Hans Christoph Buch

Das rollende
R der Revolution

Lateinamerikanische Litanei

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Umschlag: Matthias Vogel (paramikron), Hannover

Umschlagfotos: © Meddy Popcorn und

Christof Lippmann - Fotolia.com (U1); privat (U4)

Satz: thielen VERLAGSBÜRO, Hannover

(Gesetzt aus Sabon und The Sans Bold)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783866743427

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Hans Christoph Buch

Editorische Notiz

Prolog

»Drei Mohren«

I. Haiti und kein Ende der Gewalt

Ein See ohne Namen oder die hundert Tage des Gérard Latortue

Wer erschoß Urano Bacellar?

La misteriosa señora Lehmann

Erstaunliche Reisende

II. Kuba und kein Ende der Diktatur

Nur die Cuba-Sí-Fraktion sagt Ja zu Kuba

Blumen an Stalins Grab: Zum Che-Guevara-Kult

Herren der Finsternis: Fidel Castro und Augusto Pinochet

Lob des Elfenbeinturms

Nach mir die Sintflut

III. Poeten und Diktatoren. Literaturbericht (1)

Späte Wiedergutmachung

Anleitung zum Tyrannenmord

Fünf Stück Zucker

IV. Bananenrepublik ohne Bananen

Hurrikan Hugo oder die Stille im Auge des Sturms

Nachtrag: Achse der Guten?

Von der Tragödie zur Farce: Nicaragua revisited

Zwischen Narco-Ästhetik und Para-Politik: Kolumbien am Scheideweg

Die Tochter des Philosophen und der Bruder des Nobelpreisträgers

V. Die Konquistadorin. Literaturbericht (2)

Sisyphus in der Karibik

Transzendentale Obdachlosigkeit

Ja, ja – nein, nein!

VI. Nachrichten aus Nord und Süd

Blick zurück nach vorn: Chiles Intellektuelle und die Schatten der Vergangenheit

Michelle Bachelet, die Mater Dolorosa der Nation

Die Farm am Ende der Welt. Impressionen aus Feuerland

Pancho Villa reitet – Mexikos permanente Revolution

Epilog

Natur, diese ewige Antike und Moderne zugleich

Fußnoten

Hans Christoph Buch, Jahrgang 1944, Erzähler, Essayist und Reporter, lebt, wenn er nicht gerade auf Reisen ist, in Berlin.

In den vergangenen Jahren sind von ihm erschienen: »Blut im Schuh« (2001), »Wie Karl May Adolf Hitler traf« (2003) und, bei zu Klampen, »Standort Bananenrepublik« (2005) sowie »Black Box Afrika. Ein Kontinent driftet ab« (2006).

Editorische Notiz

Die in Zeitungen oder Zeitschriften (Frankfurter Allgemeine Zeitung, DIE ZEIT, Die Welt u. a. m.) erschienenen Beiträge des Bands wurden für die Buchveröffentlichung vom Autor überarbeitet, aktualisiert und, je nachdem, erweitert oder gekürzt.

PROLOG

Nein, dies ist nicht die Kurzfassung eines Romans von Gabriel García Márquez – das Gedicht von H. C. Artmann stammt aus den frühen siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als der Siegeszug des Weltbestsellers »Hundert Jahre Einsamkeit« gerade erst begann. Alle Ingredienzien des Exotismus, der Lateinamerikas Literatur so unwiderstehlich erscheinen ließ, sind hier auf kleinstem Raum versammelt: Sex und Gewalt, menschenverachtende Sklaverei, schnöde Tyrannei und gewalttätige Revolution – nicht zu vergessen die verführerische Kreolin, die dem Kolonialherrn das Gift kredenzt: ein berauschender Cocktail, der, damals wie heute, süchtig machte nach mehr.

Das Paradox liegt darin, daß H. C. Artmann, kosmopolitisch und polyglott wie kaum ein anderer Dichter, nie in Lateinamerika gewesen ist. Im Gegenteil, der Wiener Dandy, der sich gern als Schotte oder Ire kostümierte, ein weltreisender Gentleman wie Sir David Lindsay bei Karl May, war fest im Boden seiner Heimatstadt verwurzelt, der er in seinen Dialektgedichten »med ana schwoazzn dintn« ein Denkmal setzte. Artmann war ein Heimatdichter, der im Heißluftballon der Phantasie ferne Länder überflog, ohne seinen Stammplatz im Café Hawelka oder bei Pieper am Nollendorfplatz zu verlassen – später kamen Salzburg und Graz, Dublin und Rennes als Wohnorte hinzu. Zwar hatte er Lorca, Calderón und Quevedo übersetzt, aber das heißt nicht, daß Artmann fließend spanisch sprach und die im Gedicht geschilderte Welt mit eigenen Augen gesehen hat. Als er mich 1964, von Malmö kommend, in Kopenhagen besuchte und keiner sein holpriges Dänisch verstand, schüttelte er verächtlich den Kopf und murmelte: »Die sprechen a ganz a verdorbenes Dänisch hier.« Eine unfreiwillige Bestätigung seiner Theorie des poetischen Akts, der Artmann zufolge darin besteht, daß man »Dichter sein kann, ohne irgend jemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben«.

Die Bevorzugung der mündlichen vor der schriftlichen Sprache zeigt sich auch darin, daß der Autor abwechselnd Café und Kaffee schreibt und den Leser im Unklaren läßt, ob die Kreolin ein Kosewort oder ein Codewort benutzt, um den Geldschrank zu öffnen. Der paßt genauso wenig ins koloniale Ambiente wie der Flachmann, aus dem die Mohren Schnaps trinken: gezielte Verstöße gegen die Logik des Texts, die wie die bei Artmann häufigen Anachronismen Markenzeichen seiner Dichtung sind.

H. C. Artmann war in vielen Sprachen und Kulturen zu Hause, aber was ihn fasziniert hat, war nicht die sogenannte Realität, sondern deren Surrogat, bestehend aus Versatzstücken der Trivialliteratur, aus Filmen und Comic Strips – von Micky Maus über Sherlock Holmes bis zum Raumschiff Enterprise. Solche zu Klischees erstarrten Fragmente abgesunkenen Kulturguts hat er neu zusammengesetzt zu Sprachkunstwerken, die über die bloße Parodie hinaus ein überraschendes Eigenleben entfalten – das vorliegende Gedicht ist das beste Beispiel dafür.

Doch Artmann begnügt sich nicht damit, satirische Funken zu schlagen, indem er triviale Erzählmuster aufgreift und in ungewohnte Zusammenhänge transponiert: Im Bild des rebellischen Ara hat der Dichter sich selbst porträtiert und zugleich den revolutionären Zeitgeist der siebziger Jahre ad absurdum geführt, indem er den Papagei die »Internationale« trällern läßt: »das bunte lied der arbeit/​macht alle menschen frei«– eine vergnügliche Pointe, die Artmanns literarisch-politisches Credo: »ein brechmittel der linken, ein juckpulver der rechten«, adäquat illustriert.

Postskriptum

Das Gedicht vollführt eine doppelte Bewegung: Die Klischees der Exotik, die sich bekanntlich auf Erotik reimt, werden im gleichen Atemzug bestätigt und entzaubert, indem der Dichter sie durch Parodie unterläuft. Artmann nimmt ein Paradigma aufs Korn, das unsere Wahrnehmung Lateinamerikas ein Vierteljahrhundert lang prägte, von Anfang der siebziger bis Mitte der neunziger Jahre. Im Vergleich zum schwierigen Interessenausgleich und langweiligen Parteienproporz moderner Industriestaaten schien in der Dritten Welt die Welt noch in Ordnung zu sein, weil Gut und Böse aus antiimperialistischer Sicht klar zu unterscheiden waren: Rechte Todesschwadronen folterten und mordeten im Auftrag einer moralisch verkommenen Supermacht, linke Guerilleros hingegen waren edelmütig, hilfreich und gut und töteten nur dann, wenn der Feind sie dazu zwang. Die Gewalt, die den Europäern erspart blieb, delegierten diese stellvertretend nach Lateinamerika, wo sie sich ungebremst austoben durfte – je schlimmer, desto besser: Die Revolution war ein blutiges Steak vom Holzkohlengrill, scharf angebraten und noch schärfer gewürzt. Daß sie auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wurde, und daß linker Terror sich in seinen Auswirkungen für die Betroffenen von rechtem Terror kaum unterschied, fiel nur wenigen Beobachtern auf. Einer von ihnen war der amerikanische Reporter Carleton Beals, der 1928 den Partisanengeneral Augusto Sandino in dessen Guerilla-Camp interviewte. In seinem Buch »Banana Gold«, während der sandinistischen Revolution Pflichtlektüre in Nicaragua, schreibt Carleton Beals:

»Kurioserweise stimmt die Denkstruktur eines nordamerikanischen Imperialisten mit der eines südamerikanischen Kommunisten weitgehend überein. Beide schwimmen in einem Meer von Irrealitäten. In Nicaragua oder Haiti braucht der Imperialist die politische Realität nicht zu berücksichtigen, weil er dort die Macht hat. Der Kommunist dagegen braucht sich um die politische Realität der USA nicht zu kümmern, weil er dort keine Macht hat. Der eine kämpft für das Wohlergehen der Menschheit, der andere für die Modernisierung unterentwickelter Länder. Beide glauben an einen Fortschritt, der sich in Form von Schulen und Hospitälern, Glühbirnen und Automobilen ausdrückt, und beide maßen sich das Recht an, fremden Völkern mit Gewalt ihre Ideale aufzuzwingen.«

I.
HAITI UND KEIN ENDE
DER GEWALT

»Haiti is the best nightmare on earth … «
Herbert Gold

Ein See ohne Namen
oder die hundert Tage des Gérard Latortue

Juli 2004

Der Pilot signalisiert mit hochgestelltem Daumen, daß der Hubschrauber startklar ist, und ich laufe im vorgeschriebenen Winkel von 45 Grad auf die Einstiegsluke zu, zwänge mich auf den schmalen Sitz, lasse den Sicherheitsgurt einrasten und stülpe den Kopfhörer über, aus dem unverständliche Befehle gellen. Unter uns liegt der Inlandsflughafen von Port-au-Prince, von dem aus im Zehnminutentakt Transporthubschrauber und Kleinflugzeuge starten, um UN-Soldaten und humanitäre Helfer in entlegene Landesteile zu befördern. Am Rand des Rollfelds sind rostige Büro-Container aufgereiht, Überbleibsel der US-Militärintervention vom Herbst 1994, die als Ersatzteillager und Reparaturwerkstätten dienen. Zehn Jahre nach Landung der Marines steht erneut ein Großeinsatz auf dem Programm, diesmal unter Federführung der Vereinten Nationen: Brasilien übernimmt das Kommando der Blauhelme, während Frankreich und die USA ihre beim Sturz des Präsidenten Aristide nach Haiti entsandten Truppen von dort wieder abziehen.

Wir überfliegen einen mit NATO-Draht eingezäunten Fahrzeugpark: Lastwagen, Jeeps und Landrover internationaler Organisationen, von Militärpolizisten bewacht. Eine Bäuerin reitet an dem Sandsackverhau vorbei; beim Anblick der bewaffneten Posten spornt sie ihren Esel zu größerer Eile an. Unter uns jetzt ein ausgetrocknetes Flußtal, das an Stelle von Wasser nur Sand und Steine führt; steile Berghänge, in die Erdrutsche klaffende Wunden gerissen haben. Beim Anflug wird ein lehmgelber Wasserlauf sichtbar, in dem LKW-Fahrer ihre Autos waschen; zwischen Geröllhalden und Schlammlawinen bahnt sich der über die Ufer getretene Fluß ein neues Bett. Haiti ist ein ökologisches Katastrophengebiet, und erst aus der Vogelperspektive wird das Ausmaß der Zerstörung sichtbar. Anders als die benachbarte Dominikanische Republik, die ihre Waldgebiete schützt und systematisch aufforstet, ähnelt Haiti einer Mondlandschaft. Die Bergwälder wurden abgeholzt und zu Bauholz oder Holzkohle verarbeitet, und sturzbachartiger Regen spült die fruchtbare Erde ins Meer, wo sie Korallenriffe und Strände mit Schlick überzieht. Lavalas ist das kreolische Wort für Erdrutsch oder Überschwemmung: Ironischerweise hieß so die Massenbewegung, die den Befreiungstheologen Jean-Bertrand Aristide aus den Slums in den Regierungspalast katapultierte – und wieder hinaus. »Lavalas bedeutet nichts Gutes«, meint Jean-Claude Bajeux, Menschenrechtsaktivist und Kulturminister im ersten Kabinett Aristide, zu dem er frühzeitig auf Distanz ging: »Aristide war kein Befreiungstheologe, sondern ein skrupelloser Machtpolitiker und Pate des Medellinkartells, der seine wahren Absichten hinter populistischer Demagogie verbarg. Nach seinem Abgang bleibt, wie bei einer Überschwemmung, nur übelriechender Schlamm zurück.«

Die Metapher ist wörtlich zu nehmen, denn wir sind unterwegs nach Mapou, einem Dorf im Grenzgebiet zur Dominikanischen Republik, das durch sintflutartigen Regen von der Außenwelt abgeschnitten worden ist. Unter uns ein mit Felstrümmern übersätes Hochplateau, überragt vom umwölkten Massiv des Morne la Selle, mit 2700 Metern höchster Gipfel des Landes, dessen Relief ein britischer General einst mit zusammengeknülltem Packpapier verglich. Nach halbstündigem Helikopterflug kommt die Südküste Haitis in Sicht. Wir überqueren eine von schroffen Felsen umrahmte Bucht, gleiten im Sinkflug über einen See, dessen giftgrünes Wasser die Abluft der Rotoren in wellenförmige Bewegung versetzt, und landen, außer Sichtweite des Meeres, auf einem mit Kreuzen markierten Fußballfeld. Der Hubschrauber wirbelt Staubwolken auf, hinter denen ein mit Plastikplanen umzäunter Compound sichtbar wird: Zelte mit dem Logo des Welternährungsprogramms, in denen Lebensmittel lagern, bewacht von Aufpassern in Overalls, die mit Stöcken auf Frauen und Kinder einschlagen, um sie davon abzuhalten, das Flugfeld zu stürmen.

»Willkommen in Mapou«, sagt ein Franzose mit schmutzigem T-Shirt und Sechstagebart, der wie alle humanitären Helfer hier so ausgebrannt wirkt, als werde er jeden Augenblick umfallen. Joseph ist Bauingenieur von Beruf und seit drei Wochen in Mapou – durch Zufall, wie er sagt: Das Rote Kreuz hatte ihn nach Guadeloupe geschickt, als die Nachricht von der Überschwemmung dort eintraf. »Die meisten Entwicklungshelfer sitzen untätig in klimatisierten Büros herum und räkeln sich lieber am Swimmingpool des Hotels, als die Ärmel hochzukrempeln und sich die Hände schmutzig zu machen. Schreiben Sie das ruhig, aber erwähnen sie meinen Namen nicht!«

Joseph war als einer der ersten am Unglücksort, drei Tage, nachdem tropischer Regen einen Erdrutsch ausgelöst hatte, der mehrere Dörfer mitsamt ihren Bewohnern unter sich begrub. Das angrenzende Tal lief voll Wasser. Obwohl die Menschen vorgewarnt waren – schon 1996 hatte eine Sturzflut 36 Personen getötet – wurden sie in ihren Hütten von der Schlammlawine überrollt. Niemand hat die Toten und Vermißten gezählt, die unter meterhohem Geröll begraben liegen: Ihre Gesamtzahl wird auf 2000 geschätzt – genaue Angaben gibt es nicht. »Das war der Höchststand der Überschwemmung«, sagt Joseph und zeigt auf einen aus dem See ragenden Palmstrunk, an dem er mit Farbband den Pegel markiert. »Pro Woche geht das Wasser um einen halben Meter zurück, aber der See ist immer noch sieben Meter tief. Das Problem ist illegaler Holzeinschlag«, fährt er fort, während er sein Moped durch überschwemmte Maisfelder steuert und im Slalom die Schlammlöcher umkurvt – nur mit Mühe halte ich mich auf dem Rücksitz fest. »Die Leute hier kochen mit Holzkohle – andere Energiequellen gibt es nicht. Dabei wäre die Umstellung auf Flüssiggas, verbunden mit Aufforstung, die beste Garantie gegen eine Wiederholung der Katastrophe. Noch dazu wehren die Anwohner sich gegen die Umsiedlung in höher gelegenes Terrain, wo sie vor Überflutungen sicher sind, obwohl sie das Baumaterial gratis bekommen.«

Ich frage Joseph, wie er den Einsatz in Mapou physisch und psychisch verkraftet hat. »Am schlimmsten war der Anblick der von der Hitze aufgedunsenen Leichen, die wir aus dem Wasser gezogen, mit Chlor desinfiziert und in Massengräbern beigesetzt haben.« Beim Gedanken an den pestilenzialischen Gestank schüttelt er sich und meint, ohne den Beistand einer professionellen Psychologin hätte er schlapp gemacht.

»Jeder stößt hier irgendwann an seine Grenzen«, sagt Eva Paglia von der Hilfsorganisation Médecins sans frontières; die 35jährige kommt aus Rom und war vorher im Kosovo und in Burundi stationiert. »Wer einen bestimmten Punkt überschreitet, gerät in Panik, weil die Grenzen des Zumutbaren von Person zu Person unterschiedlich sind. Ich mache den Betroffenen ihre Grenzen bewußt, ausgehend vom Verhaltenskodex ihrer traditionellen Kultur: Wir bevorzugen die Gesprächstherapie, aber die Haitianer veranstalten lieber eine Voodoo-Zeremonie und tanzen sich Trauer und Ängste vom Leib.« Sie selbst sei unfähig, Leichen aus dem Wasser zu fischen, fügt Eva Paglia hinzu und stochert in einer Schüssel mit Makkaroni herum, aber sie könne anderen dabei helfen, mit ihren traumatischen Erlebnissen fertigzuwerden.

Die Italienerin macht mich mit zwei kubanischen Ärzten bekannt, die seit der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen im Landesinnern von Haiti tätig sind – ein Hilfsprogramm mit bescheidenem Budget und maximalem Effekt. Als die Kubaner von der Flutkatastrophe hörten, setzten sie sich sofort in Marsch – zu Fuß, weil Erdrutsche die Straßen blockierten. »Es war die Hölle«, sagt Dr. Escobar, der Frau und Tochter in Havanna zurückgelassen hat: »Ein Gewirr von Baumstämmen und Ästen, Felsbrocken und Geröll, in dem Überlebende nach ihren Angehörigen suchten. Verschüttete und Verletzte riefen verzweifelt um Hilfe, andere waren so traumatisiert, daß sie kein Wort herausbrachten.«

Wie tief der Schock sitzt, zeigt sich, als kurz darauf eine junge Mutter mit einer klaffenden Halswunde in die Krankenstation gebracht wird: kein Opfer der Flut, sondern des Streits mit einer Nachbarin, die bei der letzten Lebensmittelzuteilung leer ausging. »Die Leute hier sind am Rand des Nervenzusammenbruchs«, sagt Dr. Escobar, während er die Wunde desinfiziert und das Blut zu stillen versucht, »und ich bin es auch. Kein Wunder, nach neun Monaten in Haiti: Ich habe Denge-Fieber und jede Nacht Alpträume!«

Ehe wir Mapou verlassen, fahre ich mit Joseph im Schlauchboot über den durch die Überschwemmung entstandenen See, der noch keinen Namen hat. Gummisandalen und verfaulte Mangos treiben im Wasser, aus dem Verwesungsgeruch steigt. Nur die Dachfirste der Häuser sind zu sehen – darin die im Schlaf überraschten Bewohner, für die jede Hilfe zu spät kam. Das Kreuz einer Kirche ragt aus dem See, mit der wie ein Hohn klingenden Aufschrift: Dieu seul me voit – Gott allein sieht mich. Der aus dem Nachbarort stammende Bootsführer berichtet, er habe über hundert Leichen aus dem Wasser gezogen, unter ihnen persönliche Freunde und Bekannte. Er klagt über schlechte Bezahlung, da er mich für den Chef einer Hilfsorganisation hält, die ihm Geld schuldet.

Vor dem Abflug führt ein zwölfjähriger Junge mir einen Spielzeug-Hubschrauber vor, den er selbst gebastelt hat, inspiriert von der Luftbrücke, die kubanische Ärzte und US-Marines nach Mapou transportiert – trotz politischer Gegnerschaft klappt ihre Zusammenarbeit reibungslos. Aber kein Vertreter der Regierung Haitis und kein einheimischer Arzt ist vor Ort, obwohl oder weil es in Montreal und Miami mehr haitianische Ärzte gibt als in Port-au-Prince.

Schon bei meinem ersten Haiti-Besuch vor 36 Jahren dachte ich, der Tiefpunkt sei erreicht und es könne nur besser werden. Stattdessen hat sich der Zustand der Inselrepublik – und mit ihm der Seelenzustand ihrer Bürger – katastrophal verschlechtert. Haiti ist nur noch für Horrormeldungen gut, obwohl es nach dem Sturz des falschen Propheten Aristide wieder einen Hoffnungsschimmer gibt – so zynisch das klingt. Die von einem »Rat der Weisen« berufene Übergangsregierung besteht aus Fachleuten, die nicht aus den total diskreditierten politischen Parteien kommen, sondern aus der sogenannten Diaspora. Nach der für Herbst nächsten Jahres geplanten Präsidentschaftswahl geben sie die Macht an eine demokratisch gewählte Regierung ab – ein Novum in Haiti, wo jeder Politiker Präsident auf Lebenszeit werden will.

Ich frage Premierminister Latortue, wie er den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt durchbrechen will und wodurch sein Kabinett sich von früheren Regierungen unterscheidet. »Ich habe mein Handwerk in internationalen Organisationen gelernt«, sagt Gérard Latortue, der mich in einer klassizistischen Villa empfängt, die dem Polizeichef der Hauptstadt gehörte, bevor dieser vor dem Regime von Papa Doc ins Ausland floh. »Meine Arbeit bei den Vereinten Nationen in Wien und New York beruhte auf Konsens und Kompromiß – demokratische Tugenden, ohne die ein Rechtsstaat nicht funktioniert und die in Haiti unbekannt sind. Ich treffe mich regelmäßig mit Vertretern aller Parteien und Sprechern der Zivilgesellschaft, und meine Tür steht offen für die Anhänger von Ex-Präsident Aristide, sofern sie keine Drogenhändler und Mörder sind. Die Festnahme meines Amtsvorgängers Yvon Neptune hat nicht die Regierung angeordnet, sondern ein unabhängiges Gericht, und ich habe für menschenwürdige Haftbedingungen gesorgt!«

Ich will wissen, wie Latortue die Sicherheitslage verbessern will. Wird der demnächst beginnende Wahlkampf die Gewaltspirale nicht erneut ankurbeln? »Die Polizei hebt täglich Waffenlager aus und nimmt Übeltäter fest, und die Bevölkerung hilft ihr dabei. Aristides Schlägertrupps, die Chimères, sind isoliert, und seine Streikaufrufe werden nicht mehr befolgt. Die UN-Truppen sorgen für Sicherheit, und befreundete Staaten haben uns Hilfe zugesagt: Fließendes Wasser und elektrisches Licht sind die beste Garantie gegen politische und kriminelle Gewalt!« Nach einem Blick auf die Uhr setzt der 69jährige hinzu, er habe keine Ambitionen auf das Präsidentenamt und ziehe sich lieber heute als morgen in den Ruhestand zurück.

Gérard Latortues Pragmatismus hat Seltenheitswert in einer politischen Kultur, die auf Verbalradikalismus beruht. »Köpfe abschneiden und Häuser anzünden«, lautete die Devise von Haitis Staatsgründer Dessalines, und die bewaffneten Anhänger des gestürzten Präsidenten Aristide nehmen das martialische Motto beim Wort.

Im Lauf der Nacht geht die Rue des Fronts-forts, eine Geschäftsstraße im Zentrum von Port-au-Prince, in Flammen auf; über dreißig Läden und Depots, in denen Marktfrauen ihre Waren lagern, brennen völlig aus. Anwohner wollen Brandstifter mit Benzinkanistern gesehen haben; der Feuerwehr fehlt das Löschwasser, und nur durch ein Wunder kommt niemand ums Leben. Gleichzeitig wird gemeldet, daß in Haitis zweitgrößter Stadt Gonaives der Großmarkt in Flammen steht, während ein Auftragsmörder in Port-au-Prince den Chef der Air France erschießt – vor den Augen seiner französischen Frau. Und als sei es damit nicht genug, wird bekannt, daß ein Enkelkind des neuen Staatschefs im Präsidentenpalast in der Badewanne ertrank – in den Augen der abergläubischen Bevölkerung kein Unfall, sondern die Folge eines Voodoo-Fluchs. Zwar gibt es dafür keinen Beweis, aber in Haiti wird jedes abwegige Gerücht bereitwillig geglaubt – so als sei die Wirklichkeit nicht schon makaber genug.

Wer erschoß Urano Bacellar?

Januar 2006

Am 3. Oktober 2005 feierte die Deutsche Botschaft in Port-au-Prince den 15. Jahrestag der Wiedervereinigung. Es gab Leberkäse von einem bayerischen Metzger in Santo Domingo, und der Chor des deutsch-haitianischen Kulturinstituts sang die Nationalhymne. In der Schlange vor dem Büffet kam ich ins Gespräch mit einem Viersternegeneral, dessen Name so lang war, daß er mir sofort wieder entfiel: Urano Teixeira da Matta Bacellar war sechs Monate zuvor aus Brasilien nach Haiti gekommen, um den Oberbefehl über 7.400 hier stationierte UN-Soldaten zu übernehmen, die seit Sommer 2004 mit wechselndem Erfolg versuchen, das Land zu befrieden und ein »sicheres Umfeld« für Neuwahlen zu schaffen. Ich fragte den trotz seiner 39 Dienstjahre jung wirkenden General, was er über Haiti wisse und ob er das Land verstehe?

»Das ist nicht nötig«, sagte Bacellar auf spanisch mit portugiesischem Akzent: »Ich bin kein Soziologe oder Ethnologe, sondern Soldat, und ich erledige hier nur meinen Job.«

An diese durch ihre Ehrlichkeit verblüffende Antwort mußte ich denken, als ich die Nachricht bekam, daß General Bacellar sich auf dem Balkon seines Hotels in Port-au-Prince mit seiner Dienstpistole erschossen hat. Das im Nobelvorort Pétionville gelegene Hotel Montana dient als informelles UN-Hauptquartier UN-Truppe