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Buch

Als in einem Waldstück die Leiche einer kürzlich ermordeten jungen Frau gefunden wird, stehen die Polizei und die Angehörigen vor einem Rätsel. Denn die Frau galt seit sechs Jahren als spurlos verschwunden. Erst ein weiteres Verbrechen führt zu neuen Ansatzpunkten und zu einer Frau, die noch nicht ahnt, dass sie das nächste Opfer sein könnte.

Autorin

Charlotte Link, geboren in Frankfurt/Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre Kriminalromane sind internationale Bestseller, auch »Die Entscheidung« und zuletzt »Die Suche« eroberten wieder auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste. Allein in Deutschland wurden bislang über 30 Millionen Bücher von Charlotte Link verkauft; ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt/Main.

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Charlotte Link

Der Verehrer

Kriminalroman

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Copyright © 1998 by Wilhelm Goldmann Verlag,
© 2011 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: www.buerosued.de
Covermotiv: mauritius images/Jürgen Feuerer/Alamy; www.buerosued.de

NG · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-13810-3
V006

www.blanvalet.de

ERSTER TEIL

Es war ein wundervolles Spiel, sich von ihm durch den Wald jagen zu lassen. Irgendwann im letzten Sommer hatten sie es entdeckt. Ein heißer, sonniger Tag, sie erinnerte sich, aber im Wald war es angenehm schattig und viel kühler als auf dem Feld gewesen.

»Fang mich doch!«, hatte sie plötzlich gesagt, ihre Hand aus seiner gelöst und war davongerannt.

Er hatte gewartet, bis ihr Vorsprung groß genug gewesen war, um die Sache spannend zu machen. Ja, er hatte gewartet, bis sie aus seinem Blick verschwunden war. Sie war über Gräben gesprungen, durch Gebüsche gekrochen, hatte Haken geschlagen wie ein Hase, um ihn über ihre Richtung zu täuschen. Die ganze Zeit über hatte sie gedacht: Albern, ich bin fast fünfzig Jahre alt, er ist schon über fünfzig, und wir rennen hier herum wie Kinder, die Verstecken oder Fangen spielen …

Ihr war ganz heiß geworden bei der Vorstellung, ihre beiden erwachsenen Söhne könnten sie jetzt sehen. Doch dann hatte sie sich gesagt, dass die Besonderheit des Spiels darin bestand, dass niemand sie sah. Die Söhne nicht, die Nachbarn nicht. Sie waren allein in der Tiefe und Stille des Waldes.

Irgendwann war sie ihm direkt in die Arme gelaufen. Er hatte sie ausgetrickst, hatte plötzlich vor einer Schonung junger Tannen gestanden, durch die sie gekrochen kam, die Haare voller Tannennadeln, die Kleidung voller Laub und Erde. Sie war wirklich erschrocken; er behauptete später, sie habe aufgeschrien, aber davon wusste sie nichts mehr. Entscheidend war, was dann geschehen war. Sie hatten sich auf dem Waldboden geliebt, inmitten der kleinen Tannen, sie beide in ihrem fortgeschrittenen Alter, mit zwei erwachsenen Kindern, einem eigenen Häuschen, einem Dackel, einer Einbauküche und einer brandneuen Wildleder-Sofagarnitur. Er hatte ziemlich viel Bauch und mähte im Sommer an jedem zweiten Samstag den Rasen, und sie hatte zu dicke Oberschenkel und wünschte sich sehnlichst ein Enkelkind. Niemand, der sie kannte, hätte von ihnen geglaubt, dass sie irgendwelcher Verrücktheiten fähig wären. Sie waren spießig, aber sie hatten sich in ihrer Spießigkeit gut eingerichtet und waren glücklich damit. Nur manchmal …

Heute war wieder so ein Tag. Ein warmer Frühsommertag. »Fang mich doch«, hatte sie auch diesmal gesagt, und er hatte geantwortet: »Es ist viel zu warm …« Aber da war sie schon losgelaufen, eigensinnig wie ein Kind, das sich sein Lieblingsspiel von niemandem verderben lassen will.

Sie konnte ihn nirgendwo sehen oder hören. Sie blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn, lauschte. Nichts. Keine Schritte, kein Rascheln. Als sei sie allein auf der Welt. Hatte sie ihn wirklich abgehängt? Oder lauerte er ganz in der Nähe, verbarg sich hinter einem Gebüsch, wartete auf den geeigneten Moment, hervorzuspringen und ihr einen Riesenschrecken einzujagen?

Es war ihr auf einmal eigenartig flau im Magen. Sie hatte keine Ahnung, warum. Wenn er plötzlich auftauchte, wäre das gruselig, aber es wäre ein eher angenehmes Gruseln. Nie hatte sie sich wirklich gefürchtet. Diesmal aber war es etwas wie Furcht, was sie verspürte. Trotz der Sonnenstrahlen, die durch die Laubdächer der Bäume fielen, trotz des Vogelgezwitschers und des Geplätschers eines kleinen Baches in der Nähe verströmte der Wald eine Ahnung von etwas Schrecklichem. Sie kam sich idiotisch vor, aber sie hatte den Eindruck, eine ungute Witterung aufgenommen zu haben, wie ein Tier, das die Gefahr spürt, noch ehe sie sich zeigt. Sie kam sich allein vor und doch nicht allein.

Halblaut rief sie seinen Namen. Keine Antwort. Das Vogelgezwitscher verstummte für einen Moment, setzte dann um so lauter wieder ein. Auf einmal war die Angst da, jäh und pulsierend. Sie drehte sich um und rannte fast, versuchte den Rückweg zu finden, und konnte doch nichts Vertrautes entdecken. War sie an dieser Baumgruppe vorbeigekommen? Sie konnte sich nicht erinnern, einen Ameisenhaufen gesehen zu haben.

Sie rief seinen Namen erneut, lauter jetzt, und nun lag Panik in ihrer Stimme. Machte er sich einen Spaß daraus, ihr nicht zu antworten? Er war ganz in ihrer Nähe, sie spürte, dass da jemand war … In ihre Angst mischte sich Zorn. Er ging zu weit. Er musste merken, dass jetzt ernsthaft etwas nicht mehr stimmte mit ihr. Das Spiel war aus, vorbei. Sie bildete sich nicht länger ein, ein Teenager zu sein, der verliebt und glücklich im Wald herumtollte. Sie war eine fast fünfzigjährige Frau mit dicken Beinen. Eine Frau, die Angst hatte.

Als sie die Gestalt an dem Baum bemerkte, begriff sie nicht sofort, was sie sah. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie an. Es war, als weigere sich ihr Gehirn, das Bild umzusetzen. Sie dachte zunächst nur: Ich wusste doch, dass jemand in der Nähe ist.

Und dann, im nächsten Moment, vermochte ihr Verstand sich nicht länger zu sperren gegen das, was ihre Augen sahen. Die Gestalt war eine junge Frau. Und sie stand deshalb so eigenartig dicht an dem Baum, weil sie an seinen Stamm gefesselt war. Sie stand aufrecht, nur ihr Kopf fiel nach vorn auf die Brust. Die Kleidung hing ihr in Fetzen vom Leib, und überall war Blut. Auf ihr, neben ihr, vor ihr. Man hatte sie an den Baum gebunden und dann regelrecht abgeschlachtet, und man hatte sie dort zurückgelassen wie eine groteske Vogelscheuche, die dem Wald für alle Zeit seine Unschuld, seinen Frieden und seine geheimen Spiele nahm. Das Blut der jungen Frau vernichtete jede Illusion, die Welt könne gut, das Leben leicht sein.

Der Anblick des Blutes brannte sich für immer in ihr Gedächtnis. Sie meinte es auf ihrer Haut zu spüren, so als sei sie bespritzt worden damit.

Sie stand nur da und konnte keinen Laut hervorbringen.

Kapitel 1

1

Als sie erwachte, herrschte noch Dunkelheit jenseits des Fensters. Ein sanfter Nachtwind strich ins Zimmer, vermochte aber nicht die dumpfe Schwüle zu vertreiben, die noch vom Tag darin lastete. Frankfurt ächzte unter einer Hitzewelle. Über dreißig Grad im Schatten, Tag für Tag, seit fast drei Wochen. Die asphaltierten Straßen, die Häuser sogen die Hitze auf und gaben sie unerbittlich zurück. Die Menschen hatten über den kalten Winter gestöhnt und über den nassen Frühling. Nun beklagten sie den heißen Sommer. Waren die Menschen undankbar? Oder hatte das Klima der verschiedenen Jahreszeiten tatsächlich jegliche Ausgewogenheit verloren, präsentierte es sich nur noch in schwer erträglichen Extremen?

Sie hatte nicht in das allgemeine Gejammere einstimmen wollen, aber nun dachte Leona doch: Es ist zu heiß, um zu schlafen. Und wusste gleichzeitig, dass es nicht die Hitze gewesen war, was sie geweckt hatte.

Vergeblich versuchte sie, auf ihrer Armbanduhr, die sie auch nachts am Handgelenk trug, die Zeit zu erkennen. Schließlich knipste sie die Nachttischlampe an. Drei Uhr. Obwohl sie das Licht sofort wieder ausschaltete, hatte das sekundenlange Aufflammen von Helligkeit ausgereicht, Wolfgang zu wecken.

»Kannst du schon wieder nicht schlafen?«, fragte er mit jenem Anflug von Gereiztheit, der sich erst seit kurzem in seine Stimme eingeschlichen hatte und sich immer auf Leona bezog.

»Es ist so heiß.«

»Das hat dir doch noch nie etwas ausgemacht«, sagte er müde. Er wusste auch, dass es nicht an der Hitze lag.

»Ich glaube, ich habe wieder geträumt«, gestand Leona. Sie hatte längst begriffen, dass sie Wolfgang inzwischen auf die Nerven ging.

Er schien hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, einfach weiterzuschlafen und Leonas Psychose – wie er ihre Probleme insgeheim nannte – zu ignorieren, und dem Gefühl, zum Zuhören und Trösten verpflichtet zu sein. Sein Pflichtbewusstsein siegte, auch wenn er sich selbst im Stillen dafür verfluchte. Er hatte einen harten Tag hinter sich, einen ebenso harten vor sich. Die drückende Schwüle machte ihm zu schaffen, und zudem hatte er eine Menge Sorgen, von denen niemand etwas ahnte. Er hätte seinen Schlaf gebraucht.

Er seufzte. »Leona, meinst du nicht, du steigerst dich da in etwas hinein? Ich habe den Eindruck, du kreist ständig um diese … Sache. Du grübelst zu viel, und diese Grübelei setzt sich natürlich nachts in Träume um. Du musst dagegen angehen.«

»Denkst du, das versuche ich nicht? Ich bemühe mich ständig, mich abzulenken. Mit Arbeit, mit Sport, mit Gesprächen über Gott und die Welt. Ich setze mich bestimmt nicht hin und überlasse mich meinen trüben Gedanken.«

»Dann dürftest du nicht ständig diese Träume haben.«

Sie spürte Vorboten jener heftigen Wut, die stets in ihr emporkroch, wenn Wolfgang mit seinen Standardrichtlinien zur Bewältigung von Problemen anrückte. Wolfgang hatte unverrückbare Prinzipien, was Sorgen, Ängste, psychische Konfusionen anging. »Wenn du dieses oder jenes tust, dürfte dieses oder jenes nicht geschehen!« – »Wenn du dieses oder jenes nicht tust, müsste dieses oder jenes passieren.«

Wolfgang würde nie den Gedanken akzeptieren, dass sich das Leben einmal nicht nach den von ihm entwickelten Regeln richten könnte. Wenn die Dinge nicht so funktionierten, wie von ihm postuliert, dann lag die Schuld bei der Person, die eben irgendetwas falsch machte.

»Verdammt, Wolfgang, mach es dir doch nicht immer so leicht! Ich versuche, dagegen anzugehen, aber es gelingt nicht. Vielleicht brauche ich mehr Zeit.«

»Das alles ist einfach eine Frage des Willens«, sagte Wolfgang und unterdrückte ein Gähnen. Bei ihm war alles immer eine Frage des Willens. Er hätte die Vorstellung nicht ertragen, dass es Bereiche im Leben geben könnte, die nicht durch bloße Willensanstrengung beeinflussbar waren. Für Wolfgang gab es die Begriffe Schicksal und Fügung nicht, ebenso wenig wie Zufall oder Vorsehung. Vielleicht hatte er recht. Leona war weit davon entfernt, sich in esoterischem Gedankengut zu verstricken; sie war Rationalistin, wenngleich sie sich neben Wolfgang stets wie eine weltfremde Träumerin vorkam. Aber die Vorstellung von einer Macht jenseits dessen, was die Menschen begreifen und beherrschen konnten, existierte durchaus in ihrem Leben. Anders hätte sie es nicht ertragen. Wolfgang warf ihr immer vor, dies habe mit einem Mangel an Verantwortungsbereitschaft zu tun.

»Das Schicksal bemühen nur die Menschen, die einen Teil der Verantwortung, die sie für ihr Tun und Lassen tragen, an eine andere, irgendwo jenseits weltlicher Begriffe angesiedelte Instanz abgeben wollen. Es ist der Versuch einer schlichten Lastenumverteilung, läuft aber letzten Endes darauf hinaus, dass man sich gründlich in die eigene Tasche lügt.«

Leona fand es schwierig dagegenzuargumentieren, zumal sie durchaus bereit war zu akzeptieren, dass er recht hatte, was die Motive der Menschen hinsichtlich ihrer Schicksalsgläubigkeit anging. Nach ihrem Verständnis schloss dies jedoch das tatsächliche Vorhandensein einer aus der Ferne regierenden Macht nicht aus.

Sie starrte in die Dunkelheit und fragte sich, ob es einen tieferen Sinn hatte, dass gerade sie hatte vorbeikommen müssen, als die junge Frau ihrem Leben ein Ende hatte setzen wollen und aus dem Fenster gesprungen war. Normalerweise wäre sie um die betreffende Uhrzeit – um halb zwölf am Mittag – gar nicht durch die Straßen gegangen, hätte längst an ihrem Schreibtisch im Verlag gesessen. Ein Zahnarzttermin hatte sie jedoch an jenem Vormittag aufgehalten, und auch der hatte sich noch verzögert, weil ein akuter Notfall den Praxisbetrieb durcheinandergebracht hatte. Nur so hatte es geschehen können, dass sie genau zum Zeitpunkt des Unglücks die Straße entlanggehastet kam, entnervt vom langen Warten, die linke Gesichtshälfte noch betäubt von der Spritze, um die sie vorsorglich gebeten hatte. Es war sehr warm gewesen, und sie hatte sich klebrig und verschwitzt gefühlt und den dringenden Wunsch verspürt, nach Hause zu gehen, zu duschen und sich dann mit einem eiskalten Orangensaft und einem Buch in den Garten zu setzen. Sie hatte sich elend gefühlt und ein bisschen weinerlich.

Sie begriff zuerst nicht, was vor sich ging. Später versuchte die Polizei vergeblich, aus ihr herauszubekommen, wie das gewesen war, als die Frau sprang. War unter Umständen eine zweite Person hinter ihr erkennbar gewesen – oder der Schatten einer Person? Hatte es ausgesehen, als springe sie von selbst oder als werde sie gestoßen? Aber Leona konnte darauf nicht antworten, denn sie hatte es nicht gesehen. Sie war in Gedanken versunken gewesen, mit ihrem Zahn beschäftigt, mit dem ekelhaften, wattigen Betäubungsgefühl. Und mit bestimmten Sorgen, die sie seit einiger Zeit quälten, über die sie aber mit niemandem sprechen wollte.

Sie hatte erst etwas bemerkt, als die Frau bereits fiel. Genau genommen hatte sie sie gar nicht sofort als Menschen identifiziert. Ein großer Gegenstand fiel aus dem im wahrsten Sinne des Wortes heiteren, nämlich wolkenlos sonnigen Himmel und kam mit einem hässlichen Klatschen nur wenige Meter vor Leona auf dem Bürgersteig auf.

Sie stand da, geschockt, ungläubig, denn nach zwei oder drei Sekunden hatte sie begriffen, dass es ein Mensch war. Eine Frau. Sie trug ein grüngeblümtes Sommerkleid aus Baumwolle und an den Füßen weiße Sandalen. Sie hatte schulterlange, dunkelblonde Haare. Sie lag auf dem heißen Asphalt in der Sonne wie irgendein achtlos weggeworfener Gegenstand, ein unförmiges Stück Müll, das jemand im Vorbeifahren aus dem Auto gekippt hatte. Ihre Arme und Beine standen in eigenartigen Winkeln vom Rumpf ab.

Leona hätte später nicht zu sagen gewusst, wie lange sie einfach nur angewurzelt dastand und das Szenario betrachtete. Ihr kam es vor, als vergehe eine Ewigkeit, in der alles um sie herum – die im leisen Wind schaukelnden Blätter, eine Katze, die die Straße überquerte, ein Vogel, der von einem Zaunpfosten zum nächsten hüpfte – Zeitlupentempo annahm und in der die Geräusche des jenseits des Wohnviertels dahinflutenden Großstadtverkehrs hinter einer lärmschluckenden Glaswand verschwanden.

Erst als sie die Frau leise stöhnen hörte, erwachte sie aus ihrer Betäubung, lief zu ihr hin und kniete neben ihr nieder.

»Mein Gott, was ist denn passiert?«, hörte sie sich rufen. »Kann ich Ihnen helfen?«

Was für eine idiotische Frage, dachte sie gleich darauf.

Die Frau hatte die Augen geöffnet. Sie hatte ein schönes Gesicht; selbst in dieser Situation fiel das noch auf. Nirgendwo war Blut zu sehen, aber nach Lage ihrer Gliedmaßen musste sie sich nahezu jeden Knochen im Körper gebrochen haben. Sie war blasser, als es Leona je bei irgendeinem Menschen gesehen hatte.

»Nun hat er es endlich geschafft«, sagte sie, und ihre Stimme klang zwar leise, war aber deutlich und klar zu verstehen. Sie wiederholte: »Nun hat er es geschafft.« Und sah Leona an.

»Wer hat es geschafft? Von wem sprechen Sie?«

Die Frau erwiderte nichts mehr. Ihre Augen verdrehten sich plötzlich. Im nächsten Moment verlor sie das Bewusstsein.

Leona kam zum ersten Mal auf die Idee, nach oben zu blicken und herauszufinden, von wo die Fremde überhaupt gefallen war. Sie befanden sich direkt vor einem Neubau, einem sechsstöckigen Appartementhaus, hineingebaut in einen alten, schattigen Garten, in dem früher eine Sandsteinvilla gestanden hatte, die abgerissen worden war, um eine Vielzahl von Menschen auf möglichst kleinem Raum zusammenzupferchen und dabei eine Menge Geld herauszuschlagen. Sie machten das jetzt überall im Viertel so und beraubten es auf diese Weise nach und nach seines ursprünglichen Charmes.

Das Haus war dicht an die Straße herangebaut, zwei Schritte trennten die Haustür vom Gehsteig. Im obersten Stockwerk stand ein Fenster sperrangelweit offen. Leona zweifelte nicht daran, dass die Frau von dort herausgesprungen war.

»Bewegen Sie sich nicht«, sagte sie überflüssigerweise, denn die Frau war noch ohnmächtig. »Ich werde Hilfe holen.«

In einiger Entfernung entdeckte sie einen Rentner, der seinen Cockerspaniel spazieren führte. Er war stehen geblieben und starrte herüber, aber seine Miene verriet, dass er entweder nicht richtig sah oder nicht begriff, was geschehen war.

Sie winkte ihm hektisch zu, er solle herkommen, aber er blieb stehen und glotzte. Sie sprang auf und lief zu ihm hinüber.

»Die Frau dort ist aus dem Fenster gesprungen!«, rief sie. »Wohnen Sie hier? Können Sie den Rettungsdienst anrufen?«

Er starrte sie an. »Aus dem Fenster gesprungen?«

»Ja! Wir brauchen sofort einen Notarzt.«

»Sie können bei mir telefonieren«, bot er an, »ich wohne gleich dort.« Er wies auf eine behäbige Villa, nur wenige Meter entfernt, aber es schien Leona eine Ewigkeit zu dauern, bis er sich auch nur umgedreht hatte, und die schwerfälligen Schritte, mit denen er lostappte, ließen sie beinahe die Nerven verlieren. Aber so panisch sie auch ihre Augen umherschweifen ließ, nirgends konnte sie eine Telefonzelle entdecken. Immer wieder sah sie zu der Frau hinüber. Sie rührte sich nicht.

Der alte Mann kramte in seinen Hosentaschen nach dem Haustürschlüssel, ohne fündig zu werden, und der Hund fiepte. Leona vibrierte vor Ungeduld. Sie sah eine ältere Frau im Jogginganzug auf die Straße laufen. »Ich habe alles gesehen!«, rief sie. »Ich habe den Notarzt angerufen!«

»Gott sei Dank«, sagte Leona und ließ den Alten stehen.

Die nächsten zwei Stunden waren ein Chaos aus Ärzten und Polizisten, aus Menschenauflauf und Straßensperre, aus Fragen, Mutmaßungen, neugierigen Blicken und gewisperten Geschichten. Leona stand im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, denn auf geheimnisvolle Weise hatte es sich sofort allseits herumgesprochen, dass sie Zeugin des Geschehens, erste Person am Unglücksort gewesen war. Aus allen Häusern waren inzwischen die Menschen herbeigeströmt, und auch Schulkinder, die sich jetzt auf dem Heimweg befanden, blieben stehen. Die Verunglückte war längst abtransportiert worden. Leona saß auf den Stufen vor dem Haus. Irgendjemand hatte ihr einen Becher Kaffee gebracht, an dem sie sich dankbar festhielt. Sie hatte einem Polizisten erzählt, was geschehen war, soweit sie es mitbekommen hatte, und er hatte sie gebeten, sich noch zur Verfügung zu halten. Der Arzt hatte sie gefragt, ob sie etwas brauche, doch sie hatte den Kopf geschüttelt und gesagt, sie sei in Ordnung.

Vielleicht war sie das aber gar nicht. Irgendetwas in ihr weigerte sich noch immer, wirklich zu begreifen, was sie gesehen hatte. Jedes Mal wenn das Bild der auf der Straße liegenden Frau in ihr aufsteigen wollte, wenn der Gedanke an die grotesk verrenkten Gliedmaßen in ihr erwachte, sandte ihr Gehirn den Befehl aus, augenblicklich etwas anderes zu sehen, etwas anderes zu denken. Es war ihr nicht bewusst, dass sie selbst an diesem Vorgang des Verdrängens beteiligt sein könnte. Etwas arbeitete in ihr, das sich ihrem Einfluss entzog. Irgendwann, während sie so dasaß und intensiv registrierte, wie ihre betäubte Gesichtshälfte wieder erwachte, kam ihr der Gedanke, sie könne einen Schock haben. Vielleicht hätte sie mit ins Krankenhaus fahren sollen. Es schien ihr jedoch jetzt zu spät dafür, und so blieb sie einfach sitzen und blinzelte in die Sonne.

»Möchten Sie noch etwas Kaffee?«, fragte eine freundliche Stimme hinter ihr.

Leona wandte sich um und sah eine ältere Frau, die eine Thermoskanne in der Hand hielt. Offensichtlich war sie es gewesen, die ihr vorhin den Becher in die Hand gedrückt hatte. Sie sah elend und geschockt aus.

»Das wäre nett«, sagte Leona dankbar.

Die Frau schenkte ihr Kaffee nach. »Sie sehen ja furchtbar blass aus! Es muss schlimm für Sie gewesen sein. Die arme, arme Eva! Ich kann es überhaupt nicht fassen!« In ihrer Stimme klangen Tränen.

»Eva?«, fragte Leona. »Hieß sie so?« Sie verbesserte sich sofort: »Heißt sie so?«

»Eva Fabiani. Wir sind eng befreundet, wissen Sie. Ich wohne in der Wohnung direkt unter ihr. Aber ich habe nichts mitbekommen. Ich war auf meinem Balkon draußen, und der geht nach der anderen Seite hinaus.«

Der Kaffee war heiß und stark. Wahrscheinlich nicht unbedingt das Richtige für ihren frisch behandelten Zahn, aber angesichts der jüngsten Ereignisse erschien Leona ihr Zahn unbedeutend.

»Ich mache mir entsetzliche Vorwürfe«, sagte die Frau. »Ich hätte wissen müssen, dass so etwas irgendwann passiert. Ich glaube, ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie es wirklich tut. Ich hätte nie den Mut.«

»Sie war wohl sehr verzweifelt«, meinte Leona. Das Bild drängte sich wieder auf. Die Frau auf dem Gehsteig. Die Arme und Beine, die wie zufällig hingegossen dalagen, als hingen sie gar nicht mehr mit dem Körper zusammen. Was etwa auch den Tatsachen entsprochen haben musste. Als sie Eva auf die Tragbahre luden, hatte einer der Sanitäter gesagt: »Die ist ja buchstäblich in Stücke zerbrochen!«

»Ja, sie war verzweifelt«, sagte die Frau mit dem Kaffee, »aber ich hatte in der letzten Zeit das Gefühl, es ginge ihr besser. Sie ist vor vier Jahren geschieden worden. Damals zog sie hier ins Haus. Sie und ihr Exmann hatten das gemeinsame Haus in Kronberg verkauft, und von ihrem Anteil hat sie sich die oberste Wohnung gekauft. Eine besonders schöne Wohnung. Wunderbare Terrasse nach hinten hinaus. Die Scheidung hatte sie furchtbar mitgenommen. Sie suchte unmissverständlich Anschluss, und ich habe mich um sie gekümmert. Ich bin auch sehr viel allein. Es schien ihr langsam besser zu gehen. Aber vor einem Dreivierteljahr hat ihr geschiedener Mann …«

Ein Polizist trat heran. »Frau Dorn?«

»Ja«, sagte Leona.

»Sie können jetzt erst einmal nach Hause gehen. Ich brauche nur Ihre Personalien, damit wir uns noch einmal an Sie wenden können. Es kann sein, wir brauchen noch einmal eine detaillierte Aussage von Ihnen.«

»Ich habe wirklich nichts gesehen. Erst als sie aufschlug …«

»Vielleicht fällt Ihnen ja doch noch etwas ein. Wir melden uns bei Ihnen.«

Sie nannte ihm Adresse und Telefonnummer, die private und die ihres Büros, und er notierte sich alles auf einem dicken Block. Leona gab ihre Telefonnummer auch an Eva Fabianis Freundin weiter mit der Bitte, sie zu benachrichtigen, wenn sie etwas über den Zustand der Frau erführe.

Der Kaffee hatte sie gestärkt. Sie fühlte sich etwas besser. Sie ging in den Verlag, setzte sich hinter ihren Schreibtisch und schaffte es tatsächlich noch, einen ganzen Berg Arbeit abzutragen.

Um fünf Uhr rief die Nachbarin an. Eva Fabiani war trotz intensiver Bemühungen der Ärzte im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen erlegen.

Wie oft hatte sie seither jenen Traum gehabt? Nicht jede Nacht, aber fast jede zweite. Die Frau, die durch die Luft flog. Das hässliche Geräusch, mit dem der Körper auf den Asphalt klatschte. Der Ausdruck des Gesichts, die Augen, die plötzlich wegzuschwimmen schienen. In beinahe jedem Traum tauchte auch ein Polizist auf, überlebensgroß, der sich zu ihr hinunterbeugte. Er kam ihr so nahe, dass sie meinte, zurückweichen zu müssen, und es doch nicht konnte.

»Haben Sie etwas beobachtet?«, fragte er. »Haben Sie etwas beobachtet? Haben Sie etwas beobachtet? Haben Sie …?« Er wiederholte die Frage in immer schnellerem Tempo, in zackigem Stakkato. Sie kam nicht dazu, ihm zu sagen, dass sie nichts gesehen hatte. Er schien es auch gar nicht hören zu wollen. Er schoss nur seine Fragen ab und schien ihre verzweifelten Anstrengungen, ihm zu antworten, gar nicht zu bemerken.

»Vielleicht solltest du doch einmal einen Psychotherapeuten aufsuchen«, sagte Wolfgang, »du weißt ja, dass ich von diesen Leuten nichts halte, aber du bräuchtest vielleicht nur ein paar Stunden, in denen du einer neutralen Person dein Herz ausschütten kannst. Ich scheine dir ja nicht helfen zu können.«

Er klang ein wenig gekränkt. Leona fragte sich, wann und wie er ihr überhaupt zu helfen versucht hatte. Natürlich hatte er zugehört, als sie alles erzählt hatte, am Abend jenes Tages. Er war betroffen gewesen, und es schien ihm aufrichtig leidzutun, dass ausgerechnet ihr so etwas hatte passieren müssen. Er hatte ihr einen Cognac eingeschenkt, und dann hatte er sich um das Essen gekümmert, während sie im Wohnzimmer saß und heulte. Er ließ den Reis anbrennen und versalzte die Pilze in Rahmsoße, aber der gute Wille zählte, und Leona hatte sich tatsächlich besser gefühlt. Allerdings hatte Wolfgang wohl gemeint, dass es damit nun gut sein müsse. Er reagierte zunehmend gereizt, als Leona in den folgenden Tagen immer wieder von der Geschichte anfing. Eines Morgens hatte er während des Frühstücks seine Serviette neben den Teller geknallt und Leona zornig angesehen.

»Ehrlich gesagt, Leona, ich kann den Namen Eva Fabiani nicht mehr hören! Herrgott noch mal, ich verstehe ja, dass das ein grässliches Erlebnis für dich war, aber andererseits kanntest du diese Frau doch gar nicht! Außer ihrem Namen weißt du nichts von ihr, du weißt nicht einmal genau, warum sie sich da überhaupt hinuntergestürzt hat. Du musst den ganzen Vorfall jetzt endlich vergessen!«

Er hatte recht, das wusste sie. Sie musste aufhören, über eine Frau nachzudenken, die etwa so alt gewesen war wie sie selber und die keinen anderen Ausweg als Selbstmord gesehen hatte. Ein Verbrechen erschien Leona unwahrscheinlich, obwohl sie manchmal den Eindruck hatte, ein Mord hätte sie nicht so erschüttert wie dieser Freitod.

Sie versuchte, vor Wolfgang nicht mehr von alledem zu sprechen – außer wenn es sich nicht vermeiden ließ, so wie jetzt, wenn er nachts von ihren Alpträumen wach wurde.

»Ich halte auch nichts von Psychotherapeuten«, sagte sie nun. Sie wusste, dass sie zu pauschal urteilte, aber eine ihrer Kolleginnen war aus einer jahrelangen Therapie kranker hervorgegangen, als sie zuvor gewesen war.

»Ich brauche auch keinen Therapeuten«, fügte sie fast trotzig hinzu, »ich brauche nur ein bisschen Zeit.«

Wolfgang unterdrückte ein weiteres Gähnen. »Und ein bisschen guten Willen«, sagte er und kehrte damit an den Anfang des Gesprächs zurück. »Du darfst nichts tun, was unweigerlich alles wieder aufwühlt. Es war zum Beispiel völlig falsch, zu der Beerdigung zu gehen.«

Natürlich war es falsch gewesen. Sie wusste das, und Wolfgang hatte es auch inzwischen oft genug betont. Aber irgendetwas hatte sie gedrängt, auf den Friedhof zu gehen. Sie war der letzte Mensch, mit dem Eva gesprochen hatte. Sie war ihr dieses letzte Geleit schuldig.

Die Nachbarin hatte bei ihr angerufen. »Hier ist Behrenburg.«

Ihr war der Name entfallen. »Ja?«

»Die Nachbarin von Eva Fabiani. Ich wollte nur sagen, dass sie morgen um elf Uhr bestattet wird. Vielleicht möchten Sie ja auch kommen?«

Wolfgang hatte später behauptet, sie habe sich von jener »gänzlich unbedeutenden Frau Behrenburg« zur Teilnahme an der Beerdigung »nötigen« lassen. Er war wütend gewesen und hatte nicht verstanden, dass sie selbst das Bedürfnis verspürte, zum Friedhof zu gehen.

Überraschenderweise waren kaum Menschen da gewesen. Leona hatte eine ansehnliche Trauergemeinde erwartet, bei einer vergleichsweise so jungen Frau. Wenn Leute sehr alt starben, waren ihnen oft alle Freunde schon vorausgegangen; wenn sie weder Kinder noch Enkel hatten, mochte sich kaum jemand um ihr Grab scharen. Eva Fabiani war achtunddreißig Jahre alt gewesen! Da hatte man doch Freunde, Kollegen, Familie. Aber außer Frau Behrenburg und Leona war nur noch ein einziger Mensch anwesend, ein Mann, der sich als Evas Bruder vorstellte. Er mochte nur wenige Jahre älter sein als seine verstorbene Schwester. Er weinte nicht, wirkte aber wie versteinert vor Schmerz und schien zeitweise fast betäubt zu sein.

Als die Friedhofsarbeiter das Grab zuzuschaufeln begannen und der Pfarrer gegangen war, trat er auf Frau Behrenburg und Leona zu. Er schüttelte Frau Behrenburg die Hand.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Lydia«, sagte er, »und danke für alles, was Sie für meine Schwester getan haben. Ich weiß, dass Sie ein großer Halt für sie waren.«

Lydia Behrenburg wurde rot vor Stolz. »Es hat mir immer großen Spaß gemacht, mit Ihrer Schwester zusammen zu sein. Ich habe ja niemanden auf der Welt. Ich werde sie so schrecklich vermissen.« Ihre Traurigkeit schien echt und tief. Sie stand am Grab wie ein Mensch, der seinen letzten Strohhalm fortschwimmen sieht und es noch kaum fassen kann.

Wie viele einsame Menschen es doch gibt, dachte Leona betroffen.

Evas Bruder wandte sich ihr zu. Er musterte sie aus kühlen, graugrünen Augen. »Robert Jablonski«, stellte er sich vor. »Ich bin Eva Fabianis Bruder.«

»Leona Dorn«, sagte Leona. Zögernd fuhr sie fort: »Ich bin die Frau, die …«

»Leona war als Erste am Unfallort«, erklärte Lydia, »sie hat sich sofort um Eva gekümmert.«

»Ich konnte im Grunde nichts tun«, korrigierte Leona und hatte den Eindruck, es hörte sich wie eine Entschuldigung an.

Robert betrachtete sie prüfend. »Das hat Sie ziemlich mitgenommen, nicht?«

Leona nickte. »Ich werde nicht richtig damit fertig.«

Robert setzte seine Sonnenbrille auf, die er zur Begrüßung der beiden Frauen abgenommen hatte. Die dunklen Gläser machten ihn noch attraktiver.

»Kommen Sie«, sagte er, »ich lade Sie irgendwo in ein Café ein. Lydia und Leona. Ich darf Sie so nennen? Wissen Sie, wo man hier hübsch sitzen kann?«

Sie landeten, der Hitze des Julitages angemessen, in einem Straßencafé, saßen um einen kleinen Bistrotisch herum, zwischen lauter Menschen in Shorts und bunten T-Shirts, ein Mann im dunklen Anzug und zwei Frauen in schwarzen Kleidern, schwarzen Strümpfen und schwarzen Schuhen. Leona, die immer sehr auf ihre Figur achtete, bestellte nur Kaffee und Mineralwasser, Robert wählte einen Salat und Lydia einen gewaltigen Eisbecher. Sie bestritt den größten Teil der Unterhaltung, redete fast ohne Unterlass, beschwor vergangene Zeiten mit Eva herauf. Lustige, traurige, eigenartige Episoden. Hier ein Erlebnis, dort eine Anekdote. Leona gewann den befremdlichen Eindruck, dass Eva Fabiani praktisch ihre gesamte Freizeit mit Lydia verbracht hatte. Zwar hatte sie Eva nicht gekannt, aber der kurze Blick in ihr Gesicht hatte ihr verraten, es mit einer kultivierten, komplizierten Frau zu tun zu haben. Lydia war nett, aber schlicht; eine biedere, betuliche Hausfrau, die etwas einfältig dreinblickte und über einen begrenzten Horizont verfügte. Leona, die sich schon nach zehn Minuten wie erschlagen fühlte von Lydias Geplapper, fragte sich, wie Eva das in dieser offensichtlichen Häufigkeit ausgehalten haben konnte. Sie hatte den Eindruck, dass Robert Jablonski Lydia nicht besonders mochte – obwohl er sie sehr höflich und zuvorkommend behandelte.

Lydia machte eine Pause und hielt nach dem Kellner Ausschau, um sich ein zweites Eis zu bestellen. Leona nutzte die Gelegenheit.

»Wohnen Sie auch in Frankfurt?«, wandte sie sich an Robert.

Er schüttelte den Kopf. »In Ascona. Am Lago Maggiore.«

»In Ascona! Stammen Sie von dort? Eva auch?«

»Wir sind Deutsche, sind aber in Ascona aufgewachsen.

Unsere Eltern hatten ein sehr schönes Haus dort. Eva heiratete dann und zog mit ihrem Mann hierher nach Frankfurt. Er ist Professor für Rechtsgeschichte an der Universität.«

»Eigenartig, dass er nicht zu ihrer Beerdigung gekommen ist.«

Lydia gab einen verächtlichen Laut von sich. »Das wundert mich gar nicht. Dieser Windhund! Als sie noch lebte, hat er sich auch nicht um Eva gekümmert. Warum sollte er es jetzt, wo sie tot ist?«

»Ich vermute, er weiß noch gar nicht, dass Eva nicht mehr lebt«, meinte Robert, »die Zeitungen haben ihren Namen nicht gedruckt, und ich habe ihm nichts gesagt.«

»Er wird es früh genug erfahren«, setzte Lydia hinzu, »und es wird ihn ohnehin nicht interessieren.«

Evas Exmann schien allgemein verhasst. Es hätte Leona interessiert, mehr zu erfahren, aber sie mochte nicht indiskret erscheinen. So sagte sie nur: »Mich hat es gewundert, dass nur wir drei bei der Beerdigung waren. Es wird doch wohl eine Menge mehr Menschen in Evas Leben gegeben haben?«

»Eben nicht«, sagte Lydia. Ihr zweiter Eisbecher, ein Berg aus Vanilleeis, heißen Himbeeren und Sahne, wurde gerade gebracht. »Sie war unglaublich einsam.«

»Unsere Eltern leben nicht mehr«, erklärte Robert, »und sonst gibt es auch keine Verwandten. Ich war Evas letzter lebender Angehöriger.«

»Es muss doch Freunde gegeben haben«, bohrte Leona nach, »Kollegen …«

»Sie hatte ja keinen festen Arbeitsplatz«, sagte Lydia. »Nach ihrer Scheidung war sie zwei Jahre lang arbeitsunfähig wegen ihrer Depressionen. Dann hat sie nur so herumgejobbt. Mal hier, mal da. Aushilfstätigkeiten der verschiedensten Art. Um Freunde zu gewinnen, blieb sie eigentlich nirgendwo lang genug.«

»Konnte sie davon leben?«

»Ganz gut. Die Wohnung gehörte ihr, und es blieb sogar noch ein Überschuss, den sie angelegt hatte. Die Möbel hatte sie alle mitgebracht. Ihr Mann hat ihr praktisch alles überlassen – vom Bügeleisen über den Herd bis zur Waschmaschine. Hoffte wohl, damit sein schlechtes Gewissen beruhigen zu können.«

Leona fragte nicht weiter, aber sie überlegte, wie das sein konnte. Eine attraktive und noch keineswegs alte Frau wie Eva Fabiani, so völlig allein, so ohne jeden Bezugspunkt außer einer geschwätzigen, ältlichen Nachbarin. Kein fester Job. Keine Freunde. Kein Mann. Es musste die Einsamkeit gewesen sein, die sie zu dem tödlichen Sprung aus dem Fenster getrieben hatte. Mit achtunddreißig Jahren.

Robert lehnte sich etwas vor. Er nahm die Sonnenbrille ab. Er hat einen ausgesprochen durchdringenden Blick, dachte Leona.

»Ich habe gehört, dass meine Schwester noch etwas gesagt hat, ehe sie starb. Irgendetwas wie ›Jetzt ist es ihm gelungen‹ oder so ähnlich.«

»›Nun hat er es endlich geschafft‹«, sagte Leona. »Das waren ihre genauen Worte.«

Robert verzog das Gesicht. »Ja«, sagte er bitter, »nun hat er es endlich geschafft.«

»Wer?«, fragte Leona.

»Ihr Exmann.« Lydia schien unweigerlich immer wieder auf diesen Schuft zu kommen, den sie offenbar für jede Misere in Evas Leben verantwortlich machte. »Den hat sie natürlich gemeint.«

»Aber Lydia, Sie haben doch gesagt, die beiden waren seit vier Jahren geschieden! Sie können doch gar nicht mehr so viel Kontakt gehabt haben!«

»Sie hat gelitten«, erklärte Robert. Seine Stimme klang jetzt wieder emotionslos, gleichmütig. »Sie hat unter dieser Trennung gelitten wie ein Hund. Sie hatte schlimmste Depressionen. Manchmal schien sie halb verrückt vor Schmerz. Sie schaffte es nicht, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Ihr Selbstmord war die logische Konsequenz aus den letzten Jahren.«

»Dann hat er die Scheidung gewollt, nicht sie«, folgerte Leona.

Robert zündete sich eine Zigarette an, nachdem er den beiden Frauen die Schachtel hingehalten hatte, aber negativ beschieden worden war. Seine Finger zitterten ganz leicht. Traurigkeit? Erregtheit? Hass? Seine Stimme blieb monoton.

»Er hat sie betrogen«, sagte er. »Er hat sie so häufig, so skrupellos, so offensichtlich für jedermann betrogen, dass ihr schließlich keine Wahl mehr blieb, als die Scheidung einzureichen. Und damit begann dann ihr Sterben auf Raten.«

»Eigenartig«, sagte sie in die Dunkelheit des Zimmers hinein, »wenn am Ende eines jungen Lebens ganze drei Menschen bleiben, die das letzte Geleit geben: der Bruder, eine Nachbarin, von der man nicht weiß, ob sich die Tote an ihr festgeklammert hat oder ob sie von ihr bedrängt wurde, und eine ganz fremde Frau, die zufällig vorbeikam in jenem endgültigen Moment, da das Leben nicht mehr erträglich schien. Welch eine Zusammenstellung!«

Wolfgang unterdrückte sein Gähnen nicht mehr. »Hättest du nur an diesem Tag nicht zum Zahnarzt gemusst!«, sagte er inbrünstig. »Uns wäre eine Menge erspart geblieben!«

»Ihr Mann hat sie ständig betrogen. Robert ist überzeugt, dass er sie damit zu ihrem Selbstmord getrieben hat.«

»Das ist doch Unsinn!«, entgegnete Wolfgang scharf. »Wie du mir erzählt hast, war sie eine immer noch junge, attraktive Frau!«

»Was hat denn jetzt das eine mit dem anderen zu tun?«

»Wenn ihr Mann sie wirklich betrogen hat, muss das für eine solche Frau doch kein Weltuntergang sein. Ich bitte dich! Achtunddreißig Jahre alt, gutaussehend. Sie hätte sich leicht neu orientieren können. Sie musste nicht in einem Tränenmeer versinken!«

»Vielleicht hat sie ihn auf eine Art und Weise geliebt, die es ihr nicht möglich machte, mit einem anderen Mann etwas anzufangen. Das kann doch sein.«

»Sentimentaler Blödsinn! Wenn man dreißig Jahre oder länger mit einem Menschen zusammen war, hat man es womöglich sehr schwer, sich einen anderen vorzustellen. Aber so lange können die beiden gar nicht verheiratet gewesen sein. Und, wie gesagt, für Torschlusspanik war sie dann doch noch zu jung!«

Er war jetzt zornig und heftig, und Leona fragte sich, weshalb er sich so erregte. Bisher hatte er auf das Thema Eva gelangweilt oder genervt reagiert. Auf einmal schien er ernsthaft wütend.

Sie schwang die Beine aus dem Bett, angelte sich ihre Hausschuhe.

»Ich gehe ins Wohnzimmer«, sagte sie, »ich will ein bisschen fernsehen. Ich glaube, ich kann jetzt einfach nicht mehr einschlafen.«

Er machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten.