Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotive: fotolia.com/Baltazar, photocase.de/Easyrider
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-259-3
Oberbayern Krimi
Originalausgabe
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Für Manu, Werner und Gino
Faber est suae quisque fortunae.
Jeder ist seines Glückes Schmied.
Crispus, das Auerberg-Maskottchen
EINS
Fata viam invenient.
Das Schicksal findet seinen Weg.
Vergil, »Aeneas«
»Baier, altes Haus. Was verschafft mir die Ehre?« Gerhard war heute so aufgelockert, konnte am zweiten Weißbier liegen, das er gerade in der Sonne trank. Eventuell etwas schnell in der Sonne, die nun, an diesem Sonntagvormittag, schon machtvoll schien. Vor einigen Jahren hätte er den großen alten Mann der Oberland-Kriminalistik nicht so flapsig angesprochen, aber sie hatten über die Jahre eine Freundschaft geschlossen, die herb war – und doch innig.
»Weinzirl, wo sind Sie?«
»Ich betrachte alle zwölfe!«
»Was! Sind Sie kegeln und sehen einige Keulen doppelt?«
»Nein, ich versuche, zwölf Seen zu sehen!«
»Haben Sie getrunken?«, fragte Baier angewidert.
Na, getrunken hatte er nicht, nur eben ein zweites Weißbier bestellt.
»Wo werd ich sein an einem freien Tag? Hoch oben, über den Niederungen.«
Doch – er war aufgelockert, und er stieß auf. Was mit der Kohlensäure zu tun haben konnte und damit, dass irgendwo in seinem Hirn ein Bild auftauchte. Sie hatten ihn schon mal von einem Berg geholt, rüde unterbrochen in seiner Feiertagslaune. »Ich habe gehört, man könne hier zwölf Seen sehen, das versuch ich gerade. Bannwaldsee, Forggensee, Weißensee und Hopfensee, die Perlen der ›Allgäuer Riviera‹, dazu die kleinen Hegratsrieder See, Schapfensee, Lechsee, Illasbergsee – macht schon mal acht. Bei entsprechender Verrenkung komm ich noch auf den Schwansee und den Alpsee bei Schwangau. Und wenn diese Pfützen da weiter hinten der Kühmoossee und der Kaltenbrunner See sind, dann wären es alle zwölfe.«
»Ich sage es ungern, Weinzirl. Erstens: Sie haben Sie nicht alle. Zweitens: Sie werden sich herunterbemühen müssen.«
Weinzirl musste nochmals aufstoßen.
»Weinzirl?«
»Ja, ich bin ganz Ohr.«
»Haben Sie mal auf Ihr Handy gesehen?«
»Warum?«
»Schauen Sie mal drauf, Sie Lapp!«
Gut, da waren drei Anrufe vom Büro und sieben von Evi. Und eine SMS. Gut, es hatte gekräht, er hatte als Ton einen Hahnenschrei drin, weil Sir Sebastian vulgo Seppi das so toll fand. Aber er hatte auf leise gestellt; dass er nun drangegangen war, lag nur daran, dass er eben im Rucksack ein Schnäuztuch gesucht hatte. Und weil er Baiers Nummer erkannt hatte. Wenn der ihm schon mal die Ehre gab …
»Ihre zuckersüße Kollegin hat mich gebeten, es zu probieren. Hatte die Idee, dass Sie eher drangehen, wenn ich anruf.«
Zuckersüß, das sagte der doch nur, wenn Evi danebenstand. Was sie wohl auch tat, denn aus dem Hintergrund war ihre Stimme zu hören. »Erde an Weinzirl, Erde an Weinzirl, bitte Kontakt.«
Sehr witzig. Die ganze Zeit über hatte Seppi seinen Kopf auf dem Tisch liegen gehabt und quasi meditiert, was bei seiner Größe einfach eine praktische Ablage war für seinen Schädel. Nun schaute er Gerhard strafend an.
»Ist ja gut, Alter!«
»Was sagen Sie, Weinzirl?«, war von Baier zu vernehmen.
»Nicht Sie, ich hab mit Seppi gesprochen.«
Es war ein Knistern zu hören, dann war Evi dran. »Kannst du die Gespräche von Dr. Dolittle mit seinem Wolf mal einstellen und deinen Arsch an den Lechsee bewegen? Hier ist einer, der deine Bekanntschaft machen möchte.«
»Was?«
»Nicht was, sondern Wasser. Genauer: Wasserleiche.«
Gerhard suchte kurz Seppis Blick. Dann setzte er sich aufrecht hin. »Wo ist ’ne Wasserleiche?« Ein paar Leute am Nebentisch starrten ihn entgeistert an.
»Im Lechsee. Inzwischen auf der Staustufe liegend. Inzwischen unter einem Zelt, weil es doch sehr warm ist. Auch wegen eines größeren Interesses von Touristen aller Sprachcouleur. Inzwischen habe ich auch schon den Arzt informiert. Allein der große Meister, mein Chef, wird hier noch vermisst.«
Evi konnte aber auch schön sprechen, vor allem, wenn sie wütend war. Ihm war klar, dass er sich jetzt mit dummen Sprüchen bedeckt halten sollte. Er wurde sachlich, soweit ihm das möglich war, und sprach deutlich leiser. »Eine Wasserleiche wurde wo gefunden?«
»Also nochmals ganz langsam: am Lechsee. An der Staumauer in Urspring. Wo bist du momentan? Sag bitte nicht, im Zillertal oder in der Silvretta.«
»Nein, bloß am Buchenberg. Drum schau ich ja nach den zwölf Seen. Seen sehen.« Er lachte etwas dümmlich. »Buching, das wäre dann ja nahe zum Lechsee.« Er überlegte kurz. »Sind da nicht die Allgäuer Kollegen zuständig?«
Baier hatte Evi das Handy wieder entrissen. »Weinzirl, wann begreifen Sie endlich Ihren Wirkungskreis? Wann kennen Sie sich im Landkreis mal aus? Die Nachbarn im Allgäu drüben nennen sich ›Lechbruck am See‹. Kinkerlitzchen! Mogelpackung! Der See gehört zu Urspring, die Allgeier drüben sollen froh sein, dass sie ’ne Uferlinie geliehen bekommen haben. Auf jetzt, Weinzirl! Finden Sie her? Runter vom Buckel, weiter nach Prem. Das gehört auch zu uns, falls Sie das nicht wissen.«
Zu uns, also zu Oberbayern. Da legte Baier viel Wert drauf. Dabei war er Peitinger und damit alles andere als ein Kearnl-gfuaderter Bayer aus dem Kernland allen Bayerntums. Aber Baier war, obwohl man ihn sicher eher mit Kässpatzn und Schupfnudeln aufgezogen hatte, eben ein perfekter bayerischer Grantler. Brummig und gradheraus. Und das »isch« hatte er sich aberzogen.
»Ich komme. Etwas wird es aber doch dauern.«
»Dann nehmen S’ halt den Lift«, meinte Baier.
»Ob ich da schneller bin?« Die Sesselbahn von Buching war nun alles andere als ein pfeilschneller Highspeed-Lift. Es handelte sich eben um eine gute alte Zweiersesselbahn, wo man zu Berge schaukelte, umhersehen konnte und das Gespräch genießen – sofern man jemanden dabeihatte, der oder die eine genussvolle Konversation versprach.
Und so spurtete Gerhard lieber die Direttissima zu Tal, Seppi war ihm stets etwas voraus, der hatte eben auch sehr lange Haxn und gleich vier davon.
Gerhard sprang in seinen Bus, er durchfuhr die Kurven im Halblechtal, überfuhr die Insel am Ortseingang von Prem fast, wunderte sich, dass dieser kleine Ort noch zu Weilheim-Schongau gehören sollte. Ihm erschien das hier doch sehr allgäuerisch.
In Gründl zögerte er kurz. Rechts- oder linksrum? Er fuhr nach rechts, bog nach einigen Kilometern nach Urspring ab. Hinein in den kleinen Ort, vorbei an hübsch renovierten alten Bauernhäusern, hinunter zu dem See, der da ganz saphirblau lag. Hier war er noch nie gewesen, das musste er zugeben. Links war ein Surfverein, er orientierte sich kurz, schoss nach rechts, und da war der Damm – und ihm auch alles Ausmaß klar.
Zwei Polizeifahrzeuge versperrten den Weg. Gerhard blieb einfach stehen, hüpfte aus dem Auto. Kollegin Melanie hatte lasch die Hand gehoben, ihr lief das Wasser in Strömen herunter. Hinter der Absperrung drängelten sich Menschen und reckten die Krägen. Räder und Hunde und Kinderwagen verstellten den Weg.
Seppi sprach ja selten, das musste ein Hund seiner Größe auch gar nicht. Jetzt aber schickte er ein sattes »Klöff« in die Runde und knurrte ein ganz klein wenig. Eine Gasse bildete sich, Gerhard zog ein wie ein Gladiator, kletterte den Hang hoch, wo ein Zelt stand. Und Evi und Baier. Und der Arzt. Sie standen unter einem Sonnenschirm. Das hatte eigentlich so was von Sommerfrische. Wenn man mal vom Anlass absah. Gerhard grüßte in die Runde. Ein bisschen atemlos. Fünfundvierzig Minuten ab Berg bis See – da konnten die hier doch nicht klagen. Gerhard ließ Seppi abliegen, nahm die von Evi hingehaltenen Handschuhe und ging gebückt unter das Zelt.
Der Mann sah gar nicht so schlecht aus. Also für eine Wasserleiche. Da hatte er schon andere gesehen. Der hier war noch recht formstabil. Er hatte einige Verletzungen im Gesicht und an den Beinen. Am rechten Knöchel war eine starke Rötung zu sehen. Am linken hing irgendwas. Der Mann war wohl um die fünfzig Jahre alt, mittelmäßig groß. Er trug eine kurze Hose und ein T-Shirt mit der Aufschrift »It’s showtime«. Nun ja …
Gerhard war wieder unter dem Zelt herausgekrochen. Er wandte sich an den Arzt. »Liegt noch nicht so lange?«
»Nein, ich denke, maximal drei Wochen. Eher weniger. Das Lechwasser ist ja echt kühl. Selbst im Sommer.«
»Und die Knöchel? Diese Rötungen? Dieses Dings?«
»Er könnte rechtsseitig mit etwas beschwert worden sein.«
»Seh ich auch, was ist das da am linken Knöchel?«
»Ich bin Arzt! Nicht beim Quiz. Keine Ahnung, was das ist. Aber das hat ihn wohl kaum hinuntergezogen. Ist ja nicht sonderlich schwer. Außerdem wäre der Tote sonst ja auch nicht an die Oberfläche getreten. Also hing noch was Schwereres am anderen Bein. Hat wohl nicht gehalten. Keine gute Arbeit, muss ich sagen. Ein Mörder, der keine Schleifen oder Knoten binden kann.« Er lachte trocken. »Aber was weiß ich? Da kann die Gerichtsmedizin sicher mehr sagen.«
»Und die Abschürfungen überall?«, fragte Gerhard.
»Da verweise ich auch an die Kollegen. Kann postmortal sein oder aber nicht. Ich würde dann gern weiterziehen. Heute ist so ein guter Tag für Hitzschläge und Herzklabaster. Ich bin bereits überfällig. Sie haben ja etwas auf sich warten lassen.« Da schwang Tadel mit.
Gerhard sagte lieber mal nichts, nickte dem Mann nur zu und drehte sich zu Evi um. »Wer hat ihn gefunden?«
»Na ja, eigentlich eine Familie aus Stuttgart. Die Kinder schauen so gern von der Staumauer runter auf das Treibholz, das da so kreiselt. Und da ploppte er quasi rauf.«
Gerhard hatte die Stirn gerunzelt.
»Ich zitiere nur den Vater der Familie. ›Da isch euner raufgeploppt.‹«
»Und nachdem er geploppt ist?«
»Sind die retour zum Campingplatz, auf dem sie wohnen. Da drüben der Platz. Sie haben Alarm geschlagen. Und das hat Baier mitbekommen«, sagte Evi.
»Ach, Sie zelten in Lechbruck, Baier?«, wandte sich Gerhard an Baier.
»Blödsinn. Stockschießen. Ich geh immer sonntags stockschießen. Mit Walter und ein paar anderen.«
»Mein Gott, Walter, aha.« Gerhard war einfach nicht auf der Höhe. Die Sonne. Das Weißbier. Diese Hektik. Er hatte doch nur einen freien Tag genießen wollen. War das zu viel verlangt?
Baier schenkte ihm einen genervten Blick. »Walter ist ein Dauercamper aus Augsburg. Expolizist. Guter Mann! Die anderen sind ein paar Rentner aus der Umgebung. Der Günther, Universalgenie aus dem Fuiz, zum Beispiel. Aus dem Wasamoos. Sagt Ihnen wieder nichts. Urgesteine. Rentner wie ich. Altes Eisen. Jedenfalls habe ich dann alles Nötige in die Wege geleitet.«
Baier, der überzeugte Oberbayer, warf Eisstöcke auf Beton, und das mit Datschiburgern und zu allem Unheil auf Allgäuer Boden. Denn Lechbruck war eindeutig Ostallgäu. Da reichte sogar sein mieses Verständnis von Erdkunde aus. Baier war ein Kosmopolit, keine Frage. Und Baier schaffte es einfach nicht, im Ruhestand von Leichen fernzubleiben.
Als könne er Gedanken lesen, meinte Baier: »Hab ich mir nicht ausgesucht, Weinzirl. Aber Sie sind ja nie da, wenn man Sie braucht.«
Auch das ließ Gerhard unkommentiert. »Wer hat ihn rausgeholt?«
»Die Wasserwacht. Auch kein schöner Job. Ist alles schon protokolliert. Sie sind ja …«
»Jaja – an einem freien Tag, am Tage des Herrn, einfach nicht da.« Gerhard rückte etwas weiter unter den Schirm, es war wirklich affenheiß. Und feucht. Es hatte tagelang heftige Gewitter gegeben, wahrscheinlich würde heute Abend auch wieder eines aufziehen. In die Tropen musste schon lange keiner mehr reisen.
»Irgendeine Idee zur Identität?«
»Kein Geldsackerl, kein Handy, kein Schlüsselbund«, knurrte Baier.
»Und es ist auch grad niemand hier am Damm aufgelaufen, wo einen Mann oder Vater oder Sohn oder sonst wen vermisst«, maulte Evi hinterher.
Die beiden hatten sicher einen Sonnenstich, dachte Gerhard. Schlecht, dass der Mediziner schon weg war. »Na dann, ab in die Gerichtsmedizin. Und bitte herausfinden, was das für ein komisches Ding da an seinem Knöchel ist. Oder hat hier jemand eine Idee? Ist das eine Radachse?«
»Ich hätte da eine Idee«, meinte Baier.
»Und?«
»Ich würde dazu gern fachkundige Bewertungen abwarten.«
Gerhard sah Baier an, na, der hatte Nerven! Spielten sie hier »Ich sehe was, was du nicht siehst«? Wieder schluckte er Unflätiges hinunter. An Melanie gewandt, die seit geraumer Zeit nun auch unter dem Zelt Schutz gesucht hatte, meinte Gerhard: »Vermisstenlisten checken.« Und er schickte hinterher: »Weitere Befragungen können wir uns wahrscheinlich schenken, der kann ja sonst wo ins Wasser gekippt worden sein. Gibt’s hier irgendwo etwas zu trinken?«
»Am Campingplatz oder im ›Drei Mohren‹«, sagte Baier.
»Da waren wir mal kurz, als wir den Hundefall hatten«, sagte Evi.
Das stimmte. Eine bittere Geschichte war das gewesen, eine Geschichte, die ihm letztlich Seppi beschert hatte. Das Beste, was ihm seit Langem widerfahren war. Es war Winter gewesen, und schon damals hatte sich Gerhard gefragt, was drei Neger in Urspring getan hatten. Also drei Schwarze, »Neger« durfte man ja nicht sagen. Das Lied von den »Zehn kleinen Negerlein« sangen die Kinder heute sicher nicht mehr.
Und wieder bewies Baier seherische Fähigkeiten. »Meine Enkelin singt inzwischen ›Zehn kleine Leutchen mit Migrationshintergrund‹«, sagte er, und Gerhard grunzte.
»Also dann mal zu den ›Mohren‹, egal, wo Urspring diese Mohrenköpfe herhat.« Gerhard glaubte sich zu erinnern, dass das Gasthaus auch eine ganz ansprechende Speisekarte gehabt hatte. Inzwischen war es halb zwei, man musste sich anschicken, noch etwas zu bekommen.
Dieses Urspring entpuppte sich auch beim zweiten Hinsehen als eine schmucke kleine Gemeinde. Vor der Kirche plätscherte ein Brünnlein in Kaskaden, grad ins Schwärmen hätte man kommen mögen. Wäre da nicht das käsige Gesicht des Toten gewesen. Na ja, Kässpatzn musste er ja nicht nehmen. War ihm allemal zu fleischlos.
Sie saßen draußen im Biergarten, Evi hatte sich natürlich entrüstet, dass die Männer überhaupt etwas essen konnten. Sie orderte dann aber doch einen Salat. Der sah gut aus, wenn man sich für Kaninchenfutter erwärmen konnte. Er und Baier nahmen je einen Jägerbraten mit Pilzen und viel Soße.
Seppi hatte einen ganzen Wassernapf leer geschlabbert und lag nun im Kies, sodass man über ihn hinwegsteigen musste.
An einem der Nebentische saßen ältere Haudegen, einen hatte Baier gegrüßt, und was da an Gesprächsfetzen in einem wilden Dialekt herüberwehte, da war Gerhard doch wirklich bass erstaunt, dass das hier Oberbayern sein sollte. Er gab sich keinen Illusionen hin, dass die Kunde von der Wasserleiche noch nicht die wenigen Höhenmeter vom See heraufgeeilt war. Die Männer sahen auch immer mal herüber, fragten aber nichts. Auch die Bedienung, die vor Neugierde schier zu platzen schien, verhielt sich dennoch still. Als sie zahlten, sagte sie nur: »Dann wird man ja dann sehen?«
»Wird man«, sagte Baier.
Ja, genau. Hoffentlich würde man bald etwas sehen. Und hören. Aber sicher nicht vor morgen oder übermorgen. Sonntage waren ganz schlechte Tage für Verbrechen.
Evi hatte sich erboten, ersten Schriftkram zu erledigen. Sie fuhren ins Büro, Weilheim war menschenleer, klar – die lagen alle an den Seen der Umgebung rum.
Melanie hatte begonnen, Vermisstenanzeigen zu durchforsten. Da war aber nichts zu finden gewesen. Bis auf einige schon lange Abgängige, die altersmäßig passten. Aber hätten sie diese am Wehr entdeckt, wäre ihr Zustand sicher anders gewesen. Verwester. Verrotteter.
Gerhard hoffte innerlich sowieso stets, dass das alles Männer waren, die mit einer jungen Frau mit wohlgerundetem Po und Mordstitten irgendwo in Brasilien am Strand lagen. Manchmal überlegte er, ob nicht auch er … Unsinn! Er hatte Seppi, und der wollte sicher nicht nach Brasilien.
Nach Abstimmung mit dem Pressesprecher gab er dem Sonntagsdienst des Tagblatts eine kurze Info durch. Die Chefin selbst hatte das Vergnügen, statt Sommerfreuden zu genießen, im Redaktions-Glashaus zu sitzen. Nette Frau, Gerhard hatte sie über die Jahre schätzen gelernt. Sie war angenehm unaufgeregt. Journalist war eigentlich ein ebenso unerfreulicher Beruf wie seiner. Unmögliche Dienstzeiten, und geliebt wurde man auch nicht besonders, wenn man den Auftritt der lokalen Theatergruppe verriss oder die Fußballer als einen »faulen Haufen« beschrieb.
ZWEI
Scio ne nihil scire.
Ich weiß, dass ich nichts weiß.
Sokrates
Der Montagvormittag verging mit Telefonaten, Recherchen – es gab keinerlei Hinweise auf den Mann.
Gegen Mittag rief Baier an. »Weinzirl, ich hätt ’ne Idee, wer der Wassermann sein könnte.«
»Ach?«
»Nix ›ach‹. Kommen Sie mal auf den Campingplatz.«
»Zelten Sie jetzt doch?«
Von Baier kam nur ein Grunzen.
»Wo find ich Sie?«
»Vor der Rezeption.«
»Na dann.«
Wieder einmal fuhr er westwärts, strauchelte in einer Baustelle am Hohenpeißenberg. Würde es diese Umgehung jemals geben?
Im Radio kam auf SWR die Til-Schweiger-Parodie. Der gute Til, den Gerhard als Tatortkommissar gottlob nicht hatte ansehen müssen. Aber Frauen gerieten ja angesichts von Nuschel-Til in wüstes Entzücken. Es war doch ein Witz in dieser Republik: Der Frauensänger Nummer eins sang, als hätte er Presswehen, »Flugzeuge im Bauch«, und der Schauspieler-Frauenschwarm vernuschelte jeden Text. »Wsslei« würde bei Til dann wohl Wasserleiche heißen. Und die brauchte nun wirklich mal eine Identität.
Als Gerhard in Steingaden einfuhr, schenkte er dem Gasthof »Graf« einen wehmütigen Blick. Es war Mittag, sein Magen knurrte, und den »Grafen« hatte er in sehr guter Erinnerung behalten. Da er erneut über Urspring fuhr, erreichte er den Campingplatz von hinten. Er musste schier endlos eine Mauer entlangfahren, das war ja ein Hochsicherheitstrakt von gewaltigen Ausmaßen hier. Gerhard parkte rechts vor dem Eingangsgebäude, wo Baier im Gespräch war mit einer Frau, der auf den ersten Blick anzusehen war, dass sie Besseres mit dem Tag vorgehabt hatte und dass sie generell keine war, die Dinge gern aus der Hand gab. In dem Fall einen Schlüssel.
»Braucht’s des jetzt?«, fragte sie mit Donnerstimme.
»Ja, ihr habt ihn doch auch nicht mehr gesehen«, meinte Baier.
»Ja i sieh doch it alle jeden Dag. Der Platz isch voll. Bin i dia Polizei? Kontrollier i alle?«
»Nein, aber ich«, sagte Gerhard. »Und wenn der Kollege Baier hier einen begründeten Verdacht hat, um wen es sich beim Toten im See handeln kann, dürfte es auch in Ihrem Interesse sein, dass wir weiterkommen. Ist ja nicht so werbewirksam, dass an Ihrem Platz Tote vorbeitreiben.«
Das war ein wenig übertrieben, aber es fruchtete. Die Dame wurde etwas milder und gab Baier den Schlüssel.
»Schön gesprochen, Weinzirl.« Baier grinste. »Kommen Sie?«
Sie durchschritten den Platz, der wirklich proppenvoll war.
Der Charme eines Campingurlaubs hatte sich Gerhard immer verschlossen. Wer hockte sich denn freiwillig dichtest auf andere, genoss deren Grillgerüche, deren Beziehungsprobleme, deren schlecht erzogene Kinder? Gerade passierten sie ein Vorzelt mit Blumenkübeln, gegenüber grinste ein Gartenzwerg debil in die Sonne. Zwei kleine Jungs fuhren ihn auf ihren BMX-Rädern fast über den Haufen, von irgendwoher knallte ihm ein Fußball vor die Brust. Der dreikäsehohe Fußballbesitzer kam herangelaufen, packte den Ball. Sauste ab, ohne Entschuldigung.
Das Gelände weitete sich etwas, und sie standen vor einem merkwürdigen Ding.
»Was ist das denn?«
»Eine finnische Grillkota«, sagte Baier, als sei das an den Gestaden des Lechsees das Normalste der Welt. »Die interessiert aber nicht, sehr wohl das Schlaffass.«
Und tatsächlich war da ein Fass, einem riesigen Weinfass gleich, liegend, farblich in Sauna-Hellbeige gehalten. Vorn hatte es eine Tür, gesäumt von zwei kleinen Bänken.
»Dadrin wohnt ein Mann. Für zwei Monate hat er das Fass gemietet. Und Walter meint, er hätte ihn seit einigen Tagen nicht mehr gesehen.«
»Und deshalb muss er gleich die Wasserleiche sein?«
»Nicht unbedingt, aber der Mann ist seltsam, sagt Walter. Er kommt auch gleich.«
»Wer, die Leiche?«
»Nein, der Walter.«
Na, das war ja mal grandios. Ein Dauercamper aus Datschiburg, der hier wohl den Platzwart gab, fand einen Mitcamper merkwürdig, und wupps: Schon wurde der zur Leiche. Wenn es darum ging, hier Menschen merkwürdig zu finden, dann würde dieser See doch übergehen vor lauter Toten. Camper waren alle merkwürdig.
Gerhard blickte sich um. Zeigte auf zwei überdimensionale Konservenbüchsen, die so aussahen, als hätte man sie mit einer noch riesigeren Blechschere in der Mitte aufgeschnitten. »Und was ist das? Die Entsorgungsanlage? Die Mülldeponie? Hätte man doch etwas besser verstecken können.«
»Weinzirl, das sind die Pods!«
»Wer?«
»Die Pods. Sie müssen mal Ihren Horizont erweitern, Weinzirl. In den Pods schläft man. Es gibt eine Szene, die reist weltweit nur dorthin, wo es Pods gibt!« Baier grinste.
Gerhard tippte sich an den Schädel.
»Weinzirl, Sie leben doch auch in Ihrem Bus.«
»Ich lebe da nicht. Ich habe durchaus eine Wohnung, die ich aber wegen Fällen wie diesem hier selten sehe. Und ein Bus ist eben ein Bus! Ein VW-Bus! Ein beweglicher Bus, den man an schönen Plätzen abstellen kann. An Einstiegen zu Skirouten, zum Beispiel. Keine am Boden festgepappte Konservenbüchse!«
Um eine achteckige finnische Grillhütte gruppierten sich Schlaffässer und Pods? Wo war er da um Himmels willen hingeraten?
In dem Moment kam dieser Walter an, begrüßte Baier überschwänglich, Gerhard sehr höflich und mit Respekt vor der Ordnungsmacht.
»Herr …?«
»Sagen Sie doch Walter! Sagen alle hier.«
»Walter, Sie meinen, dass der Bewohner des Fasses abgängig ist?«
Wie das klang! Diogenes war abgängig.
»Der war sonst jeden Morgen ganz früh auf. Nahm sein Radl und einen Rucksack und war weg. Jeden Morgen.«
»Wie früh ist früh?«, fragte Gerhard.
»Fünf.«
»Aha, und Sie waren da auch auf?«
»Ja, im Sommer sind die Morgen so schön. Noch kühl.«
»Und wann kam er dann wieder?«, fragte Gerhard.
»Meist gegen elf. Und abends ist er auch wieder weg. Immer erst in der Dämmerung. Da fragt man sich doch –« Walter brach ab, als er Gerhards finsteren Blick sah.
Nun, frühes Aufstehen und spätes Weggehen waren nun per se nicht ungewöhnlich. Aber wenn sich einer so gar nicht an den Rhythmus der fidelen Campergemeinde hielt! Gerhard fingerte ein Bild heraus.
»Ist er das?«
Walter starrte das Bild an. Lange. »Oje.«
»Ist er das?«
»Ich glaube, ja, ich meine, er sieht etwas …«
Ja, Wasserleichen waren keine Covergirls, ganz klar. Er war es also. Immerhin.
»Walter, weißt du denn, wie der Mann heißt?«, fragte Baier.
»Nein, eben nicht. Hat sich uns nie vorgestellt. Wir haben mal versucht, ihn ins Gespräch zu ziehen. Auch mal zum Grillen oder Stockschießen einzuladen. Er war immer sehr kurz angebunden.«
Nun, nicht jeder war ein Anhänger geselliger Abende bei fetter Grillwurst und Bierspezialitäten inmitten schenkelklopfender Heiterkeit. Und wenn die Biere im Fall von Walter eventuell von Hasen oder Riegele stammten, dann wäre Gerhard auch ferngeblieben. Sehr fern! Aber bei der Anmeldung würde der Diogenes ja wohl einen Namen angegeben haben. Und ein Phantom war er ja keines.
Gerhard hämmerte erst mal gegen das Fass. Nichts. Er spähte hinein, da lag ein Schlafsack. Schlapp und menschenlos. Gerhard ließ sich von Baier den Schlüssel geben und öffnete Diogenes’ Heimstatt. Rechts und links gab es im vorderen Bereich des Fasses je eine Bank, auf einer Art Empore befand sich eine Zwei-auf-zwei-Meter-Liegefläche. Walter hatte sich an Baier vorbeigeschoben. Gerhard schob ihn sanft retour. »Danke, Walter, das hier wird nun Spielwiese für die KTU.«
Gerhard zückte sein Handy, um die Kollegen anzufordern, bat Baier, die Stellung zu halten, und wollte selbst mal zur Rezeption gehen. Diogenes musste ja einen bürgerlichen Namen haben.
Die resolute Dame von vorhin ließ ihn wieder spüren, wie lästig er war, suchte ihm aber die Anmeldung heraus.
Peter Palmer, Kopie des Ausweises. Der Mann sah dem Bild leidlich ähnlich, aber als Wasserleiche sah man selten so aus wie frisch aus dem Fotoautomaten. Außerdem: Wer wusste denn, wie alt das Bild war?
Weinzirl hatte immer noch ein Führerscheinbild mit langen, wilden Locken, dem sah er heute auch nur sehr bedingt ähnlich.
Als Beruf hatte der Mann angegeben: Politologe, ganz schön viele Ps. Peter Palmer, Politologe aus Paderborn.
Er hatte für zwei Monate gebucht, hatte im Voraus bezahlt. War viel geradelt. Warum er hier war, wusste die resolute Dame nicht, aber sie hatte ja auch recht. Man fragte ja nicht jeden nach seiner Urlaubsintention. Wollte vielleicht einfach mal ausspannen. Einer der Ich-bin-dann-mal-weg-Fraktion womöglich.
Nein, man fragte doch nicht, sondern war eher froh um jeden Gast, der den Sommer in Bayern verbringen wollte, anstatt auf Malle, in Grado oder zumindest in Kärnten, das im Verdacht stand, mehr Sonne und weniger Regen hervorzubringen. Das wusste Gerhard von Jo, die als Touristikerin ja auch um jeden Gast ringen musste.
Jo sollte er längst mal wieder anrufen, aber wie so oft in ihrer langen Freundschaft war gerade wieder ein Sturmtief aufgezogen. Oder besser: das Tief war zwar inzwischen abgezogen, aber es war alles nun sehr nebulös. Jo hatte sich von Reiber getrennt, er aber mochte Reiber – und sollte ihn doch hassen. Sippenhass sozusagen.
Nachdem Jo ihn als Verräter beschimpft hatte – gut, sie hatte auch einige Ouzos bei Toni zu viel gehabt –, hatte Gerhard beschlossen, auf weniger stürmische Zeiten zu warten. Auf ein Hoch. Momentan war eben Wartezeit.
Er versuchte, sich zu konzentrieren. Also Peter Palmer jedenfalls hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Leben im schönen Bayern ausgehaucht. Der war dann mal wirklich weg.
Gerhard eilte retour zu Baier, der inzwischen eine größere Menge Campingmenschen bändigen musste. Des Menschen Neugier und Sensationslust waren eben überall gleich. Aus einem der Pods – nur einer war bewohnt – hatte sich ein junges Pärchen geschält. Er glutäugig und schwarzhaarig, sie rastalockig in Brünett. Sehr hübsch, dieses schöne Kind. Und sie war sehr jung. Die beiden wirkten verschlafen, und Gerhard packte sein rostigstes Englisch aus. Immerhin erfuhr er, dass sie aus Tel Aviv kamen und auf Pod-Europa-Trip waren. Sie wollten sich von hier aus alle Königsschlösser, München und Augsburg ansehen.
Gerhard glaubte, es aus dem Pod herausrauchen zu sehen. Musste ja auch affenheiß sein, dadrin in der Blechschachtel. Oder sie hatten ihren Joint nicht gelöscht, geruchlich sprach einiges dafür. Jedenfalls hatten die beiden den Mann seit einigen Tagen nicht gesehen. Morgens hatten sie ihn eh nie beobachtet, erst abends, wenn er häufig mit einem recht großen Rucksack in der Dämmerung davongeradelt war. Von dem Rad war keine Spur, von einem Rucksack auch nicht.
Die KTU war eingetroffen, Gerhard würde später die Allgäuer Kollegen informieren. Aber zuerst brauchte er Nahrung. Bis die KTU etwas herausgefunden hatte, konnte man die Zeit ja auch sinnvoll nutzen. Im Unterzucker konnte er nicht denken. Im Unterweißbier auch nicht. Mit Baier im Schlepptau zog er in den Biergarten des Campingrestaurants. Zumindest die Ernährungslage war hier gut. Die Bedienung brachte die zwei leichten Weißbiere und sah sie herausfordernd an.
»Ich schau grad noch«, sagte Baier.
Sie wandte sich dem Nebentisch zu, wo zwei Ehepaare die Karten studierten. Der eine Mann besprach gerade mit seiner Frau, was man denn wohl nehmen könne, als die Bedienung dazwischenfuhr.
»Wenn Sie mit Ihrer Frau redn, versteh i it, was Sie wolln.«
Ihr Ton hätte jedem Drillsergeant zur Ehre gereicht. Die vier zuckten regelrecht zusammen und bestellten jeder ganz schnell ein Schnitzel. Dabei hatten sie augenscheinlich doch eigentlich alle etwas anderes bestellen wollen.
»Potzblitz«, grinste Gerhard. »Hier herrscht aber Zucht und Ordnung.«
»Ja, gutes Personal gibt’s heute nur noch ab Slowenien«, nickte Baier, und sie beide bestellten auch ganz schnell und ausgesucht höflich. Man wollte ja nicht ins Gewehrfeuer dieser Dame geraten.
Sie aßen zudem schnell und schweigend und kehrten zum Fass zurück, wo die KTU Spuren sichergestellt hatte. Kein Blut, keine sonstigen Körperflüssigkeiten. Natürlich ein Waschbeutel, um DNA zu sichern. Ansonsten war der Bericht kurz und schnörkellos: Peter Palmer war mit leichtem Gepäck gereist, was seine Klamotten betraf. Er hatte allerdings unter der Liegefläche im Stauraum seines Diogenes-Fasses allerlei merkwürdige Werkzeuge gebunkert: Hämmerchen, Schaufeln, Pinsel, Salzsäure. Da die KTU mehrere Ladegeräte für Laptop, Handy und einen Kameraakku gefunden hatte, aber keines der Geräte, lag der Verdacht nahe, dass einer – der Mörder vielleicht – das wohl mitgenommen hatte.
Was um Himmels willen hast du hier gewollt, Peter Palmer?, fragte sich Gerhard. Nach kleiner Auszeit klang das nicht.
Baier hatte die ganze Zeit grimmig vor sich hin gestarrt. Als sie nun wieder vor dem Pod standen, waren die beiden Urlauber gerade dabei, sich auf ihre Räder zu schwingen. Sie trug nun Hotpants, die so was von hot waren. Er war ebenfalls kurzbehost und oben ohne, dieser Idiot mit diesem augenfälligen Waschbrett …
Baier raunzte nun das Pärchen an. »Did you ever see anybody else here? Or do you only live in a mist of shady shit?«
Gerhard starrte ihn an. Baier, der Mann überraschte ihn immer wieder. Konnte Englisch, und wie! Walter starrte ebenfalls.
Die beiden Israelis begannen zu stammeln.
»I’m not interested in your drugs. Was there anybody out there? Visitors? Frequently appearing visitors?«
Die beiden waren zahm wie Lämmchen und gaben alles, um sich zu erinnern, vorbehaltlich, sie hatten sich nicht schon ihr halbes Hirn weggekifft. Und was sie sagten, war doch schon mal nicht übel. Sie hatten nebst ihrem Nachbarn ein paarmal einen weiteren Mann beobachtet. Dass es ein Mann gewesen war, darüber waren sie sich einig. Im Alter zwischen vierzig und sechzig, es war ja dunkel gewesen. Sie hatten keine Gesprächsfetzen aufgeschnappt, sie würden sich auch nicht so sehr für andere interessieren, gaben sie an.
»And besides the other man in the ton?«, fragte Gerhard und horchte seinen Worten hinterher, wie das klang. Furchtbar!
Nun – sie strengten trotz seines grottigen Englischs ihre Hirne weiter an, das sah man. Und ja, ein Geistesblitz: Sie hatten den Nachbarn einmal in einem Museum getroffen. Allein sie erinnerten sich gerade nicht, in welchem. Waren so viele gewesen. Aber sie hatten ja ständig ihre Urlaubserlebnisse getwittert. Sie twitterten nämlich sehr häufig, weswegen sie eben auch all die Eindrücke durcheinanderbekamen. Bei der kulturellen Vielfalt hier. Sie würden nachsehen. An welchem Tag das gewesen sei, würden sie nachsehen. Ganz klar. Sie waren Wachs in Baiers Hand.
Nach etwas Small Talk über die Vielfalt radelten sie davon: Sie wollten um den See fahren, weiter nach Prem, den Lech queren, nach Helmenstein und dann retour. Sie hatten eine Radlkarte ausgebreitet, und Baier konnte ihnen nur zuraten. Nicht ohne darauf hinzuweisen, dass der Pfad auf der anderen Seeseite wurzelig und schmal sei. Baiers Englisch war einfach perfekt. Die beiden hatten Mountainbikes und er, dieser dämliche Schönling, erzählte Baier, dass er häufiger radle. Seine schöne Freundin nickte und himmelte den Mann an. Er, Gerhard Weinzirl, radelte auch häufiger. Aber da zerschmolz niemand.
Gerhard gab sein Wissen telefonisch an Evi weiter und versprach, gleich da zu sein. Ein »gleich«, das eine Stunde später eintrat. Kaum war er im Büro, kam ein Anruf der Gerichtsmedizin und bestätigte im Prinzip, was er spekuliert hatte.
»Ihnen muss ich ja nicht erklären, dass ein an der Luft liegender toter Körper etwa doppelt so schnell verwest wie eine im Wasser liegende Leiche. Er hatte die typische seifenartige Substanz ausgebildet, aber noch in Maßen.«
Ja, das war doch ein interessantes Phänomen. Die Substanz ließ Körper langsamer verwesen, und seine Urgroßtante Anni war da ein herrliches Beispiel. Als man nach der Ruhezeit von dreißig Jahren das Grab öffnete und weitervermieten wolle, war Anni noch gar nicht den Weg alles Irdischen gegangen, wie es sich für eine ordentliche Friedhofsbewohnerin gehörte. Der Friedhof lag nämlich in einem Moorgebiet, und da verwesen die Abgelebten einfach so zach. Im Leben war sie eben auch zach gewesen, die Anni.
Der Gerichtsmediziner hatte zudem Treibspuren festgestellt. Da Wasserleichen meist in Bauchlage von Strömungen und fließenden Gewässern fortbewegt werden, fand man Treibspuren vor allem am Kopf oder Knien und Fußspitzen.
»Das heißt, er ist weiter oben reingeworfen worden?«
»Das nehme ich an. Da müssen wir aber noch genauer zu den Strömungsverhältnissen im Lech recherchieren. Was ich Ihnen aber auch noch sagen kann: Er war beidseitig mit irgendetwas beschwert.«
»Ja, das eine Teil hing da ja noch. Was ist das?«
»Habe ich weitergegeben. Merkwürdiges Teil. Am anderen Knöchel haben wir Rückstände gefunden. Von einem Expander, nehme ich an. Der war weniger haltbar, das Gewicht hat sich wohl gelöst.«
Na, da hatte der launige Notarzt ja richtig vermutet. Schlechte Arbeit.
»War er da schon tot?«
»Ohne Frage. Die Verletzungen sind post mortem.«
»Und wann ist er gestorben?«
»Herr Weinzirl, Sie sind doch Profi. Wir haben einen Leichnam, der wohl sofort untergegangen ist. Er war beschwert, er wird also nicht noch wegen der im Körper enthaltenen Luft an der Wasseroberfläche getrieben sein. Sie wissen auch, dass sich etwa ab dem siebten Tag Fäulnisgase durch die Zersetzung bilden. Berechnen wir hier mal die Wassertiefe und die Temperatur ein, haben wir nicht den Fall von flachen, sehr warmen Sommergewässern, wo der Auftrieb schnell geht. Dann müssen wir das Verhältnis von Abtrieb und Auftrieb berechnen, geringe Kräfte wie Wurzelwerk oder Wasserpflanzen können eine Leiche unter Wasser halten, hier hatten wir eine Beschwernis.«
Er holte Luft. Ja, eine Beschwernis hatten sie. Wie wahr! Gerhard fühlte sich auch schwer, fast schwermütig.
»Es ist ja fraglich, wann sich das Gewicht gelöst hat. Welches Ereignis ihn zum Auftreiben bewegt hat, wissen wir auch nicht. Erinnern Sie sich an Tom Sawyer? Wo man eine Kanone dicht über der Wasseroberfläche des Mississippi abfeuerte, um die potenziell ertrunkenen Jungs durch die Erschütterung zum Aufsteigen zu bewegen. Gut erdacht von Mark Twain.«
»Da aber am Lechsee keiner eine Kanone abgefeuert hat, wie lange war er unter Wasser?«
Der Ton des Gerichtsmediziners wurde schmerzensreich. »Zwölf bis siebzehn Tage. Genauer kann ich es nicht eingrenzen.«
Na prima, wie wollte er da Alibis überprüfen? »Wo waren Sie vor zwölf bis siebzehn Tagen, und bitte sagen Sie uns genau, was Sie jede Stunde so getrieben haben.« Gerhard schluckte den Frust hinunter. »Und an was ist er gestorben?«
»Tja, das ist eben der Casus knacksus«, wand sich der Arzt.
»Sie wollen sagen, Sie wissen es nicht? Er wurde nicht einfach ertränkt?«
»Lieber Herr Weinzirl, nein, nicht einfach so. Als er zu Wasser gelassen wurde, war er bereits mausetot. Der Mann hat uns nicht mit Einschusslöchern oder Würgemalen erfreut. Wir sind dran. Ich tippe auf eine Vergiftung. Das ist alles etwas merkwürdig. Er hatte eine sehr stark geschädigte Leber. Die Tests laufen noch. Ich wollte Ihnen schon mal einen Zwischenstand geben.«
Gerhard schluckte. »Sie wollen sagen, er wurde mit etwas vergiftet, dann beschwert, in den Lech gehängt, hat sich losgerissen und ist an der Staustufe herausgeploppt?«
»Was ist er?«, fragte der Arzt.
»Egal! War das die Reihenfolge?«
»Nehme ich an.«
»Wann glauben Sie denn mehr zu wissen?«
»Wenn ich’s weiß. Ich melde mich dann umgehend.« Klack, aufgelegt!
Na, das waren ja mal interessante Neuigkeiten. Erst vergiftet und dann den Lechwässern überantwortet. Da hatte sich einer richtig Mühe gegeben.
Evi kam herein, sie hatte rote Bäckchen, was bei ihrem makellos blassen Teint selten vorkam. Aber Evi war auch richtig aufgeregt. »Ich hab in meinem Büro den Kollegen in Paderborn dran. Ich meine den, der Familie Palmer über das Ableben des Herrn Peter Palmer informieren sollte.«
»Ja, und?«
»Komm mit in mein Büro. Ich hab auf Freisprechen gestellt, das willst du auch hören.«
Wollte er? Eigentlich wollte er was zu trinken.
Was der Kollege zu berichten hatte, war aber in der Tat anders als erwartet. Sie waren da oben also ausgerückt zu Frau Palmer, die Ärztin war, Teilzeit arbeitete, an diesem Tag anwesend war und gerade dabei, ein Nudelgericht zuzubereiten. Für den lieben Gatten und den Sohn, einen Studikus, der aber noch zu Hause wohnte.
Der Preißn-Kollege in Paderborn war wohl ein pfiffiges Kerlchen und folgerte, dass eine Frau, die für ihren Mann kochte, das kaum täte, wenn dieser seit circa zwei Wochen im Lech geschwommen war. Er tastete sich vor, denn es hätte ja auch sein können, dass die Frau einfach Rituale aufrechterhielt. Man kannte das ja: Menschen deckten den Tisch für einen Verstorbenen, der längst schon in Rauch aufgegangen war oder mit den Würmern schlief.