Rick Riordan:
Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
Der fiese Gott Loki hat sich nach jahrtausendelanger Gefangenschaft von seinen Fesseln befreit und rüstet zum letzten Kampf! Er bemannt Naglfari, das legendäre Schiff der Toten, mit Zombies und Riesen, um den Weltuntergang Ragnarök einzuläuten. Klar, dass Magnus und seine Freunde das nicht zulassen können. Auf der Suche nach dem Schiff der Toten durchsegeln sie verschiedene Welten und müssen gegen wütende Meeresgötter, brutale Riesen und feuerspeiende Drachen antreten. Doch der gefährlichste Feind bleibt Loki selbst …
Das große Finale von Rick Riordans Serie über die nordischen Götter!
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Leseprobe
Für Philip José Farmer, dessen Flusswelt-Bücher
meine Liebe zur Geschichte losgetreten haben
1»Mach noch einen Versuch«, sagte Percy zu mir. »Und stirb diesmal nicht so oft.«
Wir standen auf der Rahnock der USS Constitution und schauten auf den Hafen von Boston fünfundsechzig Meter unter uns. Ich wünschte mir die Verteidigungstricks eines Truthahngeiers. Dann könnte ich Kotze auf Percy Jackson abfeuern und ihn damit vertreiben.
Als er das letzte Mal versucht hatte, mich zu diesem Sprung zu überreden, vor erst einer Stunde, hatte ich mir jeden Knochen im ganzen Leib gebrochen. Mein Freund Alex Fierro hatte mich gerade noch rechtzeitig ins Hotel Walhalla schaffen können, damit ich in meinem Bett sterben konnte. Eine halbe Stunde später wachte ich auf und war so gut wie neu. Und nun stand ich wieder hier, bereit für neue Schmerzen. Hurra!
»Muss das unbedingt sein?«, fragte ich.
Percy lehnte sich an die Takelage und der Wind wehte kleine Wellen in seine schwarzen Haare.
Er sah aus wie ein ganz normaler Junge – oranges T-Shirt, Jeans, abgenutzte weiße Reeboks aus Leder. Wenn er euch so auf der Straße entgegenkäme, würdet ihr bestimmt nicht denken: He, schau an, ein Halbgott und Sohn des Poseidon, es leben die Olympier! Er hatte keine Kiemen oder Schwimmhäute, aber seine Augen waren meergrün – ungefähr in dem Farbton, den jetzt wohl mein Gesicht aufwies. Das einzig Seltsame war das Tattoo auf der Innenseite seines Unterarms – ein Dreizack so dunkel wie angekokeltes Holz, einmal unterstrichen, dazu die Buchstaben SPQR.
Er hatte mir gesagt, diese Buchstaben stünden für Sono Pazzi Quelli Romani – Die spinnen, die Römer. Ich war nicht sicher, ob das ein Witz sein sollte.
»Hör mal, Magnus«, sagte er. »Du wirst durch feindliches Territorium segeln. Eine Bande von Meeresungeheuern und Meeresgottheiten und was weiß ich wer sonst noch wird versuchen, dich umzubringen.«
»Ja, stimmt schon.«
Womit ich meinte: Bitte, erinnere mich nicht daran. Bitte, lass mich in Ruhe.
»Irgendwann«, sagte Percy, »wirst du aus dem Boot geschleudert, vielleicht aus einer solchen Höhe. Dann musst du wissen, wie du den Aufprall überlebst, ohne zu ertrinken, und wie du kampfbereit wieder an die Wasseroberfläche kommst. Das ist nämlich ganz schön schwer, vor allem in kaltem Wasser.«
Ich wusste, dass er recht hatte. Nach allem, was ich von meiner Cousine Annabeth gehört hatte, hatte Percy noch mehr gefährliche Abenteuer überlebt als ich. (Und dabei lebte ich in Walhalla. Ich starb mindestens ein Mal pro Tag.) Aber sosehr ich es zu schätzen wusste, dass er aus New York hergekommen war, um mich mit heroischen aquatischen Überlebenstipps zu versorgen – ich hatte mein dauerndes Versagen satt.
Am Vortag war ich von einem gewaltigen weißen Hai zerkaut, von einem Riesentintenfisch erwürgt und von tausend wütenden Ohrenquallen gestochen worden. Ich hatte etliche Liter Meerwasser geschluckt in dem Versuch, den Atem anzuhalten, und ich hatte erfahren müssen, dass ich zehn Meter unter Wasser im Einzelkampf auch nicht besser war als auf festem Land.
Am Morgen war Percy mit mir um das auch Old Ironsides genannte Schiff Constitution herumgewandert, um mich in die Kunst des Segelns und der Navigation einzuführen, aber ich konnte Besanmast und Achterdeck noch immer nicht auseinanderhalten.
Und nun stand ich hier: unfähig, von einer Stange zu fallen.
»Du schaffst das, Magnus!«, rief mir Annabeth aufmunternd zu.
Alex Fierro hob beide Daumen. Glaubte ich jedenfalls. Aus dieser Entfernung war ich nicht ganz sicher.
Percy holte tief Luft. Er hatte bisher Geduld mit mir gehabt, aber ich merkte, dass dieses anstrengende Wochenende auch ihm zusetzte. Wenn er mich ansah, zuckte sein linkes Auge.
»Ist schon gut, Mann«, versicherte er. »Ich zeig es dir noch mal, okay? Geh in Position wie ein Fallschirmspringer, breite Arme und Beine aus, um den Fall zu verlangsamen. Dann, unmittelbar ehe du auf das Wasser aufprallst, machst du dich gerade wie ein Pfeil – Kopf hoch, Fersen nach unten, Rücken gerade, Hintern zusammengekniffen. Dieser letzte Teil ist wirklich wichtig.«
»Fallschirmspringer«, sagte ich. »Dann strecken. Pfeil. Hintern.«
»Genau«, sagte Percy. »Sieh zu.«
Er sprang von der Rahnock und hatte im Fall alle viere perfekt ausgestreckt. Im letzten Moment richtete er sich gerade auf, Hacken nach unten, traf auf das Wasser auf und verschwand, fast ohne auch nur einen Kräusel hervorzurufen. Gleich darauf tauchte er wieder auf und hob die Handflächen. Siehst du? Kinderspiel!
Annabeth und Alex applaudierten.
»Okay, Magnus«, rief Alex zu mir hoch. »Du bist dran. Sei ein Mann!«
Das sollte wohl witzig sein. Meistens identifizierte Alex sich als weiblich, aber heute war er einwandfrei männlich. Manchmal versprach ich mich und benutzte die falschen Pronomen für ihn/sie, und im Gegenzug neckte Alex mich gnadenlos. Aus Freundschaft.
Annabeth rief: »Das kannst du doch jetzt, Magnus!«
Unter mir glitzerte die dunkle Oberfläche des Wassers wie ein frisch gescheuertes Waffeleisen, bereit, mich platt zu schlagen.
Na gut, murmelte ich vor mich hin.
Ich sprang.
Eine halbe Sekunde lang war ich ziemlich optimistisch. Der Wind pfiff in meinen Ohren. Ich breitete die Arme aus und es gelang mir, nicht zu schreien.
Okay, dachte ich. Das schaffe ich.
Und dann beschloss mein Schwert Jack, aus dem Nirgendwo aufzutauchen und ein Gespräch anzufangen.
»He, Señor!« Die Runen auf seiner doppelschneidigen Klinge leuchteten. »Was machst’n da?«
Ich fuchtelte mit den Armen und versuchte, mich vor dem Aufprall gerade aufzurichten. »Jack, jetzt nicht!«
»Ach, schon kapiert. Du fällst. Weißt du, einmal als Frey und ich gerade fielen …«
Ehe er mit dieser faszinierenden Geschichte weitermachen konnte, knallte ich ins Wasser.
Wie Percy mich gewarnt hatte, schaltete die Kälte mein System aus. Ich versank, vorübergehend gelähmt, die Luft war aus meiner Lunge hinausgeschlagen. Meine Knöchel pochten, als ob ich auf einem Trampolin aus Backsteinen gesprungen wäre. Aber wenigstens war ich nicht tot.
Ich suchte innerlich nach größeren Verletzungen. Als Einherje wird man ziemlich gut in der Kunst, auf die eigenen Schmerzen zu hören. Man kann auf dem Schlachtfeld von Walhalla herumtorkeln, tödlich verwundet, den letzten Atemzug tun und dabei ganz gelassen denken: Ach, so fühlt sich also ein gebrochener Rippenkorb an. Interessant.
Diesmal hatte ich mir den linken Knöchel gebrochen. Der rechte war nur verstaucht.
Kein Problem. Ich rief die Macht Freys herbei.
Wärme wie die des Sommersonnenscheins strahlte aus meiner Brust in meine Glieder. Die Schmerzen ließen nach. Ich konnte mich selbst nicht ganz so gut behandeln wie andere, aber ich spürte, wie meine Knöchel anfingen zu heilen – als ob ein Schwarm von freundlichen Wespen in meinem Fleisch herumkroch, die Risse verputzte und die Bänder neu zusammenfügte.
Ah, besser, dachte ich, während ich durch die kalte Finsternis schwamm. Aber ich wollte ja noch etwas anderes erledigen … ach, richtig. Atmen.
Jacks Griff stupste meine Hand an wie ein Aufmerksamkeit heischender Hund. Ich schloss die Finger um den Ledergriff und Jack zog mich aufwärts und riss mich aus dem Hafenbecken wie eine rettende Fee mit Raketenantrieb. Ich landete nach Luft schnappend und zitternd neben meinen Freunden auf dem Deck der Old Ironsides.
»Meine Güte.« Percy trat zurück. »Das war schon eine ganz andere Nummer. Alles in Ordnung, Magnus?«
»Klar«, konnte ich aushusten und hörte mich dabei an wie eine Ente mit Bronchitis.
Percy musterte die leuchtenden Runen auf meiner Waffe. »Wo kommt das Schwert denn her?«
»Hallo, ich bin Jack!«, sagte Jack.
Annabeth unterdrückte einen Aufschrei. »Das redet?«
»Das?«, fragte Jack empört. »He, gute Frau, ein bisschen Respekt! Ich bin Sumarbrander! Das Schwert des Sommers! Die Waffe des Frey! Mich gibt es schon seit Jahrtausenden. Und außerdem bin ich ein Kerl!«
Annabeth runzelte die Stirn. »Magnus, als du mir von deinem magischen Schwert erzählt hast, hast du da vielleicht vergessen zu erwähnen, dass es – dass er sprechen kann?«
»Kann sein.« Ehrlich, ich wusste es nicht mehr.
In den vergangenen Wochen war Jack sich selbst überlassen gewesen und hatte das gemacht, was magische Schwerter in ihrer Freizeit eben machen. Percy und ich hatten beim Training die standardisierten Übungsschwerter des Hotels Walhalla benutzt. Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, dass Jack aus dem Nirgendwo auftauchen und sich vorstellen könnte. Und die Tatsache, dass er sprechen konnte, war noch seine am wenigsten seltsame Fähigkeit. Dass er sämtliche Lieder aus »Jersey Boys« auswendig konnte – das war bizarr.
Alex Fierro schien ein Lachen zu unterdrücken. Er trug an diesem Tag Grün und Rosa, wie so oft, obwohl ich gerade diese Kombination noch nie gesehen hatte: lederne Schnürstiefel, ultraenge rosa Röhrenjeans, ein lindgrünes Hemd, das er über den Hosenbund hängen ließ, und ein schmaler karierter Schlips, den er locker als Halstuch trug. Mit seiner dicken schwarzen Ray Ban und seiner grünen Stachelfrisur sah er aus wie einem New-Wave-Plattencover von circa 1979 entsprungen.
»Vergiss deine Manieren nicht, Magnus«, sagte er. »Stell deinem Schwert deine Freunde vor.«
»Äh, richtig«, sagte ich. »Jack, das sind Percy und Annabeth. Sie sind Halbgötter – die griechische Sorte.«
»Hmmm.« Jack schien nicht beeindruckt zu sein. »Ich bin einmal Herkules begegnet.«
»Sind wir das nicht alle?«, murmelte Annabeth.
»Stimmt auch wieder«, sagte Jack. »Aber ich vermute, wenn ihr mit Magnus befreundet seid …« Er verstummte abrupt. Seine Runen verblassten. Dann sprang er mir aus der Hand, flog auf Annabeth zu und seine Klinge zuckte, als ob er in der Luft herumschnüffelte. »Wo ist sie? Wo hast du die Süße versteckt?«
Annabeth wich an die Reling zurück. »He, immer mit der Ruhe, Schwert. Schon mal was von Intimsphäre gehört?«
»Jack, benimm dich!«, sagte Alex. »Was soll das denn?«
»Die ist hier irgendwo«, beharrte Jack. Er flog zu Percy. »Aha! Was hast du denn da in der Tasche, Meeresknabe?«
»Entschuldigung?« Percy sah ein wenig nervös aus, als das magische Schwert über seinem Hosenbund schwebte.
Alex schob seine Ray-Ban nach unten. »Okay, jetzt bin ich neugierig. Was hast du denn nun in der Tasche, Percy? Neugierige Schwerter wollen so was wissen.«
Percy zog einen ganz normal aussehenden Kugelscheiber aus seiner Jeanstasche. »Meinst du den hier?«
»BAM!«, sagte Jack. »Wer ist dieser Inbegriff der Lieblichkeit?«
»Jack«, sagte ich. »Das ist ein Kugelschreiber.«
»Nein, ist es nicht. Zeigen! Zeigen!«
»Äh … von mir aus.« Percy drehte die Kappe von dem Kugelschreiber.
Sofort verwandelte der sich in ein neunzig Zentimeter langes Schwert mit einer blattförmigen Klinge aus leuchtender Bronze. Neben Jack sah diese Waffe zierlich aus, zart fast, aber so, wie Percy sie schwang, bezweifelte ich nicht, dass er damit auf den Schlachtfeldern von Walhalla bestehen würde.
Jack richtete seine Spitze auf mich und seine Runen loderten weinrot auf. »Siehst du, Magnus? Ich hab dir doch gesagt, es sei nicht blödsinnig, ein als Kugelschreiber getarntes Schwert in der Tasche zu haben!«
»Jack, das habe ich nie behauptet«, widersprach ich. »Das warst du!«
Percy hob eine Augenbraue. »Wovon redet ihr hier eigentlich?«
»Von nichts«, sagte ich eilig. »Ich nehme an, das ist das berühmte Schwert Springflut? Annabeth hat mir von ihm erzählt.«
»Von ihr«, korrigierte Jack.
Annabeth runzelte die Stirn. »Percys Schwert ist eine Sie?«
Jack lachte. »Allerdings!«
Percy musterte Springflut, aber ich hätte ihm aus Erfahrung sagen können, dass es fast unmöglich ist, einem Schwert sein Geschlecht anzusehen.
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Bist du sicher …?«
»Percy«, sagte Alex. »Genderrespekt!«
»Na gut, von mir aus«, sagte er. »Es ist nur irgendwie komisch, dass ich das nie gewusst habe.«
»Andererseits«, sagte Annabeth, »hast du bis voriges Jahr auch nicht gewusst, dass der Kugelschreiber schreiben kann!«
»Das war gemein, weises Mädchen!«
»Egal«, fiel Jack ihnen ins Wort. »Wichtig ist, dass Springflut hier ist, dass sie wunderbar ist und dass sie mich jetzt kennt. Vielleicht könnten wir zwei … ihr wisst schon … ein bisschen Zeit für uns haben, um über, äh, Schwertsachen zu reden?«
Alex feixte. »Das klingt nach einer wunderbaren Idee. Wie wäre es, wenn sich die Schwerter erst einmal miteinander bekannt machen, während wir anderen eine Mittagspause einlegen? Magnus, glaubst du, du könntest eine Runde Falafel essen, ohne dich zu verschlucken?«
2Wir aßen auf dem Spardeck achtern (staunt ihr nur darüber, wie leicht mir die Seefahrtsausdrücke fallen!).
Nach einem harten Morgen, an dem mir so viel misslungen war, hatte ich das Gefühl, meine frittierten Kichererbsenküchlein und mein Pitabrot, meinen Joghurt mit den eisgekühlten Gurkenscheiben und die Beilage aus extrawürzigem Lammkebab wirklich verdient zu haben. Annabeth hatte für das Picknick gesorgt. Sie kannte mich einfach zu gut.
Meine Kleidung wurde in der Sonne schnell trocken. Die warme Brise war angenehm in meinem Gesicht. Segelboote suchten sich ihren Weg durch den Hafen, während Flugzeuge auf dem Weg vom Flughafen Logan nach New York oder Kalifornien oder Ägypten den blauen Himmel durchschnitten. Die ganze Stadt Boston schien geladen mit ungeduldiger Energie, wie eine Klasse eine Minute vor drei, wenn sie auf das Läuten zum Unterrichtsschluss wartet und wenn alle für den Sommer die Stadt verlassen und das gute Wetter genießen wollen.
Ich dagegen wollte wirklich nur bleiben.
Springflut und Jack lehnten in unserer Nähe an einer Taurolle, während ihre Griffe die Reling des Kanonendecks berührten. Springflut verhielt sich wie ein typischer lebloser Gegenstand, Jack rückte immer näher an sie heran und redete auf sie ein, während seine Klinge in der gleichen dunklen Bronze leuchtete wie ihre. Zum Glück war Jack an einseitige Gespräche gewöhnt. Er scherzte. Er schmeichelte. Er ließ wie besessen bekannte Namen fallen. »Also weißt du, als ich einmal mit Thor und Odin in der Kneipe war …«
Wenn Springflut beeindruckt war, ließ sie sich das jedenfalls nicht anmerken.
Percy knüllte seine Falafeltüte zusammen. Der Kerl konnte nicht nur Wasser einatmen, sondern auch Lebensmittel.
»Also«, sagte er. »Wann stecht ihr in See?«
Alex hob eine Augenbraue und sah mich an, wie um zu fragen: Tja, Magnus, wann stechen wir denn in See?
Ich versuchte seit zwei Wochen, Fierro gegenüber dieses Thema zu vermeiden, was mir aber nicht sehr gut gelungen war.
»Bald«, sagte ich. »Wir wissen nicht genau, was unser Ziel ist oder wie lange wir brauchen, um hinzugelangen …«
»Klingt wie meine Lebensgeschichte«, sagte Percy.
»… aber wir müssen Lokis fieses großes Schiff der Toten finden, ehe es zu Mittsommer lossegelt. Es liegt irgendwo zwischen Niflheim und Jotunheim. Wir nehmen an, dass wir für diese Strecke zwei Wochen brauchen.«
»Was bedeutet«, sagte Alex, »wir hätten schon längst aufbrechen müssen. Ende der Woche müssen wir los, egal, ob wir bereit sind oder nicht.«
In seinen dunklen Brillengläsern sah ich das Spiegelbild meines besorgten Gesichtes. Wir wussten beide, dass wir von »bereit« ebenso weit entfernt waren wie von Niflheim.
Annabeth zog die Füße unter sich. Sie hatte sich ihre langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr dunkelblaues T-Shirt trug die gelbe Aufschrift COLLEGE OF ENVIRONMENTAL DESIGN, BERKELEY.
»Helden sind doch nie bereit, oder?«, fragte sie. »Wir tun einfach unser Bestes.«
Percy nickte. »Jep. Meistens klappt es auch. Wir sind noch nicht gestorben.«
»Obwohl du es immer wieder versuchst.« Annabeth versetzte ihm einen Rippenstoß. Percy legte den Arm um sie. Sie schmiegte sich an ihn. Er küsste die blonden Locken oben auf ihrem Kopf.
Diese offenkundige Zuneigung ließ mein Herz einen schmerzhaften kleinen Sprung machen.
Ich freute mich darüber, dass meine Cousine so glücklich war, aber es erinnerte mich daran, was alles auf dem Spiel stand, wenn ich Loki nicht aufhalten könnte.
Alex und ich waren schon gestorben. Wir würden niemals älter werden. Wir würden in Walhalla leben, bis der Letzte Tag gekommen wäre (falls wir nicht vorher außerhalb des Hotels getötet würden). Das bestmögliche Leben bestand für uns darin, für die Götterdämmerung zu trainieren, um diese unvermeidliche Schlacht um so viele Jahrhunderte aufzuschieben wie möglich – und dann, eines Tages, mit Odins Armee aus Walhalla hinauszumarschieren und einen glorreichen Tod zu sterben, während um uns herum die Neun Welten in Flammen standen. Das pure Vergnügen.
Aber Annabeth und Percy hatten eine Chance auf ein normales Leben. Sie hatten die Highschool schon hinter sich gebracht, und Annabeth hatte mir erzählt, das sei die gefährlichste Zeit für griechische Halbgötter. Im Herbst würden sie ein College an der Westküste besuchen. Wenn sie das überlebten, hatten sie eine gute Chance, auch das Erwachsenenalter zu überleben. Sie könnten in der Welt der Sterblichen bleiben, ohne alle fünf Minuten von Monstern angegriffen zu werden.
Außer, es gelang meinen Freunden und mir nicht, Loki zu stoppen, denn dann würde die Welt – würden alle Welten – in wenigen Wochen ein Ende haben. Aber ihr wisst schon … wir sollten uns ja nicht unter Druck gesetzt fühlen.
Ich legte mein Pitabrot weg. Auch Falafel konnte meine Laune nur bis zu einem gewissen Punkt heben.
»Was habt ihr denn so vor, Leute?«, fragte ich. »Heute gleich wieder zurück nach New York?«
»Ja«, sagte Percy. »Ich muss heute Abend babysitten. Total süchtig danach.«
»Stimmt«, es fiel mir wieder ein. »Deine neue kleine Schwester.«
Noch ein wichtiges Leben, das hier auf dem Spiel steht, dachte ich.
Aber ich brachte ein Lächeln zustande. »Ich gratuliere, Mann. Wie heißt sie denn?«
»Estelle. So hieß meine Großmutter. Äh, mütterlicherseits natürlich. Nicht die Mutter von Poseidon.«
»Find ich gut«, sagte Alex. »Altmodisch und elegant. Estelle Jackson.«
»Na ja, Estelle Blofis«, korrigierte Percy. »Weil mein Stiefvater Paul Blofis heißt. An dem Nachnamen kann ich nicht viel ändern, aber mein Schwesterchen ist hinreißend. Zehn Finger. Zehn Zehen. Zwei Augen. Sie sabbert ganz schön viel.«
»Wie ihr Bruder«, sagte Annabeth.
Alex lachte.
Ich konnte mir gut vorstellen, wie Percy die kleine Estelle in seinen Armen wiegte und dabei »Under the Sea« aus »Arielle, die Meerjungfrau« sang. Und dabei fühlte ich mich nur noch elender.
Auf irgendeine Weise musste ich für die kleine Estelle genug Jahrzehnte herausschlagen, damit sie ein richtiges Leben haben könnte. Ich musste Lokis dämonisches Schiff voller Zombiekrieger finden und verhindern, dass es in den Kampf segelte und die Götterdämmerung auslöste, und dann musste ich Loki fangen und ihn wieder in Ketten legen, damit er kein weltenverbrennendes Unheil mehr anrichten könnte. (Oder jedenfalls nicht ganz so viel weltenverbrennendes Unheil.)
»He.« Alex warf ein Stück Pita nach mir. »Guck nicht so grimmig.«
»Entschuldige.« Ich versuchte, fröhlicher zu wirken. Das war nicht so leicht, wie mit purer Willenskraft meinen Knochen zu heilen. »Ich freue mich darauf, eines Tages, wenn wir von unserem Einsatz zurück sind, Estelle kennenzulernen. Und ich finde es großartig, dass ihr nach Boston hochgekommen seid. Wirklich.«
Percy schaute zu Jack hinüber, der noch immer auf Springflut einredete. »Tut mir leid, dass ich keine größere Hilfe sein konnte. Das Meer ist«, er zuckte mit den Schultern, »irgendwie unvorhersagbar.«
Alex streckte die Beine aus. »Wenigstens ist Magnus beim zweiten Mal sehr viel besser gefallen. Schlimmstenfalls kann ich mich immer noch in einen Delfin verwandelt und seinen lahmen Hintern retten.«
Percys Mundwinkel zuckte. »Du kannst dich in einen Delfin verwandeln?«
»Ich bin ein Kind Lokis. Willst du mal sehen?«
»Nein, ich glaube dir.« Percy schaute in die Ferne. »Ich habe einen Freund namens Frank, der ebenfalls seine Gestalt verändern kann. Delfine liegen ihm. Und Riesengoldfische auch.«
Mir schauderte, als ich mir Alex Fierro als riesigen rosa-grünen Koi vorstellte. »Wir müssen uns mit dem begnügen, was wir haben. Wir haben ein gutes Team.«
»Das ist wichtig«, sagte Percy zustimmend. »Vermutlich wichtiger, als mit der See umgehen zu können …« Er setzte sich auf und runzelte die Stirn.
Annabeth machte sich aus seiner Umarmung los. »Oha. Den Blick kenne ich. Du hast eine Idee.«
»Etwas, was mein Dad mir gesagt hat …« Percy stand auf. Er ging zu seinem Schwert und unterbrach Jack mitten in einer faszinierenden Geschichte darüber, wie er einmal einem Riesen eine Bowlingtasche bestickt hatte. Percy hob Springflut auf und musterte ihre Klinge.
»He, Mann«, beschwerte sich Jack. »Das lief gerade so richtig gut.«
»Tut mir leid, Jack.« Percy zog die Kappe des Kugelschreibers aus der Tasche und drehte sie auf sein Schwert. Mit einem leisen Schink schrumpfte Springflut wieder zu einem Kugelschreiber. »Poseidon und ich haben einmal über Waffen gesprochen. Er hat mir gesagt, dass alle Meeresgottheiten eine Gemeinsamkeit haben. Sie sind total eitel und habgierig, wenn es um magische Gegenstände geht.«
Annabeth verdrehte die Augen. »Das klingt wie alle Götter, die mir je begegnet sind.«
»Stimmt«, sagte Percy. »Aber auf die Meeresgötter trifft es ganz besonders zu. Triton schläft mit seinem Muschelhorn in der Hand. Galatea ist fast die ganze Zeit damit beschäftigt, ihren magischen Seepferdesattel zu polieren. Und mein Dad hat panische Angst davor, seinen Dreizack zu verlieren.«
Ich dachte an meine einzige Begegnung mit einer nordischen Meeresgöttin. Die war nicht gut gelaufen. Ran hatte versprochen, mich zu vernichten, wenn ich je wieder durch ihre Gewässer segelte. Aber sie war wirklich besessen gewesen von ihren magischen Netzen und der Müllsammlung, die darin herumwirbelte. Und deshalb hatte ich sie dazu bringen können, mir mein Schwert zu geben.
»Du meinst, dass ich ihre Sachen gegen sie verwenden muss«, vermutete ich.
»Richtig«, bestätigte Percy. »Und was du darüber gesagt hast, ein gutes Team zu haben – manchmal hat es nicht gereicht, dass ich der Sohn des Meeresgottes bin, um mich zu retten, nicht einmal unter Wasser. Einmal wurden mein Freund Jason und ich von der Sturmgöttin Kymopoleia auf den Meeresgrund gezogen. Ich war hoffnungslos verloren, Jason hat mich durch den Vorschlag gerettet, von ihr Sammelkarten und Spielfiguren zu machen.«
Alex hätte sich an seiner Falafel fast verschluckt. »Was?«
»Ich will damit nur sagen«, fuhr Percy fort, »dass Jason keine Ahnung vom Ozean hatte. Er hat mich aber trotzdem gerettet. Das war irgendwie peinlich.«
Annabeth grinste schadenfroh. »Kann ich mir denken. Ich hab die Details darüber nie erfahren.«
Percys Ohren wurden so rosa wie Alex’ Jeans. »Jedenfalls, wir haben das alles bisher ganz falsch betrachtet. Ich habe versucht, dich seetüchtig zu machen. Aber es geht darum, alles zu nutzen, was du gerade zur Hand hast – dein Team, deinen Verstand, den magischen Kram des Feindes.«
»Und das kann man nicht vorausplanen«, sagte ich.
»Genau«, sagte Percy. »Für mich ist die Sache erledigt!«
Annabeth runzelte die Stirn. »Percy, du sagst damit, der beste Plan sei gar kein Plan. Als Kind der Athene kann ich da wirklich nicht zustimmen.«
»Ja«, sagte Alex. »Und ich finde meinen Plan, mich in ein Meeressäugetier zu verwandeln, noch immer gut.«
Percy hob die Hände. »Ich sag doch nur, dass die mächtigste Halbgottheit hier bei uns sitzt, und ich bin es nicht.« Er nickte zu Annabeth hinüber. »Das Weise Mädchen kann ihre Gestalt nicht ändern oder unter Wasser atmen oder mit Pegasi reden. Sie kann nicht fliegen und sie ist nicht superstark. Aber sie ist wahnsinnig klug und kann gut improvisieren. Das macht sie tödlich. Egal, ob sie an Land, im Wasser, in der Luft oder im Tartarus ist. Magnus, du hast das ganze Wochenende mit mir trainiert. Ich glaube, du hättest besser mit Annabeth trainiert.«
Es war schwer, etwas in Annabeths stürmisch grauen Augen zu lesen. Endlich sagte sie: »Na gut, das war reizend.« Sie küsste Percy auf die Wange.
Alex nickte. »Nicht schlecht, Algenhirn.«
»Fang du jetzt nicht auch noch mit diesem Spitznamen an«, murmelte Percy unwillig.
Von den Speichern her war das tiefe Grollen von Rolltoren zu hören. Stimmen hallten von den Mauern wider.
»Das ist unser Stichwort«, sagte ich. »Wir müssen los. Dieses Schiff ist gerade aus dem Trockendock gekommen. Es wird heute Abend mit einer großen Zeremonie wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.«
»Ja«, sagte Alex. »Der Glamour würde unsere Anwesenheit nicht mehr tarnen, wenn erst die ganze Mannschaft an Bord wäre.«
Percy hob die Augenbrauen. »Glamour? Meinst du deine Klamotten?«
Alex schnaubte. »Nein. Glamour kann auch ein Illusionszauber sein. Er ist die Kraft, die den Blick der gewöhnlichen Sterblichen trübt.«
»Ach was«, sagte Percy. »Das nennen wir den Nebel.«
Annabeth schlug Percy mit den Fingerknöcheln auf den Kopf. »Egal wie wir es nennen, wir sollten uns beeilen. Helft mir beim Aufräumen.«
Wir verließen gerade die Laufplanke, als die ersten Seeleute eintrafen. Jack schwebte vor uns her, leuchtete in unterschiedlichen Farben und sang mit furchtbarer Fistelstimme »Walk like a man«. Alex verwandelte sich aus einem Geparden in einen Wolf und dann in einen Flamingo (als Flamingo ist er erste Sahne).
Die Seeleute sahen uns ausdruckslos an und machten einen weiten Bogen um uns, aber niemand stellte uns zur Rede.
Als wir die Docks verlassen hatten, wurde Jack zu einem Runenanhänger. Er fiel in meine Hand und ich befestigte ihn wieder an meiner Halskette. Dieses plötzliche Verstummen sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Wahrscheinlich ärgerte er sich, weil sein Date mit Springflut so unsanft unterbrochen worden war.
Als wir durch die Constitution Road schlenderten, drehte sich Percy zu mir um. »Was sollte das denn vorhin – das mit dem Gestaltwandeln und dem singenden Schwert? Wolltet ihr erwischt werden?«
»Nö«, sagte ich. »Wenn du mit dem magischen Kram wedelst, verwirrt das die Sterblichen nur noch mehr.« Ich fand es gut, zur Abwechslung ihm etwas beibringen zu können. »Das verursacht in einem sterblichen Gehirn so eine Art Kurzschluss und dann gehen sie dir aus dem Weg.«
»Hm.« Annabeth schüttelte den Kopf. »Jetzt haben wir uns die ganzen Jahre davongestohlen, und dabei hätten wir einfach wir selbst sein können?«
»Das solltet ihr immer.« Alex holte uns ein, nun wieder in Menschengestalt, auch wenn ihm noch Flamingofedern in den Haaren hingen. »Und ihr müsst stets mit dem bizarren Kram herumwedeln, ihr Lieben.«
»Das werde ich zitieren«, sagte Percy.
»Das will ich dir auch geraten haben.«
Wir blieben an der Ecke stehen, wo Percys Toyota Prius neben einer Parkuhr stand. Ich schüttelte ihm die Hand und Annabeth drückte mich an sich.
Meine Cousine packte meine Schultern, schaute mir forschend ins Gesicht und ihre grauen Augen waren voller Sorge. »Pass auf dich auf, Magnus. Du kommst unversehrt zurück. Das ist ein Befehl.«
»Sehr wohl, Chefin«, versprach ich. »Die Chase-Sippe muss zusammenhalten.«
»Wo wir schon davon sprechen …« Sie senkte die Stimme. »Warst du schon mal drüben?«
Ich kam mir wieder vor wie im freien Fall, kopfüber in den sicheren Tod.
»Noch nicht«, gab ich zu. »Heute. Versprochen.«
Das Letzte, was ich von Percy und Annabeth sah, war ihr Prius, der um die Ecke der First Avenue bog; Percy sang zu Led Zeppelin im Radio und Annabeth lachte über seine furchtbare Stimme.
Alex verschränkte die Arme. »Wenn die beiden zusammen noch niedlicher wären, würden sie eine Atomexplosion aus Niedlichkeit auslösen und die Ostküste zerstören.«
»Soll das ein Kompliment sein?«, fragte ich.
»Etwas, das einem Kompliment noch näherkommt, wirst du nicht so schnell hören.« Er warf mir einen Blick zu. »Wohin sollst du gehen, was hast du Annabeth versprochen?«
Ich hatte im Mund einen Geschmack, als ob ich Alufolie gekaut hätte. »Zum Haus meines Onkels. Ich muss da etwas erledigen.«
»Ohhh.« Alex nickte. »Ich hasse dieses Haus.«
Ich schob diese Aufgabe nun schon seit Wochen vor mir her. Ich wollte nicht allein hingehen. Ich wollte auch meine anderen Freunde nicht darum bitten – Samirah, Hearthstone, Blitzen oder die Clique aus dem neunzehnten Stock im Hotel Walhalla. Es ging mir zu nah, tat zu weh. Aber Alex war schon einmal mit mir in der Chase-Villa gewesen. Die Vorstellung, ihn mitzunehmen, machte mir nichts aus. Zu meiner Überraschung ging mir sogar auf, dass ich ihn ziemlich dringend dabeihaben wollte.
»Äh …«, ich räusperte mir die letzten Reste Falafel und Meerwasser aus der Kehle. »Würdest du wohl mit mir in ein Spukhaus kommen und den Kram eines Toten durchsehen?«
Alex strahlte. »Ich hatte schon Angst, du würdest mich niemals fragen.«
3»Das ist neu«, sagte Alex.
Die Eingangstür war aufgebrochen worden und der nutzlose Riegel ragte aus dem Türrahmen. Auf dem Perserteppich in der Diele lag ein Wolfskadaver.
Mir schauderte.
In den Neun Welten konnte man nicht einmal eine Streitaxt schwingen, ohne irgendeinen Wolf zu treffen: den Fenriswolf, Odins Wölfe, Lokis Wölfe, Werwölfe, große böse Wölfe und freischaffende kleine Geschäftswölfe, die für den richtigen Preis jeden Mord begehen würden.
Der tote Wolf in Onkel Randolphs Diele hatte sehr große Ähnlichkeit mit den Bestien, die vor zwei Jahren meine Mom überfallen hatten, in der Nacht, in der sie ums Leben gekommen war.
Reste von blauem Licht hingen noch in seinem zottigen grauen Fell. Sein Maul war zu einem ewigen Fauchen verzogen. Oben auf seinem Kopf war in die Haut eine wikingische Rune eingebrannt, nur war das Fell dort dermaßen versengt, dass ich sie nicht erkennen konnte. Mein Freund Hearthstone hätte das sicher geschafft.
Alex umkreiste den ponygroßen Kadaver. Er versetzte ihm einen Tritt in die Rippen. Die Bestie blieb netterweise tot.
»Der Zerfall hat noch nicht eingesetzt«, erklärte Alex. »Meistens zerfallen Monster ziemlich schnell, wenn man sie getötet hat. Du kannst bei diesem hier noch das verbrannte Fell riechen. Kann also noch nicht lange her sein.«
»Glaubst du, die Rune war irgendeine Art Falle?«
Alex feixte. »Ich glaube, dein Onkel hat so allerlei über Magie gewusst. Der Wolf ist auf dem Teppich gelandet, hat diese Rune losgetreten und BAM!«
Ich dachte an die vielen Male, als ich als junger Obdachloser in Onkel Randolphs Haus eingebrochen war, wenn er nicht da war, um Essen zu stehlen, sein Arbeitszimmer zu durchsuchen oder einfach zu nerven. Ich hatte nie irgendein BAM erlebt. Jetzt wurde mir ein bisschen schlecht und ich fragte mich, ob ich auch tot und mit einer in die Stirn gebrannten Rune auf dem Teppich hätte enden können.
War diese Falle der Grund, warum Randolphs Testament ausdrücklich verlangt hatte, dass Annabeth und ich das Haus aufsuchten, ehe wir die Erbschaft antraten? Hatte Randolph versucht, sich noch nach dem Tod ein bisschen zu rächen?
»Meinst du, wir können gefahrlos den Rest des Hauses untersuchen?«, fragte ich.
»Glaub nicht«, sagte Alex fröhlich. »Also los.«
Im Erdgeschoss fanden wir keine weiteren toten Wölfe. Keine Runen explodierten vor unserer Nase. Das Entsetzlichste, was wir entdeckten, befand sich in Onkel Randolphs Kühlschrank, wo Joghurt mit abgelaufenem Verfallsdatum, saure Milch und schimmelige Möhren sich zu einer vorindustriellen Gesellschaft entwickelten. Randolph hatte nicht einmal Schokolade in seiner Speisekammer hinterlassen, der alte Schurke.
Im ersten Stock hatte sich nichts verändert. In Randolphs Arbeitszimmer schien die Sonne durch das Bleiglasfenster und fiel in roten und orangen Streifen über die Bücherregale und die ausgestellten Wikingerfunde. In einer Ecke stand ein großer Runenstein, in den das höhnische Gesicht eines Wolfs (was sonst) eingeritzt war. Zerfledderte Landkarten und verschossene gelbe Pergamentbogen bedeckten Randolphs Schreibtisch. Ich überflog die Dokumente und hielt Ausschau nach etwas Neuem, etwas Wichtigem, aber ich sah nichts, was ich nicht schon bei meinem letzten Besuch hier gesehen hatte.
Ich dachte an den Wortlaut von Randolphs Testament, das Annabeth mir geschickt hatte.
Es ist unbedingt erforderlich, hatte Randolph erklärt, dass mein geliebter Neffe Magnus so bald wie möglich meinen irdischen Besitz durchsieht. Er sollte vor allem auf meine Papiere achten.
Ich wusste nicht, warum Randolph diese Zeilen in sein Testament aufgenommen hatte. In seinen Schreibtischschubladen fand ich keinen an mich gerichteten Brief, keine von Herzen kommende Bitte um Entschuldigung wie Lieber Magnus, es tut mir leid, dass ich deinen Tod verursacht, dich verraten, mich mit Loki zusammengetan und am Ende deinen Freund Blitzen erstochen habe, um dich dann fast noch ein weiteres Mal umzubringen.
Er hatte mir nicht einmal das Passwort für das WLAN in seiner Villa hinterlassen.
Ich schaute aus dem Fenster des Arbeitszimmers. Auf der anderen Straßenseite in der Commonwealth Mall waren Menschen mit ihren Hunden unterwegs, spielten Frisbee, genossen das schöne Wetter. Die Statue von Leif Eriksson stand auf ihrem Sockel, protzte mit ihrem Metall-BH, musterte den Verkehr am Charlesgate und fragte sich vermutlich, warum sie nicht in Norwegen war.
»Also.« Alex trat neben mich. »Du erbst das hier alles, oder?«
Auf dem Weg hierher hatte ich ihm in groben Zügen Onkel Randolphs Testament dargelegt, aber Alex sah noch immer ungläubig, fast beleidigt aus.
»Randolph hat das Haus Annabeth und mir hinterlassen«, sagte ich. »Technisch gesehen bin ich tot. Das bedeutet, dass alles Annabeth gehört. Randolphs Anwälte haben sich an Annabeths Vater gewandt, der hat ihr Bescheid gesagt und sie mir. Annabeth hat mich gebeten, der Sache nachzugehen und«, ich zuckte mit den Schultern, »zu entscheiden, was mit dem Haus geschehen soll.«
Alex nahm aus dem nächststehenden Bücherregal ein gerahmtes Foto von Onkel Randolph mit seiner Frau und seinen Töchtern. Ich hatte Caroline, Emma und Aubrey nie kennengelernt. Sie waren vor vielen Jahren bei einem Sturm auf See umgekommen. Aber ich hatte sie in meinen Albträumen gesehen. Ich wusste, dass Loki sie meinem Onkel gegenüber als Druckmittel benutzte, er hatte versprochen, dass Randolph seine Familie wiedersehen würde, wenn er Loki half, sich aus seinen Fesseln zu befreien … Und in gewisser Weise hatte Loki die Wahrheit gesagt. Als ich Onkel Randolph zuletzt gesehen hatte, war er in einen Abgrund gestürzt, der auf geradem Wege nach Helheim führte, ins Reich der nicht ehrenhaft Gestorbenen.
Alex drehte das Foto um, vielleicht in der Hoffnung, auf der Rückseite eine geheime Mitteilung zu finden. Bei unserem letzten Besuch in diesem Arbeitszimmer hatte er auf diese Weise eine Einladung zu einer Hochzeit gefunden, und das hatte uns eine Menge Probleme eingebracht. Diesmal gab es keine verborgene Botschaft – nur leeres braunes Papier, und es tat viel weniger weh, das anzusehen, als die lächelnden Gesichter meiner toten Verwandten.
Alex stellte das Bild zurück ins Regal. »Annabeth ist es egal, was du mit dem Haus machst?«
»Irgendwie schon. Sie hat genug zu tun mit dem College und, du weißt schon, Halbgötterkram. Ich soll ihr nur sagen, wenn ich etwas Interessantes finde – alte Fotoalben, Familiengeschichte oder so.«
Alex rümpfte die Nase. »Familiengeschichte.« Sein Gesicht zeigte den gleichen leicht angeekelten, leicht neugierigen Ausdruck wie vorhin, als er den toten Wolf getreten hatte. »Was ist denn in den oberen Stockwerken noch?«
»Ich bin nicht sicher. Als Kind durften wir nur die beiden unteren Stockwerke betreten, und die wenigen Male, wenn ich später hier eingebrochen bin …« Ich hob die Handflächen. »Ich hab es wohl nie so weit nach oben geschafft.«
Alex musterte mich über den Brillenrand hinweg und sein dunkelbraunes und sein bernsteingelbes Auge sahen aus wie zwei nicht zueinander passende Monde, die am Horizont ruhten. »Klingt interessant. Also los.«
Im zweiten Stock gab es vor allem zwei große Schlafzimmer. Das vordere war makellos sauber, kalt und unpersönlich. Zwei nebeneinanderstehende Betten. Eine Kommode. Kahle Wände. Vielleicht ein Gästezimmer, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass Randolph oft Besuch gehabt hatte. Oder vielleicht war das hier das Zimmer von Emma und Aubrey gewesen, und dann hatte Randolph alle ihre Habseligkeiten entfernt und nur eine weiße Leere mitten im Haus hinterlassen. Wir blieben nicht lange dort.
Das zweite Schlafzimmer hatte offenbar Randolph gehört. Es roch wie sein altmodisches Gewürznelkenduftwasser. Der Papierkorb lief über vor lauter Schokopapier. Randolph hatte vermutlich seinen ganzen Vorrat verzehrt, ehe er losgegangen war, um Loki bei der Vernichtung der Welt zu helfen.
Ich konnte ihm da keine Vorwürfe machen. Ich sage schließlich immer: Erst Schokolade essen, dann die Welt vernichten.
Alex sprang in das Himmelbett. Er hüpfte auf und ab und grinste, als die Federn quietschten.
»Was machst du denn da?«, fragte ich.
»Krach.« Er beugte sich vor und durchsuchte Randolphs Nachttisch. »Mal sehen. Hustentropfen. Büroklammern. Ein paar zusammengeknüllte Taschentücher, die ich nicht anfassen werde. Und …« Er stieß einen Pfiff aus. »Abführmittel! Magnus, diese ganzen Schätze gehören dir!«
»Du bist verrückt.«
»Ich ziehe die Bezeichnung fabelhaft bizarr vor.«
Wir durchsuchten das restliche Schlafzimmer, obwohl ich nicht so recht wusste, wonach ich suchte. Vor allem auf meine Papiere achten, hatte Randolphs Testament verlangt. Ich bezweifelte, dass er die zusammengeknüllten Taschentücher meinte.
Annabeth hatte Randolphs Anwälten nicht viel an Informationen entlocken können. Unser Onkel hatte sein Testament offenbar am Tag vor seinem Tod noch verändert. Das konnte bedeuten, dass Randolph gewusst hatte, dass ihm nicht mehr lange zu leben blieb. Vielleicht hatte er sich schuldig gefühlt, weil er mich verraten hatte, und mir eine Art letzte Botschaft hinterlassen wollen. Es konnte auch bedeuten, dass er sein Testament auf Befehl von Loki geändert hatte. Aber wenn das hier eine Falle war, um mich herzulocken, warum lag dann in der Diele ein toter Wolf?
In Randolphs Schrank fand ich keine geheimen Papiere. Sein Badezimmer war nicht weiter aufregend, abgesehen von einer beeindruckenden Sammlung von halb leeren Mundwasserflaschen. In der Schublade für Unterwäsche lagen genug marineblaue Boxershorts für eine ganze Kompanie von Randolphs – alle kurz, perfekt gestärkt, gebügelt und zusammengefaltet. Manche Dinge spotten jeglicher Beschreibung.
Im nächsten Stock noch zwei leere Schlafzimmer. Nichts Gefährliches wie Wölfe, explodierende Runen oder Altherrenunterwäsche.
Das oberste Geschoss war eine riesige Bibliothek, noch größer als die in Randolphs Arbeitszimmer. Eine buntgewürfelte Mischung von Romanen stand in den Regalen. In einer Ecke des Raumes gab es eine Kochnische mit einem Minikühlschrank, einem Wasserkocher und – DER TEUFEL SOLL DICH HOLEN, RANDOLPH! – wieder ohne Schokolade. Die Fenster blickten auf die grünen Dachziegel der Back Bay. Am hinteren Ende des Raumes führte eine Treppe nach oben, sicher auf eine Dachterrasse, wie ich annahm.
Dem Kamin gegenüber stand ein bequem aussehender Ledersessel. In die Mitte der marmornen Kamineinfassung war ein zähnebleckender Wolf eingearbeitet (was sonst). Auf dem Kaminsims balancierte auf einem silbernen Dreifuß ein nordisches Trinkhorn mit einem Lederriemen und einem mit Runen versehenen Silberrand. In Walhalla hatte ich Tausende von solchen Hörnern gesehen, aber es überraschte mich, hier eins zu finden. Randolph war mir nie als typischer Metpichler erschienen. Vielleicht hatte er aus dem Horn seinen Earl Grey getrunken.
»Madre de Dios«, sagte Alex.
Ich starrte ihn an. Ich hatte ihn vorher noch nie Spanisch sprechen hören.
Er tippte eines der gerahmten Fotos an der Wand an und grinste gehässig. »Bitte, sag mir, dass nicht du das bist!«
Das Bild war ein Schnappschuss meiner Mutter mit ihrer üblichen Wichtelfrisur, strahlendem Lächeln und einem Campinghemd aus Flanell. Sie stand in einem ausgehöhlten Platanenstamm und hielt Baby Magnus in die Kamera – meine Haare waren ein Flausch aus weißem Gold, mein Mund glitzerte vor Sabber und ich hatte die grauen Augen weit aufgerissen, wie um zu fragen, was zum Henker mach ich eigentlich hier?
»Das bin ich«, gab ich zu.
»Was warst du niedlich«, Alex schaute mich an. »Was ist dann schiefgegangen?«
»Ha, ha.«
Ich sah mir die Fotowand an. Ich staunte darüber, dass Onkel Randolph ein Bild von mir und meiner Mom hier aufgehängt hatte, wo er es sehen musste, wann immer er sich in seinen bequemen Sessel setzte – so, als ob wir ihm wirklich wichtig wären.
Ein weiteres Foto zeigte die drei Geschwister Chase – Natalie, Frederick und Randolph – als Kinder, alle gekleidet in Uniformen aus dem Zweiten Weltkrieg, während sie Spielzeuggewehre schwenkten. Halloween, nahm ich an. Neben diesem Bild hing eins meiner Großeltern, ein stirnrunzelndes weißhaariges Paar, gekleidet in schrille karierte Klamotten aus den Siebzigerjahren, als wären sie gerade auf dem Weg zur Kirche oder zur Senioren-Disco.
Geständnis: Es fiel mir schwer, meinen Großvater und meine Großmutter auseinanderzuhalten. Ich hatte sie nicht mehr kennengelernt, aber den Bildern nach konnte man davon ausgehen, dass sie so ein Paar waren, das sich im Laufe der Jahre immer ähnlicher wird, bis man sie am Ende einfach nicht mehr unterscheiden kann. Die gleiche weiße Helmfrisur. Die gleiche Brille. Der gleiche dünne Schnurrbart. Auf dem Foto hingen einige Wikingerfundstücke hinter ihnen an der Wand, wie das Trinkhorn, das jetzt auf Randolphs Kaminsims stand. Ich hatte keine Ahnung davon gehabt, dass sich schon meine Großeltern für diesen nordischen Kram interessiert hatten. Ich fragte mich, ob sie je die Neun Welten bereist hatten. Das hätte ihre verwirrten, leicht schielenden Gesichter erklärt.
Alex sah die Titel im Bücherregal durch.
»Irgendwas Interessantes?«, fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Der Herr der Ringe. Nicht schlecht. Sylvia Plath. Nett. Oh, Die linke Hand der Dunkelheit. Dieses Buch liebe ich. Der Rest … Na ja. Das Schwergewicht liegt für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr auf toten weißen Männern.«
»Ich bin ein toter weißer Mann«, wandte ich ein.
Alex hob eine Augenbraue. »Ja, stimmt.«
Ich hatte nicht gewusst, dass Alex viel las. Ich hätte gern gefragt, ob ihm einige meiner Lieblinge gefielen, Scott Pilgrim oder vielleicht Sandman. Die waren wunderbar ausgeflippt. Aber ich kam zu dem Schluss, dass das hier vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt war, um eine Lesegruppe zu gründen.
Ich suchte die Regale nach Tagebüchern oder Geheimfächern ab.
Alex wanderte zur letzten Treppe weiter. Er lugte nach oben und wurde so grün wie seine Haare. »Äh, Magnus? Das solltest du dir vielleicht mal ansehen.«
Ich trat neben ihn.
Oben am Ende der Treppe führte eine gewölbte Luke aus Plexiglas auf das Dach. Und auf der anderen Seite lief zähnebleckend noch ein Wolf hin und her.