

12 Mit Kinderwagen · Bei der Moni wird’s euch gefallen · Sollte einer, der vielleicht böswillig … Schießbudenkorso · Grausiger, fliegender Balken · Helfer · Wieder die Rothaarige · Die Flucht

13 In der Garage · Lomoz · Ratz seine Zugreise · Die Moni · Kája: Prag-Ost und D1 · Vom Flugzeug · Ein Stück Vieh · Kalium · Die Nutten kommen

14 Ein paar Watschen im Dunkeln · Wie weit nach Městečko? Ums Vögeln geht’s gar nicht · Ach nee? Grüß dich, Broněk! Broněk sein Geront · Was für’n Knast würd ich wohl haben? Chlum.

15 Der Schwarze Lukas · Trockengelegtes Totenhaus · Oben in den Putzabschilferungen … Tod eines Kriegers · Ich will, dass es dich gibt

16 Nach MĚstečko · Fromme Truppe · Lukas · Erwähnung von Prokop · Deibels Furche · Das Rätsel der Altblockhütten · In den Flussbiegungen … Die Mühle, das neue Büfett

17 Mit Schubkarre · Wer mit Hörnern herumgeht · Grausame Freibeuter · Gartenkolonie · Im Rauschen der Gewässer schreitet unhörbar …

18 Die Bande beim Wassermann · Mit der Armbrust bedroht · Kälbchen · Nachrichtenmagazin · Wo steckt Lojda? Lächelt rot im Gesicht …

19 Begegnung mit Fischer Schuppe · Ihr dahinschwindendes Antlitz · Bei Fischschuppe daheim · angeschwemmtes Zeug · Liebe in der Hütte · Rache der Kolonisten · ins Bötchen · Auf dem Wasser

20 Hochzeitssalon · Die Mädchen, der Betrieb · Monis Tricks · Moni ist nett · Die Jauchegrube · Reiter der Gerechtigkeit · Disput über Fortschritt · Veränderte Uferlandschaften

21 Lange Halde · Alter Hrom, junger Hrom · Ankunft von Kardinal · Über Vendula · Verschnürt · Vertrag · Wie wird Glück gemacht · Neutschechen · Schicksalsschwerer Toast

22 Wieder Shakespeare · Leben ohne Wärme · Erneutes Wiedersehen · Beschuss der Tasche · Bisons Abteilung · Knutschen und Momente der Wonne · Mir kannst du das sagen

23 Du kommst zurück · Trocknung · Grabstätte am Schrottplatz · Pille, Mütter oder Nichtmütter · Als Napalm kam · Lagerplatz · Lass es dir schmecken, du Scherzkeks! Lomoz seine Strapazen

24 Das Megaprojekt Jubiläumsgeschenk · Aus der Lokalgeschichte · Recherche · Rekognoszierungsarbeit zu Wasser · Arbeit zu Lande · Bergung · Lötis Versprechen

25 Sandbank · Erscheinung der Motoreiter · Gefecht im Wasser · Zweifel am Teufel · Was der Kleine braucht … und wo sie hintreiben · Wassergebrüll · Das Kohlenschiff

26 Warten auf Löti · Aus der Geschichte der Kriegführung · Macinkas Bestürzung · Killer aus dem Wasser · Lötis Treffer · Napalm: Damals auf der Brücke · Mirans Entscheidung · Miran ist der Älteste!

27 Napalms Gespräch mit dem Fischer · Gottessprache · Dorle? · Wohin mit der Jungfrau · Napalms Träume

28 Hygiene auf dem Schiff · Käpt’n Lojda · Herrlicher Pelz · Was mit den Altblockhütten los war · Die Suffkolonie · Ratz Fatz und sein Nachlass · Von Ratz und dem Pfannenmann

29 Mirošovice · Kirsche mit Mama · Wovon Ratz besessen war · Versammlung am Ufer der Sázava · Die Begegnung mit dem Herrn Präsidenten · Koryčans Meinung · Koryčan wundert sich

30 Wenzels Vorschlag · Unter der Brücke und weiter · Röslein und der Mond, sein Gesicht · Noch weiter

31 Begegnung mit Mücke · Die Elende in der Höhle · Muhme Habdieehr · Bei Lojda · Ein Stadion oder eher ein Bolzplatz · Große Liebe · Was auf Lojdas Zettel steht · Was nach Ratz geblieben ist · Hilfst du mir?

32 Wen und was man rausgefischt hat · Überfall · Ende vom Berg · Richies Schlupf · Der Fund in Käpt’ns Kajüte · Auf dem Floß

33 Moni … die Hüterin des Salons · Hampelmannwerdung des Menschen · Ankunft der frommen Truppe · Lukas und Lomoz · Schon wieder der Gestank · Baracke Hölle · Und was? Im Gebüsch

34 Beisammensein mit Fischschuppe · Festmahl · Zur Jungfrau · Schon wieder der Tätowierte – eine Lektion in Humanismus · Die Kavalkade brettert los · Von Pražma · Ich hab Respekt vor den Alten, aber … Zerbissene Brust

35 Venca Bajer · Kaputter Köter · Mehr Kinematographie · Lomoz seine Wette · Mit Armbrust und Tannenzapfen · Die Bitte um den Walnussschnaps · In die Grotte

36 Napalm aus dem Traum gerissen · Ankunft der Kavalkade · Zank vorm Idol · Der verlorene Bruder · Handschellen · Absperrung · Das Liebespaar – die neugierige Světla · Kleiner König · Erscheinung im Busch

37 Im Wachhäuschen Leere und Grauen · Wir haben dich befreit … Bruder! Er hämmert, er wummert · Ein wenig Maurerarbeit

38 Die Kette und die Luke · Verstummte Sirene · Der letzte Kämpfer · Durch die Talenge und durch den Wald · Mit Moni am Wasser · Ans Ufer

1 Bristol Globe · Warum er sich an beide wendet · Nächtliche Horden · Mama am Morgen · Das Heft · Tätowierter Junge · Brennendes Lager · Raus! Eleanor and her boys · Weiter geht’s

Wie soll ich mich hier konzentrieren, Himmel am Arsch?!

Vater, die Flasche griffbereit, das Heft auf den Knien, sitzt am Steuer der Nomadenkarre und schreibt und schreibt.

Um ein Haar hätt ich nachts ein Kapitel fertig geschrieben, aber bei dem Gewusel ging nur ne Skizze! Dabei war das Bristol immer super! Die Schatzinsel, mal vom Schiffsjungen Jim Hawkins gehört, Jungs? Er wendet sich an beide, weil er sie, wie er sagt, zum Reden bringen will. Den im Babystrampler und auch den, der gewachsen ist.

Weißt du, was ich interessant finde? Er dreht sich zu Sonja um, die über einer Kocherflamme den Löffel wärmt. Über der anderen rührt sie ab und zu den Winzlingbrei um.

Inzwischen identifizier ich mich mehr mit Long John Silver!

Wird wohl am Alter liegen, Mama setzt mit hochgekrempeltem, mandalaschrillen Blusenärmel ihre Morgenzeremonie fort.

Vaters Heft, bekritzelt bekrakelt, mit Wein und Kaffee bekleckst, saust über das schlafende Kindlein und verschwindet im Plunder.

Er macht die Beine lang, bohrt den Nacken in die Kopfstütze und entspannt. Nimmt den Nomadenstützpunkt ins Visier. Versifftes T-Shirt, Shorts, in den Augen beständige Glut der Wissbegier. Auf dem Histrionenhaupt ein alter Hippie-Hut, darunter sprießt rötliches, mit grauen Büscheln durchwirktes Haar.

Er beobachtet das Tor ins Zeltlager, genau genommen eine winzige Nachbildung des Globe Theaters, wo unzählige, erst am Abend aufflammende Lämpchen die Zahl 400 bilden, ein etwas bizarres Porträt des Dramatikers und die Überschrift HIS WORDS: WISDOM, FREEDOM AND BEAUTY!

Anstelle des festivalüblichen Treibens, diesmal dem Leben und Werk von William Shakespeare geweiht, herrscht dort wegen der nächtlichen Besucher eine ungewohnte Geschäftigkeit. Einst hatten hier Vater und Sonja mit einer einfallsreichen Kreation den Jahrestag des Beitritts der Tschechischen Republik zur Gemeinschaft gefeiert und damit herrliche dreihundertdreizehn Pfund ertanzt. Nun ist alles anders. Vater stiert, pliert, sinniert. Wittert. Womöglich folgt er auch den feinsten Regungen seines Riechers, er hatte sogar die Idee gehabt, ihn von innen mit megadünnem Edelblech zu beschlagen, doch der ausbleibende Erfolg brachte ihn von diesem Vorhaben ab.

Im Eingangstor machen sich eilends einberufene Immigrationsbeamte breit. Tischchen, Rechner, Schriftstücke, die Lücken dazwischen mit kunstvoll aufgetürmten Krapfen geschlossen, Teller mit Keksen und coffee cups.

Gestern war die Fläche noch leer. Heute bietet sie ein Wimmelbild. Reihen von Schläfern auf Isomatten, Frauen in bodenlanger Kluft mit Babys, dazwischen kleine Grüppchen; man sitzt auf dem Boden und gestikuliert. Alte Weiber schleppen sich mit Kanistern zum Hydranten, herumgaffende Halbwüchsige in abgetragenen T-Shirts und Jeans sehen aus, als bewachten sie die Frauenarbeit.

Die Ansammlung, deren vorwiegend schwarze Montur den Eindruck einer Kompaktmasse hervorruft, wird von Polizeiautos flankiert. Die nächtlichen Besucher haben sich meist dort fallen lassen, wo sie hundemüde angekommen waren, Wellen von Unsicherheit und Angst brandeten die ganze Nacht gegen die Menge.

Ich steh auf Bristol! Bloß in den Hafen haben wir’s nie geschafft, vielleicht heute, was meinst du?, brüllt Vater dem Jungen hinterher, der mit Kanistern zum Wasserholen losdackelt.

Die Schlange vor den Hydranten zieht sich am Tor entlang. Vermutlich ist ein Schlauch geplatzt oder eine der Wasserquellen angezapft worden, der Pulk der dunklen und verschleierten Weiber, die sich mit Plastikbehältern oder Bergen von PET-Flaschen in der Tasche im Schneckentempo nach vorne schieben, watet im feinen Schlamm, um die Treter des Jungen quillt Wasser.

Hey you … er hebt den Kopf, ein lächelndes Fräulein, die blonde Mähne schulterlang, reicht ihm aus dem Fenster der glühbirnenumrankten Globe-Kopie einen schokoüberzogenen Donut.

Er reckt sich auf die Zehenspitzen, spürt, wie die Marmelade ihm die Finger heruntertröpfelt, aber da patscht ihm wer auf die Schulter. Zwei dunkle schlaksige Jungs. Der Größere schiebt sich den ergatterten Donut mit verträumt gesenkten Lidern in den Mund.

Oh, no … das Fräulein lehnt sich hinaus und reicht ihnen nun eine ganze Schachtel buntglasierter Leckereien, die schon eine Weile in der Sonne stehen.

Der rasche Schlagabtausch treibt ihn von den Kanistern weg, jetzt sind sie schon ein ganzer Haufen, zwischen den Hosen und T-Shirts und Schläge austeilenden Ellbogen ist er kaum zu sehen, er schlingert hin und her wie ein Welpe, den sein erbarmungsloses Herrchen mitten in ein Dobermann-Match geworfen hat.

Aus dem Augenwinkel sieht er seine umgekippten Kanister hinter Röcken, Schuhen, Latschen und Sandalen der vorrückenden Schlange verschwinden, er wälzt sich zu den Weibern, die weichen zurück vor ihm mit wütenden Schreien wie vor einem angreifenden Käfer. Zu seiner eigenen Überraschung presst er die Schachtel an seinen Bauch, mit plattgedrückten Donuts in den Ecken: gewonnen.

Ohne die Beute loszulassen, hechtet er in die schlafende Menge, einer, der noch halb im Schlafsack steckt, fuchtelt nach ihm, der Junge springt zur Seite.

Und steht einem nackten Kerlchen vis-à-vis. Von ähnlichem Alter und Größe wie er selbst. Sein ohnehin dreckverschmiertes Frätzlein ist pechschwarz, seine Wangen, Arme und Schenkel tätowiert, mit, wie es scheint, entzündeten Einstichen übersät. Um sie herum wogt die Menge, man beäugt sie. Die Festung auf Rädern, wo die Eltern weilen, ist weit. Er kredenzt dem Kerlchen die Schachtel. Dreht sich um und schnappt sich den einen Kanister, den anderen zerrt er unter irgendwelchen Quanten hervor, schleppt sich mit ihnen in die Schlange, später steckt er den Schlauch rein und füllt sie bis zum Anschlag. So wie immer.

Die Abendveranstaltung in Bristol wird aber abgesagt. Unter Berufung auf einen Paragraphen für unerwartete Ereignisse, Unfälle und sonstige Katastrophen oder höhere Gewalt (plus zweiundsechzig Pfund für beide).

Na und, wir wollen sowieso aus Regenhausen in den Süden ziehen!

Sie schließen sich einer Karawane von anderen Benzinkutschen an und ziehen im Laufe des Tages zum nächsten Lagerplatz um.

Sonja und die Jungs sind von der Fahrerei erschöpft, also hauen sie sich gleich aufs Ohr. Ein Zelt brauchen sie nicht, sie schmiegen sich auf der Rückbank aneinander.

Mama hält den Winzling im Arm, sie flüstert ihm etwas ins Ohr, der Junge ratzt weg, sein letzter Blick fällt auf den Vater auf dem Vordersitz, wie er mit gerecktem Kinn etwas in sein Heft ritzt.

In der Nacht bricht im pikeys camp Feuer aus. Ein Brandsatz ist in einem Zelt gelandet, den anderen haben die Angreifer in die Wächterbretterbude geworfen. Während die Insassen der Wohnwagen nach draußen sprinten und die Feuer löschen, die es übrigens nicht mal zum Auflodern gebracht haben, und die anderen sich eilig ans Packen machen, mahnt Vater die Familie zur Ruhe.

Die haben das mit Absicht ins Zelt geschmissen, wo keiner drin war. Das haben die gecheckt, die wollen keinem was tun.

Die wollen aber, dass wir uns verpissen.

Wundert dich das?

Mach mal hin, leg einen Zacken zu, wir fahren mit!, Mama fordert ihn mit ihrem einzigen sehenden, noch verklebten Auge auf, auch sonst ist der Grad ihrer morgendlichen Strubbeligkeit imposant.

Vater mosert herum, er möchte jetzt wirklich das Kapitel zu Ende schreiben. Vielleicht baue ich es doch zum Theaterstück um, murmelt er. Aber dann landen kleine Steinchen auf der Frontscheibe. Aus großer Entfernung geworfen, fallen sie kraftlos, wie ein Wassertropfenwirbel.

Herrgottsakra, jault Vater auf und pfeffert das Heft nach hinten, wo es auf einem Stapel ähnlich unvollendeter Werke liegen bleibt.

LEAVE MEANS LEAVE! POLISH VERMIN!

Zornige Vetteln und ein paar grimmige alte Knacker halten das in Heimarbeit gefertigte Transparent hoch und auch noch zwei drei andere.

An der Spitze des Umzugs, der um die Ecke biegt und sich zum verwüsteten Zeltplatz aufmacht, tummelt sich ein Trupp kleiner Jungs.

Angeführt werden sie von einer streng dreinblickenden Person in schwarzer Kleidung mit einem Lautsprecher vor dem Mund. Unter ihrem dünnen Oberlippenbart skandiert sie lauthals, was auf dem in der Luft segelnden Transparent steht, mit ihrem kleinen schwarzen Regenschirm gibt sie dem gefühlswuchtigen Stimmenchor den Takt.

Kuck, Sonja, sieht aus wie in einem Beatles-Clip, oder?

Ein herumkreischender Knirps erwischt mit einem Ziegelbrocken den Kotflügel. Die anderen johlen begeistert.

Jawohl, die Rigby!

Der nächste Knirps schleudert einen Ziegelstein auf den Caravan, trifft aber nicht.

We are not Polish vermin, we are CZECH VERMIN!, schreit Vater aus dem Fenster. Wir haben für euch gekämpft! Battle of Britain, sagt dir das was, du dumme Pute?, ruft er der Anführerin zu, die mit dem ganzen Schwarm rasch näher kommt.

Da bist du bestimmt schon auf der Welt gewesen, du alte Kuh!

Mach mal halblang!

Blöde Kuh!

Und er startet. Mama packt den Jungen an der Hand. Mit der anderen zeigt sie in die Straße, aus der zwischen schmucken ziegelroten Postkartenhäusern weitere Bürger strömen. Über den platt getrampelten Rasen stampfen baumlange Kerle und junge Burschen in T-Shirts und Jeans auf sie zu, Schläger in der Hand.

Der Schnellste von ihnen, so ein Feschak in Shorts mit bunt tätowierten Armen im gestreiften, von den Hosenträgern zerschnittenen Trikothemd, spuckt auf die Haube und schickt sich an, das Auto von hinten zu umrunden.

Da fahren wir lieber, sagt Vater. Und sie fahren. Mit der Fähre und weiter.

2 Travelers – No Holidays! Grimmiger Offizier · Erinnerung an die Slowakei, Erinnerung an die Liebe · Das Bein · Die Sucht · Auf der Brücke · Unter der Brücke: Die Sinfonie des Weltenraums

Frankreich nehmen sie im Flug, morgens rein, abends raus, der Vater, in südlichen Gefilden gleich der große Sommelier, lässt den Veranstaltungskalender nicht aus den Augen.

In Spanien indes warten auf vertrauten Lagerplätzen nur rausgerissene oder einbetonierte Stromanschlüsse auf sie und Parolen, in denen Verbissenheit über die Grammatik triumphiert wie TRAVELERS, LEAVE! WE HAVE NO HOLIDAYS!, wie auch offene, um die ausgewiesenen Stellplätze auf Steinbrocken oder Betonmäuerchen gesprühte Aufforderungen, sie sollen sich verpissen. In dem traditionellen Hippie-Treff im weltentlegenen Dörflein Peñascosa steht unter dem Transparent NO! THANK YOU! ADIOS! die Bürgerwehr mit einem Wasserwerfer bereit, und aus dem alten Travelerplatz, noch ein ganzes Stück vor Toledo, ist ein riesiges Flüchtlingslager geworden, es schwappt in die Stadt, wo die Zahl von Demos und Straßenschlachten mit der Polizei täglich zunimmt, so dass das Festival GRUBE UND PENDEL zu Ehren von Edgar Allan Poe abgeblasen werden muss (minus dreihundertsiebenundvierzig Euro für beide). Ähnlich sieht es auch in dem Nest San Guzmán aus, wo in diesem Sommer null Interesse an Theateraufführungen besteht (minus zweihundertfünfzig Euro für sie, minus dreihundertfünfzig Euro für ihn, minus fünfzehn Euro für die Jungs, die in der Rolle der Pucks hätten glänzen können, der Winzling im Hängetuch), und so weiter und so fort.

Sie wechseln nach Frankreich und am Ende eines fulminanten Sonnenuntergangs überrascht sie bei der Einfahrt zu einem Lagerplatz eine Wohnwagenburg und mürrische Schnurrbartkerle in vorsintflutlichen Synthetikanzügen, hier und da prangt eine rote Schärpe über der Plauze. Weiber mit lärmenden Kleinkindern, die um ihre bodenlangen bunten Röcke wuseln, sie selbst tragen im Haar, an den Armen und Handgelenken Silberschmuck und sonstigen Zierrat, richtig leise sind sie nicht.

Die haben uns den Schlafplatz geklaut, das gibt’s doch nicht!, keift Vater in den allgemeinen Tumult und Krakeel.

Noch bevor sie sich mit den Usurpatoren konfrontieren können, werden sie von Gendarmen mit geschultertem Maschinengewehr gestoppt.

Die Flasche, aus der sich Vater soeben stärken wollte, landet flink zwischen seinen Beinen.

Eine düster dreinblickende Bohnenstange mit Offiziers-Käppi steuert schnurstracks das Beifahrerfenster an.

Wir sollen wenden und Leine ziehen, aber dalli.

Soll er weiter träumen! Die Jungs sind müde! Mein Gott, wir zelten hier seit tausend Jahren, sag’s dem Macker doch.

Dem Gendarmen schmeckt Vaters Ton evident nicht.

Er umrundet die Motorhaube und sein Blick versinkt in Vaters Pupillen, in denen das gleiche dämonische Feuer lodert.

Nach der neuesten Anordnung ist der Platz hier nur für französische Bürger da. Du sollst la carte du nomade rausrücken.

Was soll der Dünnschiss, mon capitaine! Welche Karte, sind wir etwa Zigos? Mon colonel, nu nessompa les ciganes, wir sind Tschechen. Nu ssom bohèmes oh Bohèmia!

Ausländische Gäste würden gerne die Pension Zu den drei Klöten von Kaiser Napoleon Bonaparte nehmen, nicht mal drei Kilometer von hier.

Wie stellt sich das der Louis de Funès vor, wie sollen wir das bezahlen? Der hat nen Knall. Sag ihm das.

Mach ich nicht!

Wir haben Kinder dabei! Jungs, zeigt euch!

Der Polizist streift die verzweifelt lächelnde Sonja und den verängstigten Jungen mit einem Blick, dann zieht er den Revolver aus dem Holster und setzt ihn Vater an den Hals.

Selbiger starrt vor sich hin und leckt fieberhaft die Schweißtropfen ab, die von seiner Stirn perlen.

Der Offizier spricht leise und eindringlich.

Heute wär das schon die vierte Kolonne aus Rumänien, sagt er, er wär total erschöpft und obwohl er persönlich Hitler hassen würde, müsste er sich das doch immer wieder in Erinnerung rufen. Wir hätten hier nichts verloren, hat er gesagt. Und außerdem sollst du aufhören, ihn zu verarschen.

Schon gut, knurrt Vater. Sein Exkusé mua, messjé, pardon mua röchelt er beim Wenden schon zu dem Polizistenrücken. Während sie staubumhüllt eine Holperpiste zurückrasen, sagt er kein Wort, und auch als sie auf eine Asphaltstraße kommen und ein paar vertraute Schilder passieren, hüllt er sich in Schweigen, dabei fahren sie durch eine verdammt vertraute trockene und staubige Landschaft, in der Ferne sieht er schon die Flussbiegung und saust dahin, hier in der Gegend hatte es mal ein paar Engagements für sie gegeben, ein paar Lagerplätze, wo sie ohne die Jungs gewesen waren und dann mit ihnen, jawoll! Hier kennen sie das doch gut, nicht nur wegen der Schauspielerei hat sich ihnen die Gegend ins Gedächtnis geritzt, und die Jungs? Na, bei denen wird sie sich auch irgendwo eingraviert haben.

Schlückchen gefällig? Feiner Tropfen, echter Amontillado!

Spinnst du? Beim Fahren säuft man nicht, sagt Mama, reißt ihm die Flasche aus der Hand und trinkt und trinkt.

Ein Schluck des edlen Amontillado erfrischt den Wandrer wie Limonado.

Stimmt, sagt Mama, nachdem sie die Flasche abgesetzt hat. Ihre Gesichtszüge, bis dato imposant verstrubbelt, entspannen sich langsam, Seligkeit macht sich ihr in den Kapillaren breit. Sie zupft am Fußverband, streckt ihr Bein aus.

Die Froschfresser sind ernst geworden, findest du auch?

Kein Wunder, nach Bataclan.

Was?

Ist doch ständig in den Nachrichten. Aber stimmt, du verstehst das nicht …

Was für ein Clan?

Als sie es ihm erklärt hat, fängt er an, im Handschuhfach zu kramen, tastet alle Taschen ab und findet zwei rosa Rechtecke aus hartem Glanzpapier, wedelt mit ihnen vor Sonjas Augen.

Siehst du die? Da sollten wir hin! Ich hab sie von einem Kumpel, gewonnen hab ich sie. Der hat fast geheult, es war seine Lieblingsband, aber Wette ist Wette, da ließ sich nichts machen.

Was?

Ich wollte dich dort zu unserm Jubiläum einladen, dann hab ich’s voll verschwitzt. Wie viele Tote hat es gegeben? Da haben wir schon wieder Schwein gehabt, oder?

Du hast unseren Jahrestag verpennt! Typisch!

Tschuldigung!

Hmmm!

Hab das wahrscheinlich schon gefragt, aber wie bist du zu den vielen Sprachen gekommen?

Gelernt.

Da beneide ich euch drum. Bei uns gab es nur Russisch.

Das werden wir nicht brauchen.

Dafür hast du einen russischen Namen. Findest du das nicht seltsam?

Vati halt.

Das sagst du immer, Vati hin, Vati her, aber deine Mutter?

Mit großer Geste winkt sie ab.

Ich dagegen hab nen Mauschelnamen.

Das sagt man nicht.

Wie, sagt man nicht.

Wenn, dann einen biblischen. Einen Namen aus der Bibel.

Ach so, ja! Kuck mal …

Da befinden sie sich schon im Anflug auf die Brücke, eine riesige Konstruktion über dem Tal, die Brücke kennen sie von unten, sie sehen sich an, ein linder Blick aus tiefstem Innersten voll tief in den anderen hinein, so dass man selbst für einen Bruchteil der Ewigkeit der andre wird, und logisch schießt den beiden durch die Birne, wie sie sich kennengelernt haben. Damals in der Slowakei.

Das Mädel hatte er gleich am Morgen wiedergesehen. Sie schälte sich aus dem Schleier, in dem die anderen Festivalteilnehmer verschwammen, und setzte sich zu ihm. Er klappte sein Heft zu, steckte den Kuli ein und glotzte.

Fesch und schlank, wallende bunte Locken, ihr Busen sang.

Welchem Umstand hab ich die Ehre zu verdanken?

Sie loderten. Also küssten sie sich. Aus den slowakischen Bergen, die um den Beton und die grünen Flächen der Versammlungsstätte des Festivals PALETTI aufragten, kam eine laue Brise, sie strich sanft über ihre glühenden Herzen und befriedete sie.

Weil du bist echt so ein geiler Typ!

Die frühen Gäste am Tischchen hinter ihnen prusteten, dem mit einem Knochen in der Nase entrang sich ein lauter Seufzer, der andere, der vom Kopf bis zu den Zehen mit einem Comic bedeckte Metrosexuelle, grunzte nur und kippte auf einen Schlag eine ganze Mirinda herunter.

Sie lächelte. Ein Moment der vergangenen Nacht tauchte vor ihr auf, als der stattliche Belagerer, endlich ermattet, wie ein gesättigter Wonneproppen in ihrer vor Zärtlichkeit geschwollenen Hand liegen blieb.

Bist’n toller Stecher. Man sagt, die Generationen driften auseinander, aber deine Generation find ich super.

Echt? Und was macht dein Vater?

Wir kommen von Benešov.

Dein Auftritt gestern, wow. Du warst die Beste!

Und wo hast du dein Zeug her?

Klinikaufenthalt, Art-Therapie, er rückte mit der Wahrheit raus.

Du bist halt eigen. Außerdem find ich gut, dass du keine zugemalte Haut hast.

Hab mal drüber nachgedacht, aber Tätowierte machen mir eher Angst.

Weiter holte er nicht aus. Sagte nichts über die blassbläulichen Tattoolandschaften, wo Tüten mit Aceton rascheln und Päderastenmünder schmatzen, hinter den Gittern, wo die Seele ächzt unter der Finsternis schweren Pratzen, warum sollte er damit das Mägdelein auch beunruhigen?

Was?

Keinen Selbsterhaltungstrieb haben die.

Aha! Und wohin geht’s weiter?

Kein Plan.

Auch gut.

Aus der innigen Erinnerung heraus schwippten sie mit Karacho über die gelb abgesteckten Geschwindigkeitsstopper auf die ellenlange Brücke. Als hätten Außerirdische den Bau in die Gegend geknallt! Dutzende Meter über dem Fluss eine schwebende Konstruktion aus Metall! Spitze Brückenbogen, filigrane Schrauben und Muttern, Stifte und Mütterchen, achtsam behauene Steine, fest ineinandergefügt. Ein irres Ding.

Und eben unter dieser Brücke war sie niedergekommen, so etwa, wer weiß, ungefähr neun Monate nach ihrem Kennenlernen, eine Woche her, eine Woche hin, welcher Korinthenkacker wollte die einzelnen Augenblicke zählen im reißenden Strom der Liebe und Harmonie, der zu Beginn wie ein Geysir aus ihnen herausbrach.

Hinter der ausgedörrten Landschaft glänzt das ferne Meer, der französische Fluss unter ihnen saugt aufs Neue den Abglanz ihrer Seelen ein, schleift sie auf den Grund, zwischen die Kieselsteine, in den herumschwappenden Bodensatz.

Sie reißt die Augen von der Straße, schleudert einen raschen Blick auf seine Nase, den nach vorn gerichteten Wegweiser, dreht den Kopf nach hinten, auf den Rücksitz zu den Jungs, der schlafende Winzling stellt sein süßes Bäckchen zur Schau, der Ältere sieht gedankenverloren aus dem Fenster. Und ihr ist so traurig! Und so herrlich auch!

Hör mal! Vielleicht ist dieser Augenblick alles, was wir haben!

Du hast versprochen, die Finger davon zu lassen!

Einen Himmel gibt es nicht, eine Hölle auch nicht, alles beides hat es nie gegeben, Ehrenwort.

Bist also wieder reingeschlittert.

Das Leben ist schön! Trauerumflort schön. Mehr weiß ich nicht!

Dass ich dir egal bin, kann ich ab, aber denk um Gotteswillen an die Kids!

Gegenwart ist alles, mehr haben wir nicht, glaub mir! Das ist mir gerade so gekommen!

Letzter Auftritt und ab nach Hause, da bringe ich dich in die Klinik, du willst es ja nicht anders. Und was ist mit deinem Bein? Du meintest, dass es immer wieder wehtut.

Wird dick, ja.

Woher kommt das?

Null Ahnung. Vom Leben.

Nadeln sind nicht ungefährlich.

Angeschwollen ist es, stimmt.

Am besten kuriert man sich in der Muttersprache. Wir werden schon eine prima Privatklinik finden, dein Vati drückt das bisschen Kohle gerne ab, oder?

Unsinn. Wohin dann mit den Jungs?

Wo sollten sie hin, ich kümmere mich.

Schwöre es bei der Mutter Gottes.

Null problemo.

Nein, richtig schwören.

Donnernd, er hätte ja vor der gelben Markierung bremsen müssen, hat er aber nicht gemacht, verließen sie die Brücke, und nun rasen sie die Asphaltstraße lang, vorbei an Sträuchern, die sich über die betongestählten Ufer beugten.

Schnall dich gefälligst an! Warum bist du nicht angeschnallt? Woher sollen wir das Bußgeld nehmen, wenn uns die Bullen schnappen, kannst du mir das bitte schön sagen?

Aber zurückgeblickt haben sie.

Damals waren sie nachts durch die Gegend geirrt, hatten sich gegenseitig beteuert, sie würden mit Sicherheit und rechtzeitig eine Klinik erreichen und dort direktemang die Entbindungsstation anpeilen, aber Pustekuchen.

Es regnete Stricke und er hielt zwischen ihnen Ausschau nach den Straßenschildern, während sie stöhnte und die Hände auf die dicke Wampe presste, sie mussten die Abzweigung verpasst haben, wie auch alle weiteren, allein nur unter der Brücke ein roter Schein.

Er hielt an und stieg aus. Fragen kostet nichts. Mühevoll kroch sie hinter ihm raus. Er scheuchte sie zurück, sie gab nicht nach. Sie musste sich wohl Erleichterung verschaffen von dem erdrückend kleinen Raum voller Gestöhn und Geschrei, sie bettelte um Luft. Was soll’s, der Sprit war eh alle.

Sie stolperten durch den Schlamm auf den Brückenbogen zu, er stützte sie. Die Straße über ihnen schwang sich in atemberaubende Höhen. Gleich unter dem ersten Bogen stießen sie auf einen Berg von Pappe. Sie sackte zusammen, konnte nicht weiter, gut, dass sie wenigstens Pappdeckel unterm Rücken hatte.

Alle viere von sich gestreckt, machte sie die Beine breit, wollte sich den Rock vom Leibe reißen, er zerrte die Klamotten über ihre zitternden Hüften, die milchprallen Brüste sprangen im Rhythmus ihres Atems wie zwei Blasebälge, er rollte seinen Nicki zusammen und schob ihn unter ihren Kopf, das war nur gut so.

Wuchtvoll schlug ihr Nacken gegen das Kissen, wie sie sich hin und her warf, und ihr fürwahr tierisches Geschrei schallte vom eisernen Gewölbe wider.

Er bemühte sich, sie nicht mit dem Lichtkegel zu blenden, vielleicht wollte er auch nur nicht ihr verzerrtes Gesicht sehen, in ihren Mundwinkeln stand weißer Schaum. Sie kreischte pausenlos, ihr Monsterbauch ragte auf wie eine Beule.

Zwischen ihren Beinen kniend, richtete er die Stirnlampe auf die klaffende blutige Spalte, in der sich das Köpfchen zeigte. Er wartete, bereit, die Frucht aufzufangen. Das Köpfchen tauchte auf. Und schwang sich hinaus. Als hätte eine feste Hand den Riesenbauch gedrückt und den Inhalt rausgepresst. Das Neugeborene schlüpfte heraus, purzelte ihm weich in die hohle Hand. Die Nabelschnur erspürte er eher, als dass er sie gesehen hätte. Mit dem Finger trennte er sie aus dem blutigen Schleimknäuel heraus und schnitt sie mit seinem Schnappmesser durch. Er starrte das blutverschmierte Kindlein an. Ein Junge, schoss ihm durch den Kopf. Mit dem kleinen Finger strich er den Schleim aus seinem Mündchen. Er wischte seine Linsleinäuglein sauber, das Kind wimmerte leise. Und dann legte es los.

Deswegen wird er die Schritte nicht gehört haben. Und die Stimmen. Der Regen prasselte nicht mehr stark, aber das Weinen des Jungen hatte ihn taub gemacht.

Aus den Untiefen der Brücke kamen sie zu ihnen, irgendwo vom anderen Ende.

Sonja lag auf den Kartons, die Beine angewinkelt. Von ihrem unförmigen Bauch hatte sich der Schmerz noch nicht ganz verabschiedet. Es hätte sein können, dass sie schon den Höhepunkt überschritten hatte, aber immer wieder durchzuckte ein neuer Krampf ihr Gesicht.

Die Ankömmlinge, schwarze Typen, umringten sie. Sie trugen Jeans und Windjacken. Einer, ein noch ganz junger, zündete sein Feuerzeug an, ein anderer hatte eine Taschenlampe und zeigte mit ihr auf den Winzling in Vaters Händen.

In einer hilflosen, staunenden Geste hielt er ihn den Fremden entgegen, grinste sie schier entschuldigend an. Er blinzelte, sie sollten ihn nicht blenden. Das Söhnchen fügte sich in seine Hand, es wimmerte und plärrte, in der anderen hielt er das Klappmesser.

Ein Alter mit grauen Zotteln, die ihm ins Gesicht fielen, traf mit dem Lichtkegel den gelähmten, blutigen Körper. Die Männer rückten zusammen, einer lachte auf. Aus der Tiefe und Finsternis der Brücke tauchten immer neue Gestalten auf und klackerten mit den Schuhsohlen über die Steinchen, der Wind brachte einen Hauch Regen herein, überall Gemurmel und Geschwätz. Der kniende Vater, den kleinen Sohn an die Brust gedrückt, dachte allerdings, sämtliche Geräusche hätte die Natur auf dem Gewissen, es wäre der Weltenraum selbst, der seine Sinfonie sang und himmelhoch jauchzte und seine Unterstützung kundtat.

Das hier waren aber Menschen. Also stand er auf, und als er das offene Messer in seiner Hand bemerkte, blutbedeckt und noch vom Schleim und Pamp der Nabelschnur feucht, drehte er seine Spitze gegen die Ankömmlinge.

Ssa va?, fragte der zottelige Alte.

Ssa va bján!

Schak omm porte kuto, bemerkte der Graukopf und nahm ihm das Messer aus der Hand.

Sie war von Weibern umgeben. Dahinter drängelten sich junge Frauen, ein ganzes Rudel. Sie umringten sie, legten ihr weitere Pullover unter den Kopf, streichelten sie und tasteten den schmerzenden Körper ab. Wasser hatten sie dabei, ein paar Befehle, und die Jüngsten trippelten in die Dunkelheit zurück.

Er machte sich auf zu ihr. Hielt das Bürschlein sanft in beiden Händen. Mit halbgeöffneten Augen betrachtete sie die Menge um sie herum. Und ein neuer Krampf durchpflügte ihr Gesicht. Noch einer.

Er starrte Sonja an, schon wieder das Geschrei von vorhin. Ihr Bauch, der riesige Sack, der über ihrer Scham hing, wogte gewaltig. Sie warf sich hin und her, schrie und spreizte die Beine. Eine Schar plappernder Helferinnen besänftigte sie, hielt ihr die Hände, wischte die Stirn.

Er hätte nicht gedacht, dass er sich noch rühren konnte, aber eine Kraft, stärker als er, schob ihn in ihre Richtung, in das Gewimmel. Zwischen den Armen und Ellbogen der Frauen sah er, dass sie ihre Schenkel weit breit machte. Aus ihrem Körper drängte ein neues Köpfchen, ein nächstes Kind schickte sich an, auf die Welt zu kommen.

Doch, die waren damals schon eine Hilfe gewesen. Total. Bei denen auf ihrem Lagerplatz gab es sogar Wasser, heißes Wasser, so viel man brauchte. Ihre Dreckpusselchen haben bestimmt gern auf das abendliche Reinigungsbad verzichtet. Und zum Schluss ist einer sogar bei der Klinik durchgekommen.

Für die Reise schenkten sie Sonja eine volle Saugflasche, Klamotten, seltsame ausländische Wattebäusche, Zitronen und Unmengen von winzig kleinen süßen Früchten, den frischgebackenen Eltern vollkommen unbekannt. Als letzte Freundschaftsgeste schob der Alte Vater das Klappmesser in die Hand. Gewaschen, gereinigt. Ja, damals war es gut ausgegangen.

Diesmal lassen sie die Brücke ohne weitere Vorkommnisse hinter sich, sie schwindet dahin in die fernen Weiten des dürren Landstrichs.

Was hast du eben gesagt? Auskurieren? Sonja setzt das Gespräch mit heiserer Kreischstimme fort, ein untrügliches Zeichen nahender Unannehmlichkeiten.

Das ist Vokabular wie aus dem Zweiten Weltkrieg, so was sagt man nicht mehr!, schulmeistert sie und fingert dabei ihre Joppe ab, wühlt die Rocktaschen durch auf der Suche nach ihrem Junkiewerkzeug.

Woraufhin Vater einwendet, ihre jetzige Überzeugung, ihr zugedröhntes Bewusstsein sei umfassender, witziger und dem menschlichen Schicksal angemessener als das Bewusstsein eines Menschen, der keine Gifte nimmt, es sei nicht objektiv, sondern nur ein Teilaspekt ihrer Sucht.

Du redest schon wie so’n alter Sack. Solche Sprüche hätte ich zu Hause zuhauf haben können.

Auch du wirst älter, bilde dir da bloß nichts ein. Morgens hast du nur nen schmalen Schlitz statt Auge. Säufst nur noch und setzt Fett an.

Was soll der Unsinn? Hab höchstens Schmerzen im Bein!

Komm, das geht an keinem vorbei, denk bloß nicht. An keinem. Dagegen ist kein Kraut gewachsen.

Hör auf, mich zu psychisieren!

Außerdem motzt du nur noch, ist dir das aufgefallen? Das war früher nicht.

Und weil sie zur Abwechslung schon wieder die silbrige Tube rausgeholt hat, reißt er sie ihr aus der Hand und pfeffert sie nach hinten.

Also klebt sie ihm eine. Doch inzwischen kann er ihren Knallschoten gekonnt ausweichen. Auch an die Kreischstimme haben sie sich gewöhnt; angesichts der Kreissäge ihres Unmuts würden normale Sterbliche vor Panik erstarren, sie klappen bloß die inneren Horchlöffel zu. Und Vater reißt das Steuer herum, wild gestikulierende Autoinsassen auf der Gegenfahrbahn schrammen vorbei, ihre Gesichter verschwommen in einem Knäuel, das der Vergessenheit entgegenrast, während sie sich nach hinten wendet, den Jungen in die Arme schließt und ihren Kopf in die verschwitzte Mulde an seinem Hals drückt.