Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. 1
  5. 2
  6. 3
  7. 4
  8. 5
  9. 6
  10. 7
  11. 8
  12. 9
  13. 10
  14. 11
  15. 12
  16. 13
  17. 14
  18. 15
  19. 16
  20. 17
  21. 18
  22. 19
  23. 20
  24. 21
  25. 22
  26. 23
  27. 24
  28. 25
  29. 26
  30. 27
  31. 28
  32. 29
  33. 30
  34. 31
  35. 32
  36. 33
  37. 34
  38. Danksagung
  39. Die Autorin
  40. Die Romane von Helena Hunting bei LYX
  41. Impressum

HELENA HUNTING

Inked Armor

Du auf meiner Haut

Ins Deutsche übertragen
von Beate Bauer

Zu diesem Buch

Als Tenley von ihrer Vergangenheit eingeholt wird und zu ihrer Familie zurückkehren muss, bricht für Tattoo-Artist Hayden Stryker eine Welt zusammen. Getrennt von der Frau, die seine ganze Hoffnung auf eine glückliche Zukunft war, droht er erneut in die dunklen Abgründe abzudriften, die vor vielen Jahren schon einmal ihre Schatten nach ihm ausstreckten. Tenley weiß, dass sie Hayden nicht verlassen darf – aber auch, dass die Vergangenheit erst ruhen kann, wenn sie ihren Frieden mit sich geschlossen hat. Auch wenn es dann für ihr Glück mit Hayden vielleicht längst zu spät ist …

Kato, das hier ist für dich.

1

TENLEY

Um sechs Uhr dreiundzwanzig wurde die Haustür geöffnet; das Piepen der Alarmanlage signalisierte mir Treys Kommen. Ich hielt den Atem an, als ich auf den Klang des Codes lauschte, der eingetippt wurde, dann ging der Alarm los, gefolgt von Treys wütendem Fluchen.

Gestern Abend hatte ich den Alarmcode zum siebten Mal in einer Woche geändert. Ich hatte mich dazu entschlossen, weil Trey, als ich morgens wach wurde, über mein Bett gebeugt dagestanden und wegen meines Tattoos Zeter und Mordio geschrien hatte. Von den wüsten Schimpftiraden meines Beinahe-Schwagers geweckt zu werden, war nicht gerade angenehm gewesen. Und da er meine Versuche vereitelt hatte, das Schloss auszuwechseln, machte ich ihm eben mit der Alarmanlage das Leben zur Hölle.

Trey reihte äußerst originelle Sätze aneinander, die keinen Zweifel daran ließen, was er von mir hielt. Ich griff nach meinem iPhone, steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und scrollte durch die Playlist, die ich extra für diese Freakshow angelegt hatte. Hardrock dröhnte mir in den Ohren, als der Alarm in den Panikmodus wechselte.

Kurz darauf trommelte er wie üblich gegen meine Tür. Ich griff nach der Fernbedienung auf meinem Nachttisch und schaltete den Surround-Sound ein, der an den Fernseher angeschlossen war, worauf Technobeats loswummerten, dann ging ich ins Bad, um zu duschen. Trey hasste Techno.

Als ich geduscht und mich angezogen hatte, hatte das Trommeln aufgehört. Ganz leise drehte ich das Bolzenschloss an meiner Schlafzimmertür. Ich öffnete sie einen Spaltbreit und spähte hinaus. Kein Trey, was jedoch nicht bedeutete, dass er weg war. Manchmal wartete er stundenlang; seine Hartnäckigkeit kannte keine Grenzen.

Vor der Tür lagen ein Stapel Unterlagen und ein Stift für mich, damit ich die Immobilie überschrieb. Er war jeden Morgen hier aufgetaucht, hatte allerdings seine Taktik ein wenig geändert. Bisher hatte er die Papiere vorbeigebracht und mir etwas später oder abends aufgelauert. Die letzten beiden Tage jedoch hatte er gewartet, bis ich aufgetaucht war.

Meine Antwort war immer die Gleiche gewesen. Ich zerriss die Papiere und sah dabei zu, wie sie wie dicke Schneeflocken zu Boden rieselten. Sie zu zerstören, war zu einem Ritual geworden, das ich genoss.

Ich wollte gerade die zerfetzen, die er heute Morgen dagelassen hatte, als ich bemerkte, dass es nicht die üblichen Dokumente waren. Der Stapel war dünner. Ich blätterte ihn durch und runzelte die Stirn, als ich den Inhalt erfasste. Auf der Rückseite stand meine krakelige Unterschrift. Nach dem, was ich hier vor mir sah, hatte ich Trey Handlungsvollmacht erteilt.

Ich konnte mich allerdings nicht daran erinnern, das Dokument je zu Gesicht bekommen, geschweige denn unterschrieben zu haben. Laut Datum war es zwei Monate nach dem Unfall aufgesetzt worden und durch meine Unterschrift rechtsgültig. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Krankenhaus verlassen, war jedoch nicht in der Lage gewesen, für mich selbst zu sorgen, und Trey hatte sich um meine Medikamente gekümmert. Jetzt dämmerte mir, wieso.

»Trey!« Ich zerknüllte das Dokument und rannte die Treppe hinunter.

Er saß an der Kücheninsel und tippte auf seinem Laptop, neben ihm stand eine Tasse Kaffee. Als wäre das sein Haus und nicht meins. Ich knallte ihm den Deckel des Laptops auf die Hände.

»Hast du sie noch alle?« Er sprang auf, und sein Stuhl kippte nach hinten. Das metallische Klappern hallte durch den offenen Raum.

»Ob ich sie noch alle habe?« Ich stieß ihm die Papiere gegen die Brust. »Hast du sie noch alle? Glaubst du, du kannst mich so lange tyrannisieren, bis ich dir das Haus überschreibe?«

Er hielt meine Handgelenke fest, damit ich nicht auf ihn losgehen konnte, und verzog die Lippen zu einem höhnischen Grinsen. »Ich habe deine Handlungsvollmacht. Ich kann mir alles nehmen, was ich will.«

»Hast du den Verstand verloren? Glaubst du wirklich, das Papier ist gültig? Ich war nicht einmal bei klarem Verstand, als ich es unterzeichnet habe.« Ich wehrte mich gegen ihn, meine Handgelenke scheuerten schmerzhaft gegen seine Finger, als er den Griff verstärkte.

»Überschreib das Haus, und die Sache ist erledigt.«

»Nicht an dich, und jetzt erst recht nicht!«, stieß ich hervor.

»Überschreib das verdammte Haus, Herrgott noch mal!«, brüllte er.

»Warum bist du eigentlich so scharf darauf?«, schrie ich zurück.

»Weil das Erbe für mich nutzlos ist, solange ich das Haus nicht besitze!«

Er ließ meine Handgelenke los und wandte sich taumelnd ab. Sein drahtiger Körper zuckte, als er sich wieder zu fangen versuchte. Trey hatte nie zuvor die Kontrolle verloren. Ich rieb mir die Handgelenke, die dort, wo er zu fest zugedrückt hatte, rote Striemen hatten. Seine Nasenflügel waren gebläht, und seine Augen glänzten hasserfüllt. Er atmete tief durch und rückte seine Krawatte zurecht.

»Es gibt fünf Häuser auf dem Grundstück. Warum willst du ausgerechnet das hier?«, fragte ich verständnislos.

»Bist du wirklich so blöd? Ich kann das Anwesen nicht verkaufen, bevor ich nicht alle Häuser besitze.«

»Aber im Testament deiner Eltern …«

»Das Testament spielt keine Rolle mehr! Meine Eltern sind tot, dank deiner tollen Hochzeitspläne. Was sie wollten, ist also irrelevant.«

Die Schuld traf mich wie eine Kugel ins Herz. »Das ist nicht fair.«

»Gefällt dir die Wahrheit nicht? Wirst du damit nicht fertig? Soll ich dir eine Tablette holen?«

»Genug.« Ich hob eine Hand.

Ich könnte niemals in diesem Haus leben – es symbolisierte alles, was vielleicht hätte sein können, aber nie geschehen würde. Doch ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass es aus dem Familienbesitz verschwand. Vor allem, weil es so viele Verwandte gab, die diese Immobilie gern zu ihrem Zuhause machen würden, sofern sie es sich leisten konnten. Das Anwesen war seit Generationen in Familienbesitz.

»Selbst wenn ich dir das Haus überschreiben würde, besitzen deine Onkel noch immer das Sommerhaus, nicht wahr?«, sagte ich.

»Meine Onkel werden verkaufen.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Weil jeder einen Preis hat. Ich bin mir nur noch nicht sicher, wie hoch deiner ist. Ich meine, du bist bei Connor geblieben, nachdem er mit der Hälfte der Frauen an der Cornell geschlafen hatte, während du dir deine kleine Auszeit – oder wie du das nennst – genommen hast«, höhnte Trey. »Und dann bist du sofort auf diesen verdammten Antrag angesprungen. Vielleicht ist dir Geld also wichtiger, als du zugibst. Nach dem, was ich in Chicago mitbekommen habe, bist du anscheinend gewillt, deine Selbstachtung aufzugeben. Wie wär’s, wenn ich das Angebot verdopple? Würdest du es dann annehmen?«

Jeder Funken Sympathie, den ich je für Trey gehabt haben mochte, erlosch in diese Moment. Connor war nicht vollkommen gewesen, und unsere Beziehung auch nicht, doch Treys Behauptungen klangen wie einer seiner fiesen Tricks, um mir wehzutun. Ob es nun stimmte oder nicht, ich brauchte diesen Fleck auf Connors Andenken nicht.

»Warum bist du nur so grausam?«

Trey lächelte boshaft. »Du bist die Einzige, die mir im Weg steht, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um zu bekommen, was ich will. Wenn du das Haus nicht überschreibst, nehme ich es mir einfach. Meine Bitte war reine Höflichkeit, aber ich sehe, dass du viel zu sehr mit dir selbst beschäftigt bist, um das zu verstehen. Wie üblich.«

Ich hielt die zerknüllten Papiere hoch, während meine Entschlossenheit wuchs. »Das hier hat niemals Bestand.«

»Das werden wir noch sehen.«

Er stellte den umgestürzten Stuhl wieder auf und griff nach seiner Anzugjacke. Dann steckte er den Laptop in seine Aktentasche, doch bevor er sie schloss, nahm er einen weiteren Stapel Unterlagen heraus, die ich sofort erkannte.

»Ich lasse sie dir hier, ja? Für den Fall, dass du deine Meinung änderst.« Damit drehte er sich um und ging hinaus.

Sobald Treys Wagen die Auffahrt verlassen hatte, ließ ich mich auf einen der Stühle sinken. Seine Worte waren wie Splitter, die sich tief in mein Fleisch bohrten.

Mein Verhältnis zu Connor war immer kompliziert gewesen. Er war ein paar Jahre älter gewesen und hatte, vor allem, was seinen Besitzanspruch betraf, unrealistische Erwartungen gehabt. Rückblickend war es nur darum gegangen, den Schein zu wahren. Wenn wir geheiratet hätten, hätte ich mein Leben lang damit klarkommen müssen. Meine »kleinen Macken«, wie Connor sie genannt hatte, wären abgestellt oder von etwas Akzeptablerem ersetzt worden. Oder unter Kleidern und Haaren versteckt worden, wie es mit meinem winzigen Tattoo und meinen Piercings in den Ohren geschehen war.

Connor war seit Jahren im halben Land unterwegs gewesen und nur während der Sommermonate und Feiertage hergekommen. Als wir eine Beziehung anfingen, flog er öfter nach Hause. Doch die Distanz strapazierte die Beziehung trotzdem, und in meinem letzten Collegesemester wurde es mir einfach zu viel. Ich musste mich auf das Studium konzentrieren und durfte mich nicht nach einem Freund verzehren, der weit weg war. Also nahm ich mir eine Auszeit von acht Wochen. Ich hatte ihn nie um eine bestimmte Zeit gebeten. Es schien nicht wichtig zu sein, denn kurz danach machte er mir einen Antrag.

Leider rührte Treys spitze Bemerkung auch an Erinnerungen, die nichts mit Connor zu tun hatten. Ein Bild von Hayden mit Sienna, wie sie sich an ihn klammerte, tauchte in meinem Kopf auf. Bei dem Gedanken daran drehte sich mir der Magen um. Ich ertrug die Vorstellung nicht, dass er mit jemand anderem als mir zusammen war. Was nicht fair war, denn ich hatte ihn verlassen, nicht umgekehrt.

Wenn er während meiner Abwesenheit zu ihr zurückging, konnte ich nur mir selbst die Schuld daran geben. Zwei Wochen genügten ihr, um ihre Klauen erneut in ihn zu schlagen, vor allem, wenn man bedachte, wie ich verschwunden war. Das machte es nur noch dringlicher, ein paar ungelöste Probleme zu klären. Ich vermisste ihn so sehr, dass es eine fortwährende, schmerzhafte Ablenkung war.

Ich glättete die Seiten der Handlungsvollmacht auf dem Tresen. Connors Vermögenswerte und finanziellen Angelegenheiten zu klären war etwas, das ich allein bewältigen konnte – das hier nicht. Ich nahm Handtasche und Dokumente und eilte zur Garage.

Die vertraute Fahrt nach Minneapolis dauerte nicht lange, und bald war ich bei Williams and Williams Attorneys at Law. Eigentlich hätte ich vorher anrufen sollen, doch Frank Williams war ein langjähriger Freund meines Vaters gewesen. Ich war sicher, dass er mich auch ohne Termin empfangen würde.

Die Fahrt mit dem Aufzug in den elften Stock dauerte ewig. Der enge Raum verursachte mir Beklemmungen; ich war nicht mehr in Franks Büro gewesen, seit ich die Papiere bezüglich der Entschädigungszahlung der Fluglinie und des Testaments meiner Eltern unterschrieben hatte.

Die Rezeptionistin blickte mich überrascht an, als ich hereinkam: »Tenley!«

»Hallo, Catherine! Ich habe leider keinen Termin, doch ich warte gern, falls Frank ein wenig Zeit für mich erübrigen kann.«

»Ist alles in Ordnung? Gibt es ein Problem mit dem Testament?«

»Es geht um Connors Nachlass. Ich habe … ein paar Fragen.«

»Ich bin gleich wieder da.« Sie ging den Gang entlang zu Franks Büro, und keine Minute später tauchte er in Catherines Gefolge auf.

»Tenley! Wie schön, dich zu sehen.« Obwohl er lächelte, bemerkte ich seine besorgte Miene, als er mir eine väterliche Umarmung angedeihen ließ, die ich erwiderte. »Wie gefällt’s dir in Chicago?«

»Ich lege gerade eine Pause ein. Es gibt hier ein paar Dinge zu klären.«

»Warum kommst du nicht in mein Büro, und wir unterhalten uns.« Er blickte Catherine an. »Können Sie die Verabredung zum Mittagessen verschieben?«

»Natürlich.«

»Ich sage Ihnen Bescheid, falls wir noch weitere Termine am Nachmittag umlegen müssen«, sagte Frank und führte mich in sein Büro.

Sobald die Tür geschlossen war, setzte ich ihn ins Bild und reichte ihm die Papiere. Frank hob die Bifokalbrille, die um seinen Hals hing, und überflog die Seiten, wobei seine Miene immer ernster wurde.

»Warum kenne ich das nicht?«, fragte er.

»Ich weiß selbst erst seit heute Morgen davon. Ich bin direkt zu dir gekommen. Hat Trey recht? Kann er mir alles wegnehmen?« Der Besitz und dessen finanzieller Wert interessierten mich nicht. Es ging um die Kontrolle, die mir entzogen wurde, um die Möglichkeit eines weiteren Verlusts, mit dem ich nicht klarkäme.

»Ist das deine Unterschrift?« Er blätterte zur Rückseite und hielt sie mir hin.

»Ja, aber ich war gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden und stand unter Medikamenteneinfluss. Ich kann mich nicht erinnern, das unterzeichnet zu haben.«

»Dieser verdammte …« Frank schüttelte den Kopf. »Er könnte deswegen seine Anwaltslizenz verlieren.«

»Können wir denn irgendetwas tun?«

»Es wird ein paar Tage dauern, doch ich bin sicher, das rückgängig machen zu können. Er sollte deswegen zur Rechenschaft gezogen werden – doch ich habe den Eindruck, dass du daran nicht interessiert bist.«

»Ich habe nicht die Energie, ihn vor Gericht zu zerren. Ich will nur sicherstellen, dass er nicht über mich bestimmen kann und das Haus nicht bekommt. Ich will das alles hinter mich bringen, um mein Leben weiterzuleben.«

»Wenn es dir so lieber ist. Catherine hat Connors Immobilienbesitz erwähnt. Kommt da noch mehr auf uns zu?«

»Ja.« Ich zückte eine Kopie von Treys Papieren über die Eigentumsübertragung und den vorgeschlagenen Betrag.

So vieles hatte sich geändert, seit ich das Testament unterzeichnet hatte. Der finanzielle Ausgleich für einen so überwältigenden emotionalen Verlust hatte mich in Schuldgefühlen versinken lassen. Während des vergangenen Jahres hatte ich geglaubt, dieser Verlust sei ein direktes Resultat meines Egoismus gewesen. Trey hatte sich das zunutze gemacht, doch schließlich hatte ich erkannt, dass das, was passiert war, jenseits jeder Kontrolle gelegen hatte. Ich würde nicht zulassen, dass er das weiterhin gegen mich verwendete.

Vier Tage später saß ich erneut in Franks Büro, mit Connors Cousin Weston.

Frank war es gelungen, die Handlungsvollmacht aufzuheben. Außerdem hatte er einen Gemeindeantrag bezüglich des Hoffmann-Grundbesitzes entdeckt, der fünf Häuser und vierzigtausend Quadratmeter umfasste. Trey hatte diesen auf Nutzung als Gewerbegebiet und den Abriss der Häuser gestellt.

Mein Haus und die dazugehörigen achttausend Quadratmeter waren ein Hochzeitsgeschenk von Connors Eltern gewesen. Wir hätten nach unserer Rückkehr von Hawaii dort einziehen sollen – nur dass es nicht dazu gekommen war.

Ich war fassungslos gewesen, als ich erfahren hatte, dass ich das Haus samt Grundstück erben sollte. Trey war wütend gewesen, vor allem, weil ihm Connor, der sich auf Eigentumsrecht spezialisiert hatte, kein Schlupfloch gelassen hatte, um es mir wegzunehmen.

Auch wenn nicht klar war, was damit geschehen sollte, bestand anscheinend die Gefahr, dass ein paar der Häuser abgerissen wurden. Das durfte nicht geschehen.

In der neuen Vereinbarung zur Eigentumsübertragung hatte Frank eine Klausel eingebaut, die vorschrieb, dass für das Haus und achttausend Quadratmeter Grund und Boden die Verordnung für Wohngebiete galt. Und weil das Haus genau in der Mitte des Grundbesitzes stand, machte das Treys Plänen einen Strich durch die Rechnung.

Weston blickte mit dem Stift in der Hand zu mir auf. »Bist du dir sicher?«

»Absolut, Connor hätte gewollt, dass das Haus in Familienhand bleibt.« Westons Familie besaß auch die Hälfte des Sommerhauses. Sobald mein Haus überschrieben wäre, würde Trey in die Röhre schauen.

Weston und Connor waren zusammen aufgewachsen. Weston wäre fast zur Hochzeit gekommen, doch es hatte nicht in seinen Terminplan gepasst. Er war schwer enttäuscht gewesen, doch nun war ich froh über diese kleine Gnade.

Mit respektvollem Nicken beugte er sich über die Papiere und unterschrieb bei jedem gelben Klebestreifen. Als er die letzte Unterschrift geleistet hatte, legte er den Stift beiseite.

»War’s das?«, fragte ich Frank. »Gehört das Haus jetzt Weston?«

»Das war’s. Schlüsselübergabe ist morgen Nachmittag um fünf.«

Damit blieb mir genug Zeit, um die restlichen Kartons mit Connors Habseligkeiten zur Wohlfahrt zu bringen und meine Sachen zu packen. Die Anspannung der letzten Wochen fiel von mir ab. Die Handlungsvollmacht war aufgehoben. Das Haus fiel nicht länger in meinen Verantwortungsbereich; es gehörte jemandem, der es verdiente. Ich hatte kein Geld dafür gewollt, doch Weston hatte darauf bestanden. Frank hatte mir versichert, dass wir einen Treuhandfonds einrichten könnten. Jetzt war nur noch das Haus meiner Eltern übrig. Ich war noch nicht bereit, mich davon zu trennen.

Weston nahm mich in den Arm. »Danke, dass du das für Connor getan hast. Ich weiß, dass es schwer für dich sein muss, das alles aufzugeben.«

Es war eher eine Erleichterung, vor allem, weil ich wusste, dass das Haus nun gerettet war. »Es tut mir leid, dass du es mit Trey zu tun bekommen wirst.«

Er lachte. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich habe schon mein Leben lang mit ihm zu tun. Es ist an der Zeit, dass ihn mal jemand in die Schranken weist.«

Nachdem ich Franks Büro verlassen hatte, fuhr ich zum Haus meiner Eltern. Trotz meiner täglichen Besuche dort, hatte ich den Ort meiner Kindheit nicht richtig leer geräumt. Trauer überschattete das wohlige Gefühl einer vertrauten Umgebung. Ohne meine Familie in dem Haus zu sein tat weh – es war zu einem Mausoleum geworden.

Ich schlenderte durch das Haus, verweilte bei vertrauten Gegenständen und packte Sachen ein, die ich gern mitnehmen wollte. Ich konnte meine Eltern im Wohnzimmer beinahe sehen, wie sie gemütlich auf dem Sofa saßen und fernsahen. Ich vermisste den trockenen Humor meines Vaters und die Wärme meiner Mutter. Ich vermisste die Abendessen im Sommer im Garten hinterm Haus, die Filmabende am Freitag und die Campingausflüge im Regen. Ich vermisste das Leben, das ich gehabt hatte, bevor alles den Bach runtergegangen war.

Trotzdem war mir bewusst, dass es nicht mehr das Gleiche wäre, selbst wenn ich es wieder zurückbekommen könnte. Ich war jetzt ein anderer Mensch. Ich könnte nicht mehr in dem schützenden Kokon meines früheren Lebens existieren; ich hatte zu viel gesehen. Das Trauma hatte meine Verwandlung in Gang gesetzt.

Ich blieb auf der Schwelle zu meinem Zimmer stehen. Die schwarze Tagesdecke passte perfekt zu den Bandpostern und gerahmten Drucken von Escher und Dalí. Meine Eltern hatten meiner Kreativität stets Raum gelassen. Vielleicht hatten sie geglaubt, sie reiche als Ventil für meine rebellische Art, doch das war nicht der Fall gewesen. Meine Mom hatte sich mit mir immer wieder wegen der Piercings gestritten, die eines nach dem anderen an meiner Ohrmuschel aufgetaucht waren. Als ich ein Tattoo in Erwägung gezogen hatte, hatte ich mir einen Vortrag über mein Erscheinungsbild anhören müssen.

Als Connor ihnen zugestimmt hatte, war ich losgezogen und hatte mir trotzdem eins machen lassen. Als er sich darüber aufgeregt hatte, hatte ich mich gerächt, indem ich mir das Haar vor einer Familienfeier knallrot gefärbt hatte. Ich war daraufhin auf den Fotos nicht erwünscht gewesen, hatte mich aber trotzdem draufgeschmuggelt.

Ich hatte stets Grenzen überschritten; in meinem sozialen Umfeld galten viele meiner Interessen als inakzeptabel. Also hatte ich mich mit ihnen in meinem Studium beschäftigt.

Bis Hayden aufgetaucht war.

Ich durchquerte den Raum und ließ meine Finger über die Tagesdecke gleiten. Was hätte Hayden zu meinem Teenagerzimmer gesagt? Was hätten meine Eltern von ihm gehalten? Hätten sie es geschafft, über sein unkonventionelles Äußeres hinwegzusehen? Ich hätte es mir gewünscht.

Vielleicht hätten sie ihn für etwas Vorübergehendes gehalten, etwas zum Ausprobieren, bis ich mich schließlich anderweitig orientiert hätte. Vor dem Absturz hätte ich Hayden vielleicht als Experiment in Sachen Nonkonformismus betrachtet, doch das bezweifelte ich inzwischen. Ich hätte mich trotzdem zu ihm hingezogen gefühlt. Doch hätte ich nicht den Mut gehabt, auf diese Anziehung zu reagieren. Sein Reiz wäre von meinem Bestreben überschattet worden, jemand zu sein, der ich nicht war. Durch meinen Verlust konnte ich ihm jetzt auf eine Weise nahekommen, die sonst nicht möglich gewesen wäre. Hayden verstand meinen Wunsch nach Andersartigkeit.

Seine leise, unaufdringliche Intelligenz und seine spezielle Wahrnehmung der Welt faszinierten mich. Abgesehen davon hatten wir eine körperliche Verbindung, die über bloßes Verlangen hinausging. Von Anfang an war Sex mit Hayden transzendental gewesen. Ich hatte noch nie etwas Ähnliches erlebt.

Ich vermisste unsere körperliche Nähe. Ich vermisste, wie er schmeckte, wie sich seine Haut anfühlte, die langen Linien seines Tattoos, die seinen Körper bedeckten. Ich wollte ihn zurück – doch zuerst musste ich mich seiner würdig erweisen.

Ich ging in meinem ehemaligen Zimmer hin und her, nahm die Poster von der Wand und rollte sie zusammen, warf ein paar Kleinigkeiten, die ich nicht zurücklassen wollte, in eine Kiste und ging hinunter, um abzuschließen. Wenn ich das nächste Mal hierherkäme, wüsste ich, was ich mit dem Haus tun wollte. Je entschlossener ich meine Vergangenheit losließ, umso mehr fühlte ich mich der Zukunft gewachsen.

Auf dem Rückweg tat ich das, was ich seit meiner Rückkehr vermieden hatte. Ich hielt bei einem Gewächshaus und kaufte ein paar Weihnachtssterne. Sie würden nicht lange halten, doch ich wollte etwas Schönes hinterlassen. Als ich auf den Friedhof Hillside einbog, fühlte ich Gewissensbisse, weil ich das nicht schon früher getan hatte. Der Gedenkgottesdienst war schrecklich und aufwühlend gewesen, was dazu beigetragen hatte, dass ich den Friedhof seiher gemieden hatte.

Verstehen zu wollen, weshalb mir der Absturz so viel genommen hatte, war sinnlos. Ich hatte den Schmerz verinnerlicht und zugelassen, dass er mein Leben bestimmte, doch ich konnte so nicht weitermachen. Nicht, wenn ich wieder nach Chicago und zu Hayden zurück wollte. Ich hatte nach Arden Hills zurückkommen müssen, um endlich zu verstehen, dass die Tragödie keine Strafe für meine Verfehlungen gewesen war.

Auf dem Friedhof besuchte ich sie alle: die Freunde, die ich verloren hatte, Connors Eltern, meine eigenen. Ich verbrachte eine lange Zeit am Grab meiner Mutter und erzählte ihr von Chicago. Ich erzählte ihr, wie sehr ich meinen Betreuer hasste und dass ich mir nicht sicher sei, ob ich mit seinen unrealistischen Ansprüchen, seinen ständig wechselnden Wünschen und seinem unerwünschten Interesse an mir klarkäme. Ich erzählte ihr von meinem Job im Serendipity und den Freunden, die ich gewonnen hatte, und wie sehr sie sie gemocht hätte, auch wenn sie anders waren. Und ich erzählte ihr von dem Tattoo und dem Künstler, der meine Welt verändert hatte, und dass ich gern mit ihm zusammen sein wollte, auch wenn es mir Angst machte.

Connor hob ich mir bis zum Schluss auf. Schneeflocken wirbelten um mich herum, als ich den weißen Weihnachtstern neben seinen Grabstein stellte. Ich ließ mich in das Gras sinken, ohne auf die Nässe zu achten.

Er war so jung aus dem Leben gerissen worden. Ich fuhr an der Namensinschrift und an seinem Geburts- und Sterbedatum auf dem Grabstein entlang. Er war eine Konstante in meinem Leben gewesen; ich war mit ihm aufgewachsen. In jenem Sommer, bevor ich mit dem College angefangen hatte, hatten sich die Dinge zwischen uns verändert. Er hatte mich plötzlich anders gesehen. Mich anders behandelt.

Dass wir ein Paar wurden, hatte sich wie von selbst ergeben. Anfangs hatten wir es geheim gehalten. Die Geheimhaltung hatte einen Teil der Anziehung ausgemacht, das Versteckspiel, das leidenschaftliche Knutschen, wenn wir allein waren. Mir hatte das Rebellische daran gefallen, dass er älter war und waghalsig und dass ich solche Macht über ihn ausübte.

In der kalten Stille des Friedhofs beweinte ich mein altes Leben, erlaubte mir endlich, um Connor, unsere Familien und Freunde auf eine Weise zu trauern, wie ich es zuvor nicht getan hatte. Schuld und Schmerz strömten mit den Tränen aus mir heraus, und ein Frieden erfüllte mich, den ich so nicht kannte. Ich würde Connor immer lieben, doch er war tot. Es war Zeit, loszulassen.