Der 15-jährige Leon weiß genau, was er will: Profi-Fußballer werden. Für seinen Traum trainiert er hart, nutzt jede freie Minute. Mit Erfolg, denn er grätscht sich geradewegs ins Internat des FC Bayern. Leon glaubt, seinem Ziel ganz nahe zu sein, doch sein Mitschüler Sandro sieht in ihm einen gefährlichen Konkurrenten und spielt mit fiesen Tricks. Als Leon sich auch noch verletzt und das Vertrauen zu seinem besten Freund Aras schwindet, droht alles zu zerbrechen. Schließlich kommt es zu einem dramatischen Spiel, in dem es für Leon um alles geht.
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Vita
Danksagung
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Für alle, die nach den Sternen greifen.
Streckt euch weiter.
Bis ihr sie berührt.
Genau wie Leon in diesem Buch und vielen anderen Jugendlichen, die davon träumen, Fußballprofi zu werden, erging es auch mir. Auf dem Weg zur Erfüllung dieses Traumes musste ich immer wieder Stolpersteine überwinden. Es war eine große Herausforderung, das Gymnasium mit den vielen Trainings und Spielen zu verbinden. Und mir stellte sich oft die Frage, ob es sich lohnt, viel von der Kindheit für den Traum von der Bundesligakarriere zu opfern. Vor allem weil ich bis zu meiner ersten A-Jugend-Saison nie als besonders talentiert galt – und wohl auch nicht war.
In diesem Jahr dann habe ich allerdings gemerkt: Ich kann mit den besten Spielern meines Alters mithalten. Als ich das erkannte, entflammte endgültig das Feuer in mir, es »nach oben« schaffen zu wollen. Davor hatte ich es einfach nur geliebt, Fußball zu spielen – ohne die realistische Vorstellung zu haben, dass ich Profi werden kann. Und das allein kann Grund genug sein, um es zu schaffen.
Viele Kinder und Jugendliche fragen mich, was man tun muss, um Fußballprofi zu werden. Meine Antwort: Sie sollen einfach Spaß haben, so viel spielen wie möglich und sich auf dem Platz austoben. Das ist meiner Meinung nach die wichtigste Vorrausetzung, um auch schwierige Situationen zu meistern.
Mats Hummels
Leon sieht noch, wie sich seine Stollen in den Oberschenkel des Jungen bohren. Ein fetter Tropfen Blut spritzt ihm entgegen. Kommt wie in Zeitlupe immer näher. Leon schließt reflexartig die Augen und kracht auch mit dem Oberkörper in den Jungen.
Als er die Augen wieder aufmacht, liegt der Junge im blau-weißen Trikot vor ihm. Er schreit vor Schmerz und hält sich das Bein. Der Ball liegt frei zwischen den beiden. Leon reagiert sofort, legt noch im Liegen sein rechtes Bein um den Ball und wirft seinen Blick in Richtung des Schiedsrichters, der aus der anderen Spielfeldhälfte auf sie zuläuft. Der Schiri sieht irgendwie aus wie Matthias Schweighöfer, denkt Leon. Dann konzentriert er sich wieder. Und der Schweighöfer-Schiri reißt die Arme hoch. Die Geste für: Weiterspielen! Guter Mann, findet Leon. Er hat ja nicht nur den Jungen getroffen, sondern auch den Ball gespielt, da ist er ganz sicher. Die Grätsche hat sich gelohnt. Leon wundert sich kurz über sich selbst. Seine Freunde sagen, er sei der liebste Mensch überhaupt auf der Welt. Außerhalb des Spielfeldes. Aber auf dem Fußballplatz, da gibt es kein Mitleid. Da gibt es nur Gewinnen oder Verlieren. Und für Leon gibt es nur Gewinnen.
Er reagiert jetzt blitzschnell, drückt sich mit den Armen vom Rasen ab. Er glitscht weg, der Platz in Oberaudorf ist an diesem Sonntagnachmittag nach einer Woche Dauerregen völlig aufgeweicht. Zwei andere Jungs in blau-weißen Trikots rauschen ihm entgegen. Leon macht einen Übersteiger nach rechts und ist damit den einen schon mal los. Der andere Gegenspieler steht jetzt direkt vor ihm und Leon spitzelt ihm den Ball mit seinem starken linken Fuß durch die Beine. Getunnelt. Höchststrafe, Dicker!, denkt Leon und ihm huscht ein Grinsen über das Gesicht.
Er sprintet mit dem Ball am Fuß auf die Linie des 16 Meter-Raums zu. Zwei gegen zwei, come on jetzt, Mann, hört er eine Stimme in sich sagen. Vor ihm haben sich zwei Abwehrspieler aufgebaut. Der eine ist tief in die Knie gegangen und lauert darauf, dass Leon ihm mit seiner Körperhaltung verrät, auf welcher Seite er an ihm vorbeiwill. Der zweite Verteidiger stellt den Raum zu.
Leon sieht, wie Marko links neben ihm auf das Tor zuläuft und mit der Hand nach vorn zeigt. Das Zeichen für: Hier, spiel mir in den Lauf! Wie oft haben sie das im Training geübt …
Viermal die Woche, immer wieder. Pressing, Laufweg, Abschluss. Aber im Spiel ist eben alles schwieriger. Normalerweise zumindest. Heute ist alles ganz einfach für Leon. Wie im Training.
Leon holt aus, als würde er voll abziehen wollen. Sein linker Fuß – seine »Waffe«, wie die Jungs in der Kabine immer ehrfurchtsvoll sagen – schwingt auf den Ball zu. Er sieht kurz hoch und bemerkt, wie der eine Abwehrspieler sein Bein ausstreckt, um den erwarteten Schuss zu blocken. Doch Leon schießt nicht. Er stoppt im letzten Moment, lässt den Verteidiger ins Leere rutschen, schaut zu Marko und spielt rüber. Marko nimmt den Pass an, dribbelt an dem zweiten Abwehrspieler vorbei, schaut den Torwart aus und schiebt den Ball in die rechte Ecke. SV Oberaudorf: 3. Sportfreunde Gmund: 0.
Leon strahlt und läuft zu Marko. Der ist bereits Richtung Eckfahne abgedreht und führt den Salto vor, den er sich bei Pierre-Emerick Aubameyang abgeschaut hat. Die Rentner und Eltern an der Seitenlinie klatschen, die Ersatzspieler ihrer Mannschaft reißen die Fäuste in die Höhe und hüpfen euphorisch auf Leon und Marko zu.
»Läuft bei dir, Junge!«, sagt Leon lachend, als er zum Jubeln in Markos Arme springt. Leons mittellange blonden Haare sind vom Regen total nass und kleben ihm auf der Stirn.
»Megapass, Bro. Ganz ehrlich. Mega«, antwortet Marko und schiebt Leon von sich weg. »Aber bis in die Kabine trage ich dich nicht, mit deinen dicken Oberschenkelmuskeln bist du mir zu schwer!« Beide lachen und laufen zurück in ihre Hälfte, klatschen mit ihren Kollegen ab. Der Torwart aus Gmund holt mit hängendem Kopf den Ball aus dem Netz und wirft ihn wütend Richtung Mittellinie. Seine Mannschaft hat an diesem Tag keine Chance, Tabellenführer Oberaudorf ist in dieser starken Form eine Klasse für sich. Der Schweighöfer-Schiedsrichter pfeift wieder an, die Gmunder spielen den Ball ein paarmal hin und her, dann pustet der Schiri wieder in seine Pfeife. Schluss.
In der Kabine steht der Dampf. Leon kann seine schwarzen Socken kaum sehen, die er sich gerade anzieht. Der Geruch von Deo zieht in seine Nase.
11 Jungs haben in dem engen Klubgebäude gerade geduscht und feiern jetzt den Sieg. Marko hat sein Smartphone mit der FC-Barcelona-Schutzhülle per Bluetooth mit einer Lautsprecherbox verbunden und die ganze Mannschaft wippt mit den Köpfen zu seiner Playlist. Gerade läuft Alles wird gut von Bushido, der Bass dröhnt, die leeren Wasserflaschen auf der Massageliege mit dem aufgeplatzten blauen Polster kippen um. Marko rappt mit: »Keiner hält dich mehr auf. Komm, lass dich fallen, Junge. Heb den Kopf und blick einfach nach vorn, und jetzt versuchs – alles wird gut!«
Leon sieht ihm lachend zu und zieht seine Jacke über. Er wirft seine verschwitzte Hose, seine dreckigen Stutzen und sein nasses Trikot in die Tasche, die Jogi in die Mitte der Kabine gestellt hat. Seit zwei Jahren trainiert Jogi die C-Jugend-Mannschaft, vorher hatte er die Jungs schon in der D- und E-Jugend. Jogi heißt eigentlich Christian, aber weil er immer noch so häufig diese Pullover mit V-Ausschnitt trägt, die Jogi Löw vor Jahren mal berühmt gemacht haben, nennen ihn alle Jogi. Christian fand das am Anfang gar nicht lustig, aber er hat sich daran gewöhnt. Und kann inzwischen darüber lachen. Für die Jungs ist er wie ein älterer Bruder, mit dem man seine Späße macht, vor dem man gleichzeitig aber auch verdammt viel Respekt hat.
»Ich muss los. Will noch bisschen Netflix schauen. Hau rein, Dicker«, sagt Leon.
»Hau rein«, antwortet Marko. »Wir sehen uns am Dienstag beim Auswahltraining.«
Leon greift seine Tasche und will gerade los, als ganz plötzlich die Musik ausgeht.
»Eeeey!«, brüllt Marko. Er wirft seinen Blick zur Lautsprecherbox, und als er sieht, dass es keiner von den Jungs war, sondern Jogi da steht und die Stopp-Taste gedrückt hat, ist er wie alle anderen ganz still.
»Jungs, ganz kurz«, sagt Jogi. »Ich will euch sagen, dass ich stolz auf euch bin. Das war ganz stark heute. Von allen. Ihr seid erst 15 und habt gespielt wie echte Männer. Und Extralob an euren Kapitän. Leon …« Jogi lässt seinen Blick durch die vernebelte Kabine schweifen, kneift die Augen zusammen und entdeckt ihn schließlich. »Leon, zwei Dinger selbst geknipst, drittes Weltklasse aufgelegt – Hut ab, Junge. Einmal Applaus bitte für ihn und euch alle.«
Die Jungs klatschen, Marko haut sich johlend selbst auf die Schulter. »Ich war auch megastark heute. Das 3:0 hätte Lewandowski auch nicht besser gemacht. Ich sag nur: eiskalt.« Jogi lacht und Leon geht grinsend aus der Kabine. »Ciao«, ruft er in den Duschnebel, als er die Kabinentür zufallen lässt.
Die Sonne geht unter und sieht am Horizont aus wie ein fetter Feuerball. Leon kramt gerade den Schlüssel für sein Fahrradschloss aus der Jackentasche, als er hinter sich Schritte hört.
»Leon, hast du einen Moment für mich?«
Leon dreht sich um und erkennt im Licht der Laternen sofort, wer vor ihm steht. Thomas Wenzing!
Leon hat jeden Artikel verschlungen, der im Münchner Merkur über Wenzing und dessen Arbeit erschienen ist. Zu Hause legt sein Papa die Zeitung morgens immer auf den Esstisch, und jeder in der Familie kann den Teil nehmen, der ihn am meisten interessiert. Die Aufteilung ist immer gleich: Leons Vater greift sich den Politik-Teil, seine Mutter den Bayern-Teil und Leon immer den Sport.
Thomas Wenzing, der Leiter des Nachwuchszentrums des FC Bayern. Leon erinnert sich noch genau daran, wie die Zeitung Wenzing kürzlich als den besten Talentförderer des Landes bezeichnet hat.
»Klar habe ich Zeit, Herr Wenzing«, sagt Leon.
Wenzing schaut ihn überrascht an. »Du kennst mich also, ja?«
Leon schmunzelt. »Ich lese Zeitung.«
Wenzing lächelt. »Das ist gut. Dann ahnst du ja wahrscheinlich, was ich von dir will.«
Die Frage wirft Leon aus der Bahn. Nein, weiß ich gar nicht, denkt er sich. Leon ist sich zwar sicher, dass es irgendwie um Fußball und seine Leistung geht. Aber worum genau? Vielleicht ein Probetraining bei den Bayern? Das wäre natürlich krass. Oder sogar mehr? Leon spürt, wie sein Herz jetzt schneller schlägt. Beim Lesen der Artikel hat er immer gedacht: Alter, wenn der mich mal scouten würde. Wie übertrieben geil wäre das denn?
»Ich weiß nicht genau. Ich hoffe mal, es ist etwas Gutes«, sagt Leon.
Wenzing sagt: »Nein, nichts Gutes.«
Leon schluckt. Wenzing schaut ihn durchdringend an, dann grinst er.
»Etwas sehr Gutes! Ich habe mir das Spiel angesehen. Wir beobachten dich schon länger. Du hast für Oberaudorf und die bayerische Auswahl sehr konstant gespielt in den vergangenen Monaten. Es gibt bei uns in Bayern viele gute Spieler, aber diese Konstanz haben wenige. Uns hat das sehr gefallen.«
Leon schießen tausend Gedanken durch den Kopf. Er weiß, dass eigentlich Scouts, also Talentspäher, zu Jugendspielen kommen. Jetzt ist der Chef persönlich da. Ist das ein gutes Zeichen? War er auch im Freundschaftsspiel neulich da, als er den Elfmeter verschossen hat? Und was hätte er heute im Spiel noch besser machen können? In Leons Kopf herrscht Chaos.
Ein Geräusch reißt ihn aus seinen Gedanken. Leon wirft einen Blick über seine Schulter, sieht aber nichts und dreht sich wieder zu Wenzing.
»Ich will dich gar nicht überfallen«, sagt Wenzing. Als könnte er in Leons Kopf sehen und hätte das Wirrwarr darin gleich entdeckt. »Ich möchte dir einfach mit auf den Weg geben, dass wir dich sehr gern in unserem Internat aufnehmen möchten. Du bist einer der Besten deines Jahrgangs und wir beim FC Bayern wollen die Besten bei uns haben.«
Leon spürt sein Herz immer schneller schlagen, seine Schläfen pochen. Er hat Gänsehaut.
»Ich möchte mich gern mal mit dir und deinen Eltern treffen. Magst du sie heute Abend fragen, ob wir in der neuen Woche einen Termin finden?«
Internat! FC Bayern! Wahnsinn!
Leon sieht sich schon an der Ingolstädter Straße auf dem Bayern Campus wohnen. Der Traum von Nachwuchsspielern auf allen Kontinenten. Leon erinnert sich noch an die Bilder im Fernsehen mit all den Promis, die zur Eröffnung kamen.
Als Leon seine Sprache wiedergefunden hat, sagt er: »Klar, ich frage meine Eltern.«
»Sehr gut«, sagt Wenzing. »Hier ist meine Karte, meine Handynummer steht auch drauf. Ruft mich einfach an.«
Er streckt Leon die Visitenkarte hin und Leon starrt wie in Trance auf das Stück Pappe. Als hätte ihn das Vereinswappen darauf hypnotisiert. Reiß dich zusammen, sagt er sich.
»Gut, danke. Machen wir«, antwortet Leon. Es kommt ihm so vor, als hätte er gerade zehn Minuten schweigend dagestanden. Dabei waren es nur ein paar Sekunden. Leon hat den Eindruck, dass seine Stimme irgendwie total hell klingt.
»Soll ich dir mal was sagen, Leon?«, fragt Wenzing.
»Was denn?«
»Die Grätsche da heute vor dem 3:0 …« Wenzing blickt Leon fest in die Augen. »Das war deine Grätsche ins Glück. Sie hat gezeigt, dass du alles mitbringst: Einsatz, Härte, Willen, Herz.«
Er streckt Leon lächelnd seine Hand entgegen. Leon schüttelt sie. Dann geht Wenzing in Richtung Parkplatz und Leon sieht ihn in einen schwarzen Audi A7 steigen. Kennzeichen M-RM 7545. RM steht für »Rekordmeister«, das haben die Stars wie Franck Ribéry auch am Wagen, hat Leon im Fernsehen gesehen. Dieses Mega-Nummernschild will ich unbedingt auch mal an meinem Auto haben, dachte er sich damals. Egal, wie hart ich dafür trainieren muss. Er schaut Wenzings Wagen hinterher und steigt dann auf sein Rad.
Und irgendwie wird Leon auch auf den drei Kilometern nach Hause das Gefühl nicht los, dass jemand Wenzing und ihn bei ihrem Gespräch beobachtet hat.
Leon lehnt sein Rad gegen die Wand des gelben Reihenhauses und beobachtet beim Anschließen durch das Küchenfenster, wie es sich seine Mutter mit einem Teller Nudeln in der Hand auf dem Sofa bequem macht. Sie setzt sich neben seinen Vater und beide blicken auf den Fernseher. Irgendeine Tierdoku. Leon steht im Vorgarten und atmet tief ein. Das wird gleich nicht einfach.
»Hallo, Schatz, da bist du ja! Wie war euer Spiel?«, ruft seine Mutter in den Flur, als sie Leon die Haustür aufschließen hört.
»Gut. 3:0 gewonnen.«
»Hey, super! Hast du wieder ein Tor geschossen?«
»Von wegen ein Tor. Zwei! Und eine Vorlage«, ruft Leon ins Wohnzimmer. Er zieht seine Hausschuhe an und schlurft zum Sofa. Leon ist gleichzeitig erschöpft vom Spiel und aufgedreht wegen des bevorstehenden Gesprächs mit seinen Eltern und Herrn Wenzing.
»Toll, Schatz! Hätte ich wirklich gern gesehen und Papa hätte dir beim Spiel auch gern zugejubelt. Aber der Termin beim Steuerberater war wichtig, das verstehst du doch, oder?«
Auf den Couchtisch aus Glas hat seine Mutter heute Morgen wieder einen Strauß Rosen gestellt. Als Floristin hat sie es echt drauf. Sabine Kaltenberg arbeitet auch samstags in ihrem Laden in der kleinen Fußgängerzone in Oberaudorf und bringt nach Feierabend immer wieder mal Blumen mit. Das Reihenhaus, das Leons Eltern auf Kredit gekauft haben, bietet ihnen nicht viel Platz, doch es reicht, und Leon ist immer wieder erstaunt, was seine Mutter aus dem schmal geschnittenen Wohnzimmer alles rausholt. Mit dem ganzen Holz und den vielen weißen Regalen sieht es ein bisschen aus wie im Ikea-Katalog. Leon findet es total gemütlich.
Und Papa hätte dir beim Spiel auch gern zugejubelt, hat sie gesagt. Als ob der sich freuen würde. Wenn es nach dem ginge, würde Leon wahrscheinlich gar nicht Fußball spielen dürfen. Bei seinem Vater dreht sich immer alles um die Schule. Aber nur, weil er Lehrer ist, muss sein Sohn nicht auch einer werden, findet Leon. Er will Fußballprofi werden. Seit er klein war. Manchmal glaubt er sogar: seit er denken kann.
»Heute ist was richtig Geiles passiert«, sagt Leon.
Seine Mutter schaut ihn intensiv an. »Du strahlst ja total. Wie heißt sie?«
Leon lacht und schüttelt den Kopf. »Mamaaaa …«
Seine Mutter grinst, streicht sich durch ihre blonde Mähne und drückt die Stummtaste auf der Fernbedienung. Immer wieder fragt sie Leon in letzter Zeit nach Mädchen. Ihr Blick dabei verrät ihrem einzigen Sohn immer, dass sie sich eine Freundin für ihn wünscht. Doch für Mädchen lässt der Fußball Leon keine Zeit. Und das ist für ihn auch okay.
»Nein, viel besser. Der FC Bayern will mich haben.«
Leons Eltern reißen die Augen auf. Sie schauen Leon an, dann werfen sie sich gegenseitig Blicke zu.
Stille. Leon hört die Wanduhr in der Küche ticken. Er hat das Gefühl, etwas sagen zu müssen. »Ist kein Witz«, fügt er deshalb hinzu. Und dann erzählt er von dem Spiel. Von dem Gespräch mit Thomas Wenzing. Von der Chance, die es für ihn ist. »Ich will das unbedingt!«, sagt Leon.
Sein Vater schüttelt den Kopf und kratzt sich an seinem schwarzen Dreitagebart. Leon erinnert sich, was Papa ihm mal erzählt hat. Dass er sich bereits vor Leons Geburt gesagt habe: Das Wichtigste für mein Kind ist Bildung. Sein verstorbener Vater, also Leons Opa, war auch schon Lehrer. Das heißt nicht, dass Leon auch diesen Weg einschlagen muss, das hat sein Vater ihm auch immer wieder gesagt. Aber seinen Sohn Leon von der Schule nehmen? Für den Fußball? Für einen Platz in einem Internat, in dem der Sport über allem steht? Das ist für Papa bestimmt eine krasse Vorstellung. Leider.
»Nein, Leon. Du bleibst auf dem Gymnasium hier und machst ein normales Abitur. Das mit dem Fußball ist viel zu unsicher.«
Leon sieht ihn mit giftigem Blick an. Erkennst du denn nicht, dass dein Sohn hier gerade die Gelegenheit seines Lebens vom besten Verein Deutschlands auf dem Silbertablett serviert bekommt?
»Der Vater von Lionel Messi hat seinen Sohn bei allen großen Vereinen angeboten und immer unterstützt. Du könntest das ruhig mal positiver sehen und mir helfen!« Leon spürt, wie die Wut sein Gesicht glühen lässt. Seine Augen brennen.
»Denkst du etwa, dass jeder einfach ein neuer Lionel Messi werden kann? Weißt du eigentlich, wie viele Fußballer es gibt, die wegen einer Verletzung mit zwanzig Jahren aufhören müssen? Und dann haben die nichts! Keine Ausbildung, keine Perspektive. Begreif das doch bitte.«
Leons Mutter stellt ihren Teller mit den Nudeln auf den Couchtisch und schaut ihren Mann schweigend an. Leon denkt sich: Los jetzt, Mama! Sie haben schon oft die Diskussion über Schule und Fußball geführt. Er hat in Mathe zuletzt ziemlich abgekackt. Aber das darf doch jetzt keine Rolle spielen.
»Also, ich habe im Merkur ja schon ein paarmal was über dieses Internat gelesen. Fast 100 Millionen Euro haben die für den Bau des Gebäudes bezahlt. Ist doch Wahnsinn. Aber das Konzept mit integrierter Nachhilfen-Betreuung und Psychologen für die Jugendlichen und das alles … Das finde ich schon beeindruckend, Frank.«
Yes, Mama! Du bist die Coolste, das wusste ich immer! Leon reißt innerlich die Arme hoch, bleibt ansonsten aber ganz locker. Bloß nicht zu früh freuen.
Sein Vater blickt ins Leere. Er schluckt. Dann betrachtet er den stumm geschalteten Fernseher, wo gerade ein Leopard hinter einer Antilope herwetzt. »Es ist einfach Fakt, dass Leon für seine berufliche Zukunft das Abitur braucht. Und da waren wir uns auch einig, Sabine.«
Leons Mutter lächelt. Sie nimmt die Hand ihres Mannes und umschließt sie mit ihren Händen.
»Sind wir uns auch weiterhin. Ich überlege nur, ob Leon das Abitur nicht auch dort machen könnte.«
Leons Vater sieht Sabine jetzt wieder in die Augen.
»Wir sollten uns mit dem Wenzing mal treffen. Zumindest anhören muss man sich das doch«, sagt Leons Mutter.
»Genau, Papa. Das muss man doch!«, bekräftigt Leon.
Sein Vater erhebt sich, geht in die Küche, die an das Wohnzimmer anschließt, und schenkt sich dort ein Glas Rotwein ein. »Mein Lieber, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das die richtige Lösung ist. Aber eines kann ich dir ganz sicher sagen: Ich bin todmüde. Lass uns morgen noch mal darüber sprechen, okay?«
Immerhin, denkt sich Leon. Kein klares Nein mehr.
»Passt. Ich gehe hoch.«
»Willst du noch was essen?«, fragt seine Mutter.
»Ich mach mir ein Brot«, erwidert er und geht in die Küche.
Mit einem Marmeladentoast in der Hand sitzt Leon auf seinem Bett. Auf seinen Knien sein Laptop, er hat sich eine Folge Ballers mit The Rock in der Hauptrolle angemacht. Sein Handy vibriert. WhatsApp. Leon legt den Toast beiseite und öffnet die Nachricht. Marko schreibt, sein Mannschaftskollege.
Markorinho: Dicker, dein Ernst? Zu Bayern?
Leon überlegt kurz.
Wusste er doch, dass jemand ihn und Wenzing vorhin beobachtet hat.
Er tippt:
Leon7: Du bist so ein Checker, Alter. Aber ist noch gar nicht 100pro. Hätte natürlich krass Bock. Ahnma die Megachance für mich. Mal sehen.
Markorinho: Und wer gibt mir dann die Pässe? Du weißt schon, dass du dann meine Tor-Statistik schrottest, oder? ;-)
Leon7: Übertreiber! ;-) Sprechen morgen. Hau rein
Markorinho: Alles klar. Ach so: Für mich ist das mit Bayern und dir voll ok. Gönn dir, Mann! War immer klar, dass dich irgendwann ein geiler Verein will. Aber die anderen werden bestimmt sagen, dass du uns im Stich lässt. Ich wette, Dicker.
Leon fährt mit seinem Finger über das Laptop-Touchpad und klickt auf den Pause-Button. Er hat das Gefühl, dass er sich jetzt sowieso nicht mehr auf die Serie konzentrieren kann.
Er macht den Laptop zu, sitzt ein paar Minuten ganz still da und starrt an die Wand. Es muss klappen, denkt Leon, es muss einfach klappen mit dem Internat!
Leon geht seine Zähne putzen, und als er aus dem kleinen Bad neben seinem Zimmer wiederkommt und die Leselampe auf seinem Nachttisch anmacht, sticht ihm wie jeden Abend der weiße Bilderrahmen ins Auge, den er vor ein paar Monaten aufgestellt hat. Darin befindet sich ein ausgedrucktes Instagram-Foto von Neymar, für Leon der beste Spieler der Welt. Noch besser als Cristiano Ronaldo, besser als Lionel Messi. Auf dem Bild jubelt Neymar im brasilianischen Nationaltrikot und darunter steht ein Zitat des Superstars von Paris Saint-Germain, des teuersten Spielers der Welt:
I learned all about life with a ball on my feet.
Leon liegt noch lange wach und denkt über diesen Satz nach. Über den morgigen Tag.
Irgendwann quietscht seine Zimmertür. Leon ist inzwischen so müde, dass er die Augen kaum noch offen halten kann. Doch seine Nase sagt ihm sofort, wer da seinen Kopf durch die Tür steckt. Mama benutzt jeden Tag dasselbe Parfüm. Es duftet blumig und auch etwas nach Aprikose. Die rosa Verpackung bewahrt sie immer auf und stellt sie ins Badezimmerregal. Papa schenkt es ihr jedes Jahr zu Weihnachten, und es duftet, wie Mama ist: warm, vertraut, einfach schön.
Sabine Kaltenberg spricht so leise, dass Leon nicht weiß, ob sie diesen Satz zu sich selbst oder zu ihm sagt: »Ich bin so stolz auf dich, mein Schatz.«
Dann zieht sie ganz vorsichtig die Tür zu.
Etwas von ihrem Duft bleibt in Leons Zimmer hängen. Und lässt ihn bald einschlafen.