Cole Gibsen

Written on my heart

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Franka Reinhart

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Cole Gibsen

© Kyle Weber

Cole Gibsen ist wie ihre Heldin Ashlyn mit 17 Jahren vor die Tür gesetzt worden. Einige Zeit lebte sie deshalb in ihrem Auto, einem alten VW Jetta, und besaß nichts weiter als ein paar Klamotten. Überlebt hat sie vor allem dank der Bücher, die sie in einsamen Nächten las und die sie dazu brachten, es selbst als Autorin zu versuchen – mit Erfolg!

 

Franka Reinhart, Jahrgang 1972, übersetzt seit über 15 Jahren Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher und Krimis für Erwachsene. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren gehören u.a. Jane Casey, Morgan Matson, Colleen McCullough und Paul Theroux.

Über das Buch

Sechs Monate ist es her, seit Ashlyn mit ansehen musste, wie alles, was sie besaß, in Flammen aufging. Sechs Monate, seit sie von ihrem gewalttätigen Stiefvater vor die Tür gesetzt wurde. Das Letzte, was sie gebrauchen kann, ist noch mehr Ärger – vor allem wenn dieser in Gestalt des Tätowierers Lane Garrett daherkommt. Denn Lane ist zwar über die Maßen attraktiv, aber der totale Bad Boy. Doch hinter seinen Tattoos und seiner ruppigen Art scheint ein Geheimnis zu stecken. Und obwohl er sich kein Stück für Ashlyn interessiert, weckt er in ihr ein leidenschaftliches Kribbeln ...

Impressum

Deutsche Erstausgabe

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2015 Cole Gibsen

Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›Written on my heart‹.

This translation published by arrangement with Entangled Publishing,

LLC through RightsMix LLC. All rights reserved.

© für die deutschsprachige Ausgabe:

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: buxdesign, München

Bild: Stocksy und Vecteezy

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43271-9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71762-5

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423432719

Kapitel 1 Ashlyn

Ein Mädchen, maximal sechzehn, steht mir an der Theke gegenüber und wickelt sich eine lange blonde Haarsträhne um den Finger. Stöhnend schaut sie an die Decke. »Mann, wie lange dauert das denn noch?«, raunt sie dem Jungen im Polohemd zu, der neben ihr steht. Aber ich weiß genau, dass ihre Worte eigentlich für mich bestimmt sind.

Ich klicke einen durchsichtigen Plastikdeckel auf ihren Becher und schiebe das Getränk zu ihr hinüber. »Bitte sehr!« Dabei zwinge ich mich zu einem freundlichen Lächeln, obwohl ich ihr am liebsten die deutlich erkennbaren Extensions von ihrem zickigen Kopf reißen würde. Leider bin ich auf diesen Job aber dringend angewiesen und kann daher nichts riskieren, was eine Kündigung nach sich ziehen könnte. »Danke für den Besuch bei Live Wire.« Und jetzt zieh Leine!

Das Mädchen verzieht empört den Mund. »Was ist das denn?«

Mit großer Mühe lächle ich sie weiterhin an. »Das ist ein fettarmer Mokka-Frappé mit doppeltem Espresso. Genau, wie du bestellt hast.«

»Oh nein. Das ist eben nicht, was ich bestellt habe« – ihr Blick wandert zu meinem Namensschild –, »Ashlyn. Ich hatte extra dazugesagt, ohne Sahne.«

Ich verknote meine Finger in der Schürze, damit ich ihr nicht aus Versehen den Hals umdrehe. Ich habe mir angewöhnt, jede Bestellung auf dem Becher zu notieren, genau so, wie es der jeweilige Kunde bestellt. Und auf ihrem verdammten Becher steht kein Wort von »ohne Sahne«.

Dem Jungen neben ihr ist das alles sichtlich unangenehm. »Ist doch kein Ding, Becca.«

Sie wirft ihm einen vernichtenden Blick zu, und obwohl er einen Kopf größer ist als sie, zuckt er zusammen. »Okay. Beim nächsten Mal werde ich meine Bestellung ganz langsam aufsagen, damit es auch der Letzte kapiert.« Sie macht eine abfällige Handbewegung in meine Richtung und dabei berühren ihre Finger den Becher. Er beginnt zu schwanken, neigt sich bedrohlich zur Seite und kippt schließlich vollständig um. Mokka-Frappé und Schlagsahne ergießen sich durch das für den Strohhalm vorgesehene Loch im gewölbten Deckel über die gesamte Theke. Sie sieht mich gleichgültig an. »Ups.«

Ich weiß nicht genau, was der Auslöser ist. Vielleicht das fehlende Bedauern in ihren Augen, ihre hartherzigen Worte oder der unaufhörlich aus dem Becher fließende Kaffee, was auch immer. Als ich jedenfalls den Blick wieder hebe und sie ansehe, hat sie sich plötzlich verwandelt. An ihrer Stelle steht mein Stiefvater vor mir. Wutentbrannt starrt er mich an und öffnet den Mund, um Gift zu versprühen – tödlicher als das einer Viper.

Panik schnürt mir den Brustkorb zu. Ich weiß schon im Voraus genau, was er sagen wird. Ständig höre ich seine Stimme in meinem Kopf flüstern. Zuerst wird er mich Dummkopf nennen, weil ich die Bestellung vermasselt habe. Dann wird er höhnen, wie ungeschickt ich bin, dass ich den Becher nicht auffangen konnte. Und zuletzt wird er mir Faulheit vorwerfen, da ich längst einen Lappen in der Hand haben sollte, um die Schweinerei aufzuwischen.

Richtig. Ich brauche einen Lappen! Mein Puls rast und dämpft alle Geräusche im Café. Ich knie mich hin und schiebe bei meiner Suche nach einem Wischlappen hektisch Serviettenpackungen und Becherstapel beiseite. Ich muss die Sauerei beseitigen. Mir bleiben nur noch Minuten, nein, Sekunden, ehe …

Eine Hand landet auf meiner Schulter und mir stockt der Atem.

»Kein Stress, Ash«, sagt eine Mädchenstimme hinter mir. »Ich mach das schon.«

Ich blinzle ein paarmal und allmählich nimmt das Café um mich herum wieder Gestalt an. Ich werfe einen Blick über meine Schulter und sehe Emily – eine Mensch gewordene, tätowierte und gepiercte Tinkerbell. Meine Kollegin platziert einen frisch zubereiteten Frappé – garantiert sahnefrei – neben dem umgekippten Getränk und lehnt sich an die Theke, während sie ihren Blick auf das Mädchen richtet. »Einen wunderschönen Tag noch«, sagt sie, obwohl ihr Tonfall eher nach dem Gegenteil klingt.

Das Mädchen kneift die Augen zusammen und will gerade etwas antworten, doch Emily beißt sich auf die gepiercte Lippe und lässt dabei das Metall leicht gegen ihre Zähne klicken. Das Mädchen weicht einen Schritt zurück, und als der Junge ihr folgen will, verpasst sie ihm einen Stoß mit dem Ellbogen und nickt in Richtung des Bechers auf der Theke.

Er nimmt ihn herunter und zwinkert Emily noch kurz zu, ehe das Mädchen ihn am Arm zum Ausgang zieht.

»Was für ’ne Zicke«, murmelt Emily und stößt sich von der Theke ab. »Ihre Eltern sollte man ja wohl öffentlich auspeitschen. Ich meine, diese Hexe hat doch wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch nie das Wort Nein gehört.«

»Ein Grund mehr, sich keine Kinder anzuschaffen«, platze ich heraus.

»Ein Grund mehr?« Sie hebt eine Augenbraue. »Hast du ein Problem mit Kids?«

»Ich kann sie nicht ausstehen«, antworte ich. »Das ganze Gejammer und Geheule immer … puh.« Ich verziehe das Gesicht. Eigentlich mag ich Kinder gern. Aber bei diesem Thema ist es für mich viel einfacher zu lügen als zu erklären, dass ich durch meine schlechten Erfahrungen zu Hause keine Ahnung habe, wie man ein Kind großzieht, ohne dass es bleibenden Schaden dabei nimmt.

Emily sieht mich noch einen Moment lang an und zuckt dann die Schultern. »Na ja, muss jeder für sich selber entscheiden.«

»Genau.« Ich richte mich auf, wische mir die Hände an der Schürze ab und versuche zu überspielen, dass mich vor fünf Sekunden fast eine Panikattacke überrollt hätte. Doch dann sehe ich den verschütteten Kaffee auf der Theke und dem Fußboden und mein Puls beschleunigt sich wieder. »Ich muss das schnell aufwischen, sonst …« Ich beiße mir auf die Zunge und sage nichts weiter.

»Ich mach das schon.« Emily schlüpft an mir vorbei und nimmt Geschirrtuch und Sprühflasche von einem Haken an der Wand. »Mach ruhig ’ne kurze Pause, wenn du willst. Geh mal vor die Tür und rauch eine oder so.«

»Ich rauche gar nicht.« Kopfschüttelnd und mit angehaltenem Atem starre ich sie an, bis sie den Becher in den Müll wirft und den Kaffee aufwischt.

»Vielleicht solltest du damit anfangen«, meint Emily, während sie Tuch und Reiniger wieder an den Haken hängt. Sie dreht sich zu mir um und verschränkt die Arme vor der Brust. »Du siehst ein bisschen … gestresst aus.«

Das war eindeutig die Untertreibung des Jahres. Aber ich kann es mir einfach nicht leisten, jemandem zu erzählen, wie dünn das Seil ist, auf dem ich tanze. Ich brauche diesen Job viel zu dringend, um ihn durch meine Macken aufs Spiel zu setzen. Deshalb sage ich lieber: »Ich kann nicht so gut schlafen.«

»Ah, noch eine schlaflose Seele.« Emily holt ihren eigenen Iced Latte unter der Theke hervor und hebt ihn wie zu einem Toast, ehe sie einen großen Schluck aus dem Strohhalm nimmt.

»Äh, ja«, bestätige ich, weil das viel unverfänglicher ist als zuzugeben, dass es eigentlich an den papierdünnen Wänden in meiner Wohnung und den zahllosen männlichen Besuchern liegt, die meine Mitbewohnerin jeden Abend empfängt. Statt also Emily mit unnötigen Informationen zu behelligen, studiere ich lieber angestrengt die Tattoos an ihren Armen. Es sind so viele, dass es mir schwerfällt, mich auf eins zu konzentrieren. In dem ganzen Durcheinander entdecke ich Waldorf und Statler, die ewigen Meckerer aus der Muppet-Show, ein mit Stacheldraht umwickeltes Herz und eine Art Espressokocher. »Die sind ja toll.«

»Ja?« Lächelnd dreht sie ihren Arm, sodass ich ihn von allen Seiten bewundern kann. »Mein Typ macht das echt super.«

»Welcher Typ?«

Sie lässt die Arme seitlich sinken. »Mein Tätowiertyp. Also nicht mein Lover oder so was, das wär ja, igitt, wie ekelhaft!«

Das kann ich nachvollziehen. Der Kerl, der mir mein erstes und einziges Tattoo gestochen hat, war glatzköpfig, wog bestimmt 150 Kilo und hätte dringend ein Deo gebraucht. Das war schon eine sehr spezielle Erfahrung.

»Okay.« Emily lehnt sich wieder an die Theke und schlägt die Beine übereinander. »Und bei dir so? Hast du auch eins zu bieten?«

»Äh …« Mist. Zu spät fällt mir ein, warum dieses Thema alles andere als unverfänglich ist. Reflexhaft verstecke ich meinen Arm hinter dem Rücken, doch sie reißt die Augen auf und ich weiß genau, dass sie es längst gesehen hat.

»Oh nein! Das darf doch nicht wahr sein!« Sie stößt sich von der Theke ab und greift nach meinem Arm, bevor ich ihn wegziehen kann. Als sie das Gesuchte in meiner Armbeuge entdeckt, stöhnt sie auf und lässt meinen Arm fallen. »Also doch! Ein Typ hat dir seinen Namen aufgedrückt!« Sie schüttelt den Kopf. »Verdammt! Das ist doch wohl Tattooregel Nummer eins und du hast sie gebrochen!«

Ich halte verlegen meine Hand über den Arm. »Ja, ja, ich weiß. War voll dämlich von mir. Ich dachte halt …« Doch ich verstumme, weil ich es nicht ertragen kann zuzugeben, dass ich eine feste Beziehung in meinem Leben für möglich hielt. Und nun ist dieser Schriftzug eine bleibende Mahnung an mich, dass ich außer mir selbst niemandem über den Weg trauen kann. So naiv werde ich nie wieder sein.

Emily schnalzt mit der Zunge. »Du kannst nicht weiter mit dem Namen von irgend ’nem Deppen rumlaufen wie ’ne Kuh mit Brandzeichen.«

Ich zucke die Schultern. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, mich drum zu kümmern.« Genauer gesagt hatte ich nicht das Geld dazu. Wenn man ein paar Monate in seinem alten Jetta wohnt, gibt es klare Prioritäten, wofür man Geld ausgeben kann – für Essen zum Beispiel.

»Dann musst du dir halt Zeit nehmen. Ich will dir ja nicht zu nahe treten.« Sie legt eine Hand auf meine Schulter und ich schaffe es nur mit Mühe und Not, mich ihrem Griff nicht zu entziehen. Sie tut mir zwar nicht weh, aber ich bin es einfach nicht gewohnt, berührt zu werden, schon gar nicht von jemandem, den ich kaum kenne. Meine Haut kribbelt unter ihren Fingern. »Aber du kommst mir so vor, als ob dir irgendwas … zu schaffen macht«, fügt Emily hinzu. »Es geht mich ja nix an, was es ist. Aber so viel ist sicher: Der Name von ’nem Kerl auf der Haut ist großer Mist, weil man ihn da jeden Tag sehen muss. Wenn er erst mal weg ist, wird’s dir gleich viel besser gehen, das kannst du mir glauben.«

Ach ja? Ich betrachte die elegant geschwungen Buchstaben und mein Magen krampft sich zusammen. Für Chris war das die ultimative Liebeserklärung. Und ich habe ihm damals geglaubt. Ich war verängstigt, einsam und habe mich verzweifelt daran geklammert, dass da jemand ist, auf den ich zählen kann. Doch das ist längst vorbei und ich trage diesen Irrtum wie einen scharlachroten Buchstaben mit mir herum. Ich reibe mit der Handfläche über das Tattoo, als ob es sich dadurch wegwischen ließe wie Filzstift. »Wär schon nett, es loszuwerden. Aber mir fehlt momentan einfach das Geld dazu …«

»Pst.« Emily winkt ab und fällt mir ins Wort: »Mach dir darüber mal keinen Kopf. Ich kümmere mich drum.«

Ich lasse meine Arme sinken. »Oh nein, das geht auf keinen Fall.«

Sie schaut mich streng an. »Klar geht das. Komm schon, Ash. Mit dem Namen vom Ex auf dem Arm rumzulaufen bringt Unglück.«

Dabei bin ich gar nicht abergläubisch. Soweit ich mich erinnern kann, war ich nie unter einer Leiter durchgelaufen, hatte keinen Spiegel fallen lassen, Salz verstreut oder sonst etwas getan, um den Tag heraufzubeschwören, an dem meine Mutter jenen Mann mit nach Hause brachte, der dann mein Stiefvater wurde. Manchmal passieren beschissene Dinge, egal ob man sie verdient hat oder nicht. Und daran kann kein Kristall, Kleeblatt oder Hufeisen etwas ändern. Das weiß ich so genau, weil ich damals, mit zehn Jahren, diese ganzen Sachen ausprobiert habe und nichts davon funktioniert hat. Alles nur Schwindel.

»Wie wär’s gleich heute Abend?«, fragt Emily und reißt mich aus meinen Gedanken. »Nach der Arbeit?«

Ich blinzle sie an und versuche herauszufinden, warum sie das macht. Normalerweise tut einem doch niemand einen Gefallen, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. »Aber das Geld … Ich weiß nicht, wann ich es dir zurückzahlen kann.«

Sie zuckt die Schultern. »Das Geld ist nicht so wichtig. Außerdem, wenn es dich beruhigt: Ich muss dafür nichts bezahlen. Der Typ ist mir noch was schuldig. Also wie sieht’s aus? Ich rufe ihn an und nach Feierabend gehen wir beide in sein Studio, damit er dir das Ding da überstechen kann« – sie zeigt auf mein Tattoo – »und danach ist dieser komische Chris endgültig Geschichte. Dann startest du noch mal ganz neu.« Sie lächelt mich an – so breit und herzlich, dass ich ihre vom Kaffee leicht verfärbten Zähne sehe.

Sie hat schon etwas Besonderes an sich. Vielleicht liegt es an ihrem ansteckenden Lächeln oder an der Hoffnung, die aus ihren Augen strahlt. Auf jeden Fall kann ich es ihr nicht abschlagen. Außerdem ist es toll, mir vorzumachen, dass mein einziges Problem darin besteht, an einem Freitagabend noch ein Tattoo zu bekommen und anschließend die passende Party zu finden. Wie eine ganz normale 21-Jährige. Wenigstens dieses eine Mal.

»Okay«, lache ich. »Deal.«

»Cool!« Sie klatscht in die Hände. »Du wirst es nicht bereuen! Wie gesagt, der Typ ist einfach der Beste! Ich ruf ihn gleich an.«

Sie holt ihr Telefon hervor und mein Blick fällt auf die Digitaluhr, die über dem abgepackten Kaffee hängt, den man bei uns kaufen kann. Es ist gleich 22 Uhr und damit beinahe Ladenschluss, aber wir haben hier noch etwa eine Dreiviertelstunde zu tun, da wir die Kassen abrechnen und die Maschinen reinigen müssen. Trotz der hellen Beleuchtung im Gastraum kriecht die Dunkelheit allmählich durch die Schaufenster herein und droht, sich drinnen breitzumachen. Nur zehn Meilen entfernt steht ein Haus in völliges Dunkel gehüllt, weil Punkt zehn sämtliche Lichter gelöscht werden und Geräusche so streng verboten sind, dass an Fernseher und Telefon die Stecker gezogen, die Kabel eingerollt und in Schubladen weggeschlossen werden.

Ich kämpfe gegen diese Erinnerung an, hole einen Stapel Becher unter der Theke hervor und stelle sie ins Regal, um das Zittern meiner Hände zu verbergen. »Heute Abend ist es wahrscheinlich schon zu spät«, sage ich. »Machen die meisten Tattooläden nicht um zehn zu?«

Emily nickt und tippt die Nummer in ihr Telefon. »Stimmt. Aber mein Typ bleibt heute extra für uns länger. Wie gesagt, ich hab noch was gut bei ihm.«

Muss ja ein ziemlich großer Gefallen sein. Trotzdem zucke ich die Schultern und staple weiter Becher. Was auch immer Emily mit dem Tätowierer laufen hat, mich geht es jedenfalls nichts an.

»Hallo!«, schreit sie förmlich in den Hörer. »Mach mal noch nicht zu. Ich komm nach der Arbeit vorbei und bring ’ne Freundin mit, die ein Cover-up braucht.« Während er am anderen Ende redet, schweigt sie. Ich kann nicht hören, was er sagt, doch Emily verzieht unwillig den Mund. »Jetzt sei mal nicht so, Lane. Du weißt genau, dass du mir noch was schuldest.« Diesmal lächelt sie. »Ich weiß. Aber du hast nicht noch was vor oder so?« Sie wartet noch einen Moment und sagt dann lachend: »Cool, du bist der Beste!« Als sie aufgelegt hat, dreht sie sich zu mir um. »Geht klar!«

Ich zwinge mich zu lächeln, obwohl meine Vorfreude nach ihrem Telefonat arg gedämpft ist. »Bist du ganz sicher? Ich meine, er war anscheinend nicht gerade begeistert.«

»Lane?« Emily verdreht die Augen, während sie zur Eingangstür geht. »Der ist nie von irgendwas begeistert. Ist ja auch echt ’ne Zumutung, dass wir ihn davon abhalten, sich ’ne krasse Autosendung in der Glotze reinzuziehen.« Sie dreht das Geöffnet-Schild um, schiebt den Riegel vor und lehnt sich gegen die Scheibe. »Mach dir keine Sorgen. Er wird’s überleben. Aber zur Sicherheit solltest du alles ignorieren, was er von sich gibt. Er kann manchmal ziemlich launisch sein.«

Ich bekomme einen Kloß im Hals. Na toll! Wieder mal ein Freitagabend in Gesellschaft eines Idioten. Der dann auch noch mit einer Nadel auf meinen Arm einsticht. »Ich weiß nicht, Emily. Vielleicht sollten wir das doch lieber lassen. Ich kann doch einfach einen Termin vereinbaren, wenn sein Laden offen ist?«

»Jetzt red mal keinen Unsinn!« Emily verschwindet hinter der Theke und drückt eine Taste an der Kasse. Daraufhin fährt die Geldschublade aus und der Tagesbon wird gedruckt. Sie lässt den Daumen über die Dollarnoten im Geldfach gleiten. »Das ist echt kein Problem. Ich meine, er hat eh nix Besseres zu tun. Und wenn er dir irgendwie blöd kommt, dann sagst du einfach, er soll die Klappe halten.«

»Ah ja.«

Sie zuckt die Schultern. »Mach ich jedenfalls immer so.«

Ich kann es mir lebhaft vorstellen. Während ich die benutzten Kaffeebecher und Untertassen von den Tischen räume und in den Geschirrkorb stelle, überlege ich, wie es wohl wäre, so zu sein wie Emily. Wie muss ihre Kindheit ausgesehen haben, dass sie derart selbstsicher und mutig ist? Bei ihr zu Hause gab es garantiert keine Vorschriften, wo sie sich aufhalten durfte, wenn ihre Eltern da waren. Und wo sie zu sitzen hatte. Was sie auf keinen Fall berühren durfte.

»Solltest du echt mal ausprobieren«, empfiehlt mir Emily, als ich an ihr vorbei zum Geschirrspüler gehe.

Ich bleibe stehen. »Was soll ich ausprobieren?«

»Jemandem sagen, dass er die Luft anhalten soll. Du musst anderen klarmachen, was Sache ist, Ash.«

Ich stütze den Korb mit dem schmutzigen Geschirr auf meiner Hüfte ab. »Einmal hab ich das gemacht«, antworte ich, ohne nachzudenken. Bisher habe ich noch niemandem erzählt, was ich in diesem Haus erlebt habe. Vielleicht liegt es daran, dass ich es endlich hinter mir gelassen habe und das Schlimmste damit vorbei ist. Oder vielleicht denke ich, dass ich Emily eine Erklärung für meinen hysterischen Anfall von vorhin schuldig bin.

»Nur ein einziges Mal?« Emily zieht amüsiert eine Augenbraue hoch. »Und? Was ist passiert? Hast du es dem Priester gebeichtet und musstest dafür ein Dutzend Ave-Maria aufsagen?«

»Knapp daneben«, antworte ich und bin selbst erstaunt über die Wahrheit. »Eine kaputte Rippe, Rauswurf von zu Hause und alle meine Sachen brannten lichterloh im Garten – das war die Quittung für diesen Versuch.«

Die Centmünzen, die Emily gerade zählt, gleiten ihr durch die Finger und klimpern zu Boden wie Regentropfen aus Kupfer. Ein paar davon rollen unter die Theke, wo wir sie niemals wiederfinden werden. In mir krampft sich alles zusammen. Ich weiß genau, dass unser Chef ausrastet, wenn die Kasse nicht exakt stimmt.

Doch Emily scheint es gar nicht zu bemerken – oder so banale Sachen wie der Kassenstand sind ihr offenbar egal. Sie öffnet den Mund, steht jedoch da wie erstarrt und sagt kein Wort, bis sie schließlich flüstert: »Meine Güte, Ash, ich …«

Ich schüttele den Kopf und falle ihr ins Wort. Ich will kein Mitleid von ihr. Das ist nicht der Grund, warum ich es ihr erzählt habe. Erst in diesem Augenblick, als die Anspannung in mir ein winziges bisschen nachlässt, wird mir der wirkliche Grund klar. Wenigstens dieses eine Mal wollte ich das Geheimnis aussprechen, das mir permanent so schmerzhaft zusetzt.

»Ist schon über ein Jahr her.« Ich rücke den Geschirrkorb auf meiner Hüfte zurecht. »Jetzt geht’s mir gut«, sage ich in hoffentlich überzeugendem Tonfall. Ich meine, streng genommen versteht man unter gut gehen nicht, dass man nur mit Mühe und Not die Miete für eine heruntergekommene Zweiraumwohnung aufbringen kann, die ich mir mit einer Stripperin teile, aber es ist definitiv ein gewaltiger Aufstieg gegenüber dem Auto, in dem ich vor einem Jahr noch schlafen musste. Und auch wenn es mir jetzt noch nicht wirklich gut geht, wird es eines Tages so weit sein. Dann werde ich eine eigene Wohnung haben und von meinen Texten leben können. Letztendlich bedeutet für Autoren Leiden immer auch Inspiration.

Bei diesem Gedanken verzieht sich mein Mund zu einem Lächeln. Ich habe immer noch Hoffnung. Sie ist das Einzige, was dieser Scheißkerl mit dem Feuer nicht niederbrennen konnte.

Emily macht schließlich den Mund wieder zu und lehnt sich an die Theke. »Weißt du, Ash, wenn du dein Selbstbewusstsein stärken willst, kannst du einfach bei mir anfangen und immer mal durchsagen, wenn ich die Klappe halten soll. Das kann ich ab und zu ganz gut gebrauchen.«

Ich grinse sie an. »Jetzt halt endlich die Klappe, Emily.«

Sie lächelt zurück. »Weißt du, was gerade passiert ist? Ich glaube, wir sind Freundinnen geworden. Und wenn du dich jetzt langsam mal um das Geschirr kümmern könntest, während ich die Kasse fertig abrechne, könnten wir uns endlich auf den Weg machen und dich tattoomäßig wieder auf Vordermann bringen.«

Mein Lächeln verschwindet. »Klingt gut«, sage ich, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Nicht dass ich keine Hoffnung hätte, aber ich weiß nur allzu genau, dass ein bisschen Tattoo-Beseitigung nichts Grundlegendes ändern wird. Doch das spreche ich nicht aus. Denn heute Abend möchte ich mich wie ein Mädchen fühlen, das mit jemandem wie Emily befreundet sein kann. Wie ein Mädchen, das freitagabends ausgeht. Wie ein Mädchen, deren Dämonen nicht tiefer sitzen als die Tattoos auf ihrer Haut.

Kapitel 2 Ashlyn

Ich folge Emily durch die Holztür mit Glaseinsatz und wir betreten das Tätowierstudio. Hinter uns fällt leise die Tür ins Schloss. Gewohnheitsmäßig strecke ich die Hand aus und drehe verstohlen am Türknauf, um sicherzugehen, dass ich nicht eingeschlossen bin. Erst nachdem ich mich vergewissert habe, lässt meine Anspannung nach.

Überall an den Wänden hängen laminierte Plakate, auf denen die verschiedensten Motive zu sehen sind – von Schmetterlingen und Rosen bis hin zu grinsenden Dämonen und verwesenden Leichen. Der schwarz-weiß geflieste Boden ist glänzend sauber und es riecht nach einer kuriosen Mischung aus Pizza und Desinfektionsmittel.

Der Pizzageruch irritiert mich zunächst, bis ich den Karton eines Lieferdienstes entdecke, der oben auf einem Glasschränkchen mit allerlei Piercingschmuck liegt. Mir knurrt der Magen, doch das scheint Emily nicht zu hören, weil aus den Lautsprecherboxen in den Zimmerecken laute Rockmusik dröhnt. Meine Güte, wie lange ist es her, seit ich das letzte Mal Pizza gegessen habe? Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Auswärts zu essen ist ein Luxus, den ich mir partout nicht leisten kann. Stattdessen ernähre ich mich hauptsächlich von Grundnahrungsmitteln wie Fertignudeln und Sandwiches mit Erdnussbutter.

Emily geht ohne Umschweife auf den Pizzakarton zu, klappt den Deckel auf und nimmt sich ein Stück heraus. Nachdem sie herzhaft hineingebissen hat, schiebt sie die Box in meine Richtung. »Willst du auch?«

Nervös schaue ich mich um. Ich weiß genau, dass ich ablehnen sollte. Sich einfach an fremdem Essen zu bedienen ist praktisch Diebstahl. Doch der Geruch von Käse und krossem Teig ist auf leeren Magen so verführerisch, dass ich einfach nicht widerstehen kann. Ich nehme mir ein Stück Salamipizza aus dem Karton und falle fast in Ohnmacht, als ich den warmen Mozzarella schmecke.

»Lane! Hey, alter Sack!«, ruft Emily mit vollem Mund. »Wir sind da!«

Über ihre Begrüßung erschrecke ich so sehr, dass ich mich verschlucke und husten muss. Während ich immer noch zu kämpfen habe, öffnet sich hinter dem Tresen ein violetter Vorhang und ein junger Mann kommt heraus.

Mir verschlägt es den Atem und ich bin mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob es an der Pizza liegt.

Der Mann ist groß und schlank. Seine Arme sind über und über farbig tätowiert. Die meisten Motive sind eher abstrakt, doch aus den verschlungenen Linien sticht ein Tattoo besonders heraus: leuchtend rot blitzt aus dem V-Ausschnitt seines weißen T-Shirts der Name Harper hervor, der auf seinem Schlüsselbein prangt. Seine dunklen Haare sehen etwas wirr aus, was möglicherweise Absicht ist. Den Bartstoppeln nach zu urteilen, hat er schon länger nicht ans Rasieren gedacht. Als er uns sieht, kneift er die Augen zusammen, die tiefbraun sind wie dunkle Schokolade. »Das ist ja wohl nicht zu fassen, Em! Erst hältst du mich vom Feierabend ab und dann klaut ihr mir auch noch das Essen?!«

Ich halte den Atem an, unterdrücke meinen Husten und lasse langsam meine Hand mit dem Pizzastück sinken. Ich fühle mich wie ein Hund, der dabei erwischt wurde, wie er Essen vom Tisch stibitzt.

»Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd, Prinzessin!« Sie schiebt ihm die Pizzabox hin. »Wir haben uns nur zwei Stücke genommen, also krieg dich wieder ein.«

Er sieht mich kurz an, runzelt die Stirn und erkundigt sich dann bei Emily: »Erstickt sie jetzt?«

Seine Frage ist natürlich idiotisch, denn akute Erstickungsgefahr würde man ganz sicher erkennen. Dann wird mir plötzlich schwindlig und mir dämmert, dass ich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr Luft geholt habe.

»Nee, passt schon«, antwortet Emily. Sie klopft mir auf den Rücken und der verklemmte Pizzabissen löst sich.

Ich hole keuchend Luft, atme ein paarmal durch und antworte: »Alles gut, kein Problem.«

»Aha.« Er zieht eine Augenbraue hoch und meine Wangen fangen an zu glühen. Er wendet sich ab, nimmt ein Stück Pizza und beißt hinein. »Ich hol mir ’ne Flasche Wasser«, kündigt er zwischen zwei Bissen an. »Wollt ihr auch eine? Ich dachte, ich frag mal, auch wenn ihr euch eh selbst bedient.«

»Na gerne doch, Lane«, zwitschert Emily und nimmt sich noch ein Stück aus dem Karton. »Wasser wär super. Wie aufmerksam von dir.«

Ich kann nur stumm nicken.

Lane schüttelt den Kopf und verschwindet hinter dem Vorhang. Als er weg ist, flüstere ich Emily zu: »Du hast doch gesagt, er wär eklig.« Ich versuche dabei, ganz locker zu wirken, obwohl mein Puls rast. »Ist er aber nicht.«

Ein verschmitztes Grinsen huscht über ihr Gesicht. »Dass er eklig ist, hab ich nie behauptet. Ich hab nur gesagt, dass er nicht mein Freund ist, weil das eklig wäre – er ist nämlich mein Bruder.«

Ihr Bruder? Jetzt erkenne ich auch die Ähnlichkeit. Beide haben ein spitzes Kinn und die gleiche Nasenform. »Wieso hast du das denn nicht gleich gesagt?«

Sie zupft eine Salamischeibe von ihrer Pizza und platziert sie auf ihrer Zunge. »Er ist der allerbeste Tätowierer im ganzen Bundesstaat, vielleicht sogar im gesamten Mittleren Westen. Aber wenn das Angehörige sagen, klingt es immer gleich unglaubwürdig.« Sie macht eine Pause und ihr Lächeln wird breiter. »Moment. Noch mal zurück. Du findest ihn also nicht eklig. Was soll das denn eigentlich heißen?«

Ich zucke zusammen. »Nichts. Ich … also, das soll gar nichts heißen.« Mein Gesicht wird knallrot. Hastig beiße ich in meine Pizza, sodass ich nicht mehr sprechen kann. Ich deute auf meinen Mund und hebe entschuldigend die Schultern.

Emily wirft einen Seitenblick zu dem Vorhang, durch den Lane verschwunden ist. »Hör mal, Ash, was Lane angeht, musst du eine Sache wissen.«

Unweigerlich überkommt mich die Neugier und ich beuge mich nach vorn.

»Du hast vorhin gesagt …« Sie schüttelt den Kopf. »Nein, vergiss es. Egal.« Sie befeuchtet ihre Lippen und senkt den Blick. Nachdenklich zieht sie wieder eine Salamischeibe von ihrer Pizza. »Also, du bist nicht die Erste, die ihn nicht eklig findet. Aber Lane ist ein Idiot. Ich darf das sagen, weil ich seine Schwester bin und ihn gernhabe. Er ist echt ein bisschen daneben. Versteh mich nicht falsch, aber ihm sind da ein paar saublöde Sachen passiert, und von daher ist es auch kein Wunder.« Sie zuckt die Schultern. »Nur falls du auf irgendwelche Ideen kommst, vergiss es lieber. Halt dich von ihm fern, Ash. Du bist echt supernett und hast selber genug Stress am Hals. Lane würde dir nur noch mehr Probleme machen.«

Ich schlucke meinen Pizzabissen herunter, der sich plötzlich schwer wie Blei anfühlt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich darüber ärgern soll, dass Emily mir nicht zutraut, dass ich auf mich selbst aufpassen kann, oder ob ich mich freue, dass sie sich die Mühe macht, mich zu warnen. Wie auch immer, es ist ja nicht so, dass ich kurz davor war, über ihn herzufallen. Natürlich sind bei mir auch Hormone im Spiel, aber ich kann mich durchaus beherrschen. Außerdem bin ich im Moment ganz bestimmt nicht auf eine Beziehung aus. Schließlich übe ich immer noch, auf eigenen Füßen zu stehen, was schon allein ein ziemlicher Seiltanz ist – ein Freund würde mich dabei nur aus dem Gleichgewicht bringen.

»Aha, dein Bruder ist also ein Idiot«, sage ich. »Ist notiert.«

Emily lächelt und entsorgt ihre Pizzakruste im Mülleimer neben dem Tresen. »Gut. Irgendwann wirst du mir dankbar sein. Außerdem ist er streng genommen schon vergeben.« Sie hebt die Hände und setzt das Wort vergeben in Anführungszeichen. Ich will gerade fragen, was sie damit meint, da kommt Lane mit den Wasserflaschen wieder durch den Vorhang.

»Hier.« Er reicht mir eine Flasche und stellt die andere neben Emily ab. »Da ihr mich um Feierabend und Abendessen bringt, will ich mal schwer hoffen, dass für mich ordentlich was dabei rausspringt.«

»Falsch.« Grinsend schraubt Emily die Flasche auf. »Du wirst das mal schön kostenlos machen.«

»Wie bitte?« Er reißt die Augen auf und schlägt mit seiner ungeöffneten Flasche gegen den Tresen. »Wieso das denn, zum Teufel?«

»Denk mal an voriges Wochenende.« Sie trinkt einen Schluck Wasser und schraubt die Flasche wieder zu. »Du schuldest mir noch was. Und diesen Gefallen möchte ich an Ashlyn weiterreichen.«

Er mustert mich wütend und ich möchte am liebsten im Boden versinken. Ich würde ihm gern erklären, dass es nicht meine Idee war, bringe jedoch kein Wort heraus. Schließlich murmle ich nur: »Ich … ich kann auch ein andermal wiederkommen.«

»Nein.« Emily springt vom Tresen herunter. »Jetzt sind wir einmal hier und du wirst das auch heute Abend erledigen.« Sie tippt ihrem Bruder mit dem ausgestreckten Zeigefinger gegen die Brust. »Du bist nämlich nicht der Einzige, dem das Leben heftig mitgespielt hat.« Sein Blick verfinstert sich, doch das scheint sie gar nicht zu bemerken. »Ash muss ganz von vorn anfangen und dazu gehört als Allererstes, den Namen von diesem Scheißkerl verschwinden zu lassen. Kannst du also bitte mal den Hintern hochkriegen und mir diesen einen Gefallen tun?«

»Okay.« Lane geht an seiner Schwester vorbei. »Aber dann schuldest du mir was.«

Er kommt auf mich zu wie ein Tiger auf Beutejagd. Zorneswellen gehen von ihm aus, die auf meiner Haut immer stärker kribbeln, je näher er kommt. Ich halte Ausschau nach einer Fluchtmöglichkeit, doch Lane versperrt den Weg zur Tür. Hilfe suchend schaue ich zu Emily – in der Hoffnung, dass sie sich einschaltet. Doch sie ignoriert mich und genehmigt sich lieber noch ein Stück Pizza.

Lane baut sich vor mir auf und streckt seine Hand aus. »Dann wollen wir mal.« Alles an ihm wirkt hart – von den Muskeln, die sich unter seinem dünnen T-Shirt abzeichnen, bis hin zu seinem unwillig verzogenen Mund. Als ich nicht reagiere, seufzt er. »Jetzt zeig schon dein Tattoo her. Ich muss ja schließlich wissen, was ich überstechen soll.«

Obwohl in mir alles nach Flucht schreit, überlasse ich ihm meinen Arm – ich weiß selbst nicht, warum. Vielleicht liegt es einfach daran, dass ich es seit jeher gewohnt bin zu tun, was man mir sagt. Denn auch wenn ich das Haus längst hinter mir gelassen habe, bin ich immer noch gefangen in dem, was ich dort durchlitten habe. Es lässt mich nicht los. Mich überkommt eine Woge ätzender Abscheu, die sich einzig und allein gegen mich selbst richtet. Dabei müsste ich doch inzwischen viel weiter sein, und stärker. Aber Lane hat mir gezeigt, dass ich auch nach all der Zeit immer noch so feige bin wie damals, als ich im Haus eingesperrt war. So verdammt schwach.

Er greift nach meinem Handgelenk und zieht mich so plötzlich zu sich heran, dass ich nach Luft schnappe. Sein Griff ist unerwartet fest und mir ist klar, dass ich keine Chance hätte, mich daraus zu befreien, selbst wenn ich es wollte. Ich sitze in der Falle. Dieser Gedanke sorgt bei mir schlagartig für Herzrasen. Er hebt meinen Arm und kommt mir dabei so nahe, dass ich sein Deo riechen kann – einen leichten Zitrusduft. Er begutachtet den in meine Haut geritzten Namen und runzelt die Stirn. »Da hat dir jemand seinen Stempel aufgedrückt, was?« Er lässt mein Handgelenk fallen. »Tolle Aktion, Cupcake.«

In mir flammt ein Funken von Zorn auf. Ich fache ihn weiter an und lasse dem Feuer seinen Lauf. Das ist immer noch besser, als Angst zu haben. »Ich hab einen Namen«, sage ich. Meine Worte sind zwar ein lächerlicher Triumph, aber das nehme ich in Kauf. Vielleicht habe ich ja tief drinnen doch noch ein Rückgrat.

»Kann sein.« Er senkt das Kinn und sieht mich an. Ein amüsiertes Grinsen umspielt seine Lippen. »Wenn du Glück hast, merk ich ihn mir sogar irgendwann.«

»Lane!«, ruft Emily mit vollem Mund. »Immer schön nett sein!«

»Schon gut, Em«, beschwichtige ich sie, ehe Lane etwas antworten kann. Ich bin froh über die Wut, die in mir flackert und meine Angst niederbrennt. Ein bisschen Rage ist mir weitaus lieber, als immer nur klein beizugeben. Und obwohl er tatsächlich ein ziemlicher Depp ist, hat seine schonungslose Offenheit doch auch etwas Erfrischendes an sich – er würde nie auf die Idee kommen, jemandem nach dem Mund zu reden.

Mit neu gewonnenem Mut straffe ich die Schultern und schaue ihm in die Augen. »Das mit der tollen Aktion musst gerade du sagen – mit ’nem Mädchennamen auf der Brust.«

Lane verschränkt die Arme. »Das ist was ganz anderes.«

»Und wieso?«, frage ich und entsorge den harten Rand meines Pizzastücks.

Er ist fast einen Kopf größer als ich und beugt sich zu mir herunter, sodass er mir immer näher kommt. Erstaunlicherweise zucke ich nicht mit der Wimper. »Das zwischen Harper und mir ist was ganz Besonderes. Was für die Ewigkeit.«

Mein Hals wird ganz trocken, aber ich lasse mich nicht einschüchtern. »Muss es wohl sein. Denn kein normales Mädchen würde dein rechthaberisches Getue aushalten.«

Emily prustet los und bricht dann in lautes Gelächter aus. »Der Punkt geht eindeutig an sie. Ash kennt dich noch nicht mal zehn Minuten und hat dich schon durchschaut.«

Doch Lane lässt sich durch meine Bemerkung nicht den Wind aus den Segeln nehmen, wie ich gehofft hatte. Stattdessen will er grinsend von Emily wissen: »Wo hast du die denn aufgegabelt, Em? Voll krass!«

Emily schlägt ihm spielerisch auf die Schulter. »Bitte, Lane. Bitte. Benimm dich nur dieses eine Mal wie ein normaler Mensch. Tu’s für mich. Für deine kleine Schwester, die du von Herzen gernhast.«

Er verzieht das Gesicht und seufzt dann theatralisch. »Von mir aus. Dann will ich mal nicht so fies sein zu deiner neuen Freundin.« Er schaut mich an und streckt mir grinsend die Hand hin. »Frieden?«

Ich ignoriere ihn. Er ist so verdammt undurchsichtig, und ich habe keine Ahnung, ob er es ernst meint oder sich nur über mich lustig macht.

Ohne abzuwarten, bis ich ihm die Hand reiche, packt er mein Handgelenk. »Also, los jetzt.« Er schiebt mich in Richtung des Vorhangs hinter dem Tresen.

»Viel Spaß«, signalisiert mir Emily in Zeichensprache. »Lane, ich will jetzt los zu Peters Party. Komm doch nach, wenn du fertig bist. Und du auch, Ash. Das wird bestimmt super und ich bin schon total gespannt auf dein neues Tattoo.«

»Gehst du schon?« Ich versuche mich aus Lanes Griff zu befreien, aber er lässt nicht locker. Mein Selbstvertrauen schwindet dahin. Wenn Emily mich jetzt im Stich lässt, bin ich ganz allein mit Lane. Schon der Gedanke daran schnürt mir die Brust zu wie ein Korsett.

»Entspann dich, Ash.« Emily lässt ihr letztes Stück Pizzarand in den Müll fallen und wischt sich die Hände ab. »Bellende Hunde beißen nicht. Das gilt auch für Lane. Man darf sein Gelaber auf keinen Fall ernst nehmen.«

Bevor ich etwas antworten kann, schiebt Lane mich durch den Vorhang, sodass sie mich nicht mehr sehen kann.

»Bis später!«, ruft Emily mir nach, ihre Stimme klingt gedämpft durch den Stoff des Vorhangs. Einen Augenblick später höre ich zweimal die Türglocke, als die Tür sich erst öffnet und dann wieder schließt.

Lane lässt meine Hand los und ich drehe mich um. In diesem Raum ist der Boden genauso schwarz-weiß gefliest wie nebenan. An den Wänden hängen ebenfalls Poster mit Tattoomotiven und Fotos von Tätowierungen, die so brillant und realistisch aussehen, als könnten sie jeden Moment zum Leben erwachen. Vermutlich sind es Beispiele seiner Arbeit und ich muss anerkennen, dass er offensichtlich Talent hat. Auch wenn er ein Idiot ist.

»Hinsetzen«, weist er mich an und zeigt auf einen großen, gepolsterten Sessel, der aussieht wie ein Zahnarztstuhl.

Noch bevor ich seine Aufforderung befolgen kann, lässt er sich auf einen Rollhocker fallen und fährt damit zu einem Schränkchen, auf dem verschiedene Instrumente und Behälter stehen. Er öffnet eine Schublade, nimmt eine eingeschweißte Nadel heraus und legt sie vor sich ab. Als Nächstes holt er Desinfektionsmittel, ein Fläschchen Farbe und eine Box mit schwarzen Latexhandschuhen und ordnet alles sorgfältig auf der Ablage vor sich.

Das ist meine Chance, denke ich, als ich ihn bei seinen Vorbereitungen beobachte. Es wäre kein Problem, einen Fluchtversuch zu riskieren, während er abgelenkt ist. Als ob er meine Gedanken lesen könnte, rollt er mit dem Hocker herum.

»Hinsetzen«, wiederholt er.

Ich muss schlucken, gehe aber auf den Stuhl zu und hasse mich mit jedem Schritt ein bisschen mehr. Also, natürlich will ich das Tattoo loswerden, aber es ist schwer auszuhalten, dass ich dafür meine Selbstachtung aufgeben muss. »Ich bin kein Hund«, murmle ich.

»Oh, ich bitte um Verzeihung«, antwortet Lane und macht eine übertriebene Armbewegung. »Würden Sie, verehrteste Prinzessin, die Güte besitzen, Platz zu nehmen?Selbstverständlich sind Sie es gewohnt, auf einem Thron zu sitzen, aber vielleicht wären Sie geneigt, nur dieses einzige Mal eine Ausnahme zu machen.«

Stirnrunzelnd lasse ich mich auf dem Stuhl nieder. »Es würde uns beiden das Leben wesentlich leichter machen, wenn du mal aufhören könntest, dich derart idiotisch zu benehmen.«

»Tut mir leid, Cupcake.« Er dreht sich zurück zu seinem Arbeitsplatz und sortiert weiter seine Gerätschaften. Nach einer Weile wirft er mir einen Schulterblick zu und ich sehe ein verschlagenes Grinsen in seinem Gesicht. »Wer hat gesagt, dass ich es gern leicht habe?«

Kapitel 3 Lane

Das Mädchen schaut mich vom Tätowierstuhl aus an, sagt aber nichts. Gut. Mir ist sowieso nicht nach Reden zumute. Je schneller ich mit ihr fertig bin, desto besser. Da meine Warteliste für Tattoos und Cover-ups inzwischen mehrere Monate lang ist, kommt es mir fast vor, als ob ich hier im Studio wohne und zu Hause nur noch Gast bin.

Aber es könnte schlimmer sein. Ja, ich muss megaviel arbeiten, verdiene aber irrsinnig gut dabei. Und genau das zählt doch am Ende – dass ich Harper und mir ein gutes Leben ermöglichen kann.

Ich greife nach dem Handgelenk des Mädchens und drehe es um, damit ich das Tattoo sehen kann. Als ich sie berühre, wird ihr Arm ganz starr. Sie hat Angst, aber das ist nichts Neues für mich. Die meisten Leute fangen an zu schwitzen, sobald ihr Hintern auf meinem Stuhl landet. Ich beuge mich vor und schaue mir ihr Tattoo genauer an. Es sieht nicht gerade professionell aus. Sacht streiche ich mit dem Finger über den geschwungenen Namenszug. Sie holt tief Luft.

Ich lasse ihren Arm los. »Ziemlich vernarbt. Von wem auch immer das stammt, er hat zu tief gestochen. Dürfte verdammt wehgetan haben.«

Sie zuckt die Schultern und mehrere dunkle Locken fallen ihr ins Gesicht. »Weiß ich nicht mehr so genau«, antwortet sie.

Ich runzle die Stirn. Für Dummschwätzer habe ich echt keine Nerven. Eigentlich habe ich ja für niemanden Nerven, aber wenn Leute in mein Studio kommen, sich auf meinen Stuhl setzen und so tun, als ob sie gegen Schmerzen immun wären, geht mir das wirklich auf den Geist. Denn meistens sind sie die Ersten, die umkippen oder mir die Bude vollkotzen. »Cupcake, das ist so dermaßen vernarbt, das muss einfach wehgetan haben.«

Sie blinzelt mich nur mit ihren irre großen blauen Augen an.

»Okay.« Ich winke ab. »Ich will damit nur sagen, dass es durch das Narbengewebe ein bisschen heikel ist.«

Sie macht ein entsetztes Gesicht. »Dann geht es also nicht?«

Diesmal muss ich lachen. »Bisher hab ich noch jedes Tattoo hinbekommen. Ich meine nur, dass es heikel ist, mehr nicht.«

»Ach so.« Sie schaut kurz auf ihren Arm und wendet dann angewidert den Blick ab. Wer auch immer dieser Chris ist, für sie ist er definitiv gestorben.

»Was soll ich denn draus machen?«, erkundige ich mich.

»Ähm …« Sie beißt sich auf die Lippe. »Weiß ich gar nicht so genau.«

»Wie jetzt? Willst du mich verarschen?« Als sie mir eine Antwort schuldig bleibt, fahre ich mir genervt durch die Haare und ziehe an den Wurzeln in der Hoffnung, dass die Anspannung dann nachlässt, die sich gerade in meinem Kopf breitmacht. »Ist ja wohl echt nicht zu fassen«, murmle ich. »Dass ihr mich zu Überstunden zwingt, okay. Aber wenn ich jetzt auch noch meine Zeit verschwenden muss, weil du nicht weißt, was du willst, ist das ein bisschen viel. Geht’s vielleicht noch nerviger?«

Das Mädchen versinkt im Stuhl. »Es … es tut mir leid. Deine Schwester hat mich damit so überrumpelt, dass ich noch gar nicht darüber nachdenken konnte. Mach doch einfach …« – sie schaut sich um und zeigt dann auf ein Poster an der Wand – »… ’nen Schmetterling draus. Das wär doch hübsch.«

Vielleicht liegt es an meiner Erschöpfung nach zwölf Stunden Arbeit. Oder daran, dass es schon auf Mitternacht zugeht. Vielleicht ist es aber auch einfach nur das Wissen, dass es meine Schwester gerade auf einer Party am anderen Ende der Stadt krachen lässt. Aus welchem Grund auch immer, bei mir hakt jedenfalls etwas aus.

Ich verschränke die Arme, damit ich das Mädchen nicht packe und durchschüttle. »Also erstens, meine Tattoos sind nicht einfach nur hübsch. Denk von mir, was du willst, aber ich bin Künstler und hübsch ist für mich uninteressant. Zweitens, mach nicht so auf Tussi. In manchen Ländern sind Tattoos ein Initiationsritual – etwas, das man sich verdienen muss – und nicht nur ein netter Hingucker für die Bikinifigur. Wenn du dir einfach ein hirnloses Bildchen von irgend ’nem Plakat aussuchen willst, wie es Tausende andere Mädels als Arschgeweih mit sich rumtragen, dann kannst du gleich wieder gehen. Damit will ich garantiert nicht meine Zeit verschwenden.«

Sie reißt die Augen auf. »Aber …«

»Aber«, wiederhole ich und falle ihr ins Wort, »wenn du nicht hergekommen bist, um einen Fehler durch einen anderen Fehler zu ersetzen, wenn du wirklich ein Motiv willst, das Sinn hat und etwas über dich aussagt, dann kannst du auf meinem Stuhl sitzen bleiben. Also, wie sieht’s aus, Cupcake?«

Sie kneift die Augen zusammen und ballt ihre schmalen Finger zu Fäusten. »Ich will das Tattoo.«

»Dann beweis es mir.« Ich rolle mit dem Hocker zu ihr hinüber. Sie riecht nach Kaffee und Äpfeln – merkwürdige Kombi, passt aber. »Welches Initiationsritual hast du bestanden? Was unterscheidet dich von den Tausenden Girlies, die bei mir auftauchen und ’nen Schlampenstempel wollen?«

»Ich …« Sie verstummt. Sie schaut hinunter auf ihre verschränkten Hände in ihrem Schoß. Und als ich gerade denke, dass der ganze Abend vertane Zeit war und ich sie vor die Tür setzen will, hebt sie den Kopf. »Ich will meine Gedichte veröffentlichen«, sagt sie. »Ich … ich hab schon fast genug für ein ganzes Buch zusammen.« Sie schaut mich erwartungsvoll an, als ob sie auf meine Bestätigung wartet. Aber darum geht es mir nicht. Ich bewerte nicht die Leistungen von anderen, sondern erzähle ihre Geschichten, mit Farbe und Blut.

»Okay. Das ist doch schon mal was.« Ich fahre mit meinem Hocker zurück zu meinem Arbeitsplatz, wo ich einen schwarzen Edding und einen Zeichenblock aus der Schublade hole. Mit den Zähnen ziehe ich die Kappe vom Stift. »Also vielleicht ein Buch?« Ich fange an, eine grobe Skizze zu entwerfen. »Aufgeschlagen und die Seiten bilden einen Halbkreis …«

»Nein«, schneidet sie mir das Wort ab.

Ich spucke die Stiftkappe auf meine Arbeitsfläche. »Nein?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich will eine Schreibmaschine. Eine ganz altmodische. Meine Großmutter hatte so eine, als Kind hab ich gern damit gespielt und mir die Finger am Farbband beschmiert.«

Unweigerlich muss ich lächeln. »Na das klingt doch mal nach ’nem sinnvollen Tattoo.«