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Joachim Gauck führte im Frühjahr 2012 mit seinem Bändchen Freiheit. Ein Plädoyer wochenlang die Bestsellerliste an. Und ganz allgemein schreiben sich immer mehr konservative und neoliberale Politiker und Publizisten den Wert der Freiheit auf ihre Fahnen. Unbeantwortet bleibt dabei meist die Frage, was damit gemeint ist und wodurch unsere Freiheit heute in den Industrieländern überhaupt bedroht wird. Durch autoritäre Regimes? Zensurbehörden? Wird hier nicht gegen »abgenudelte Gespenster von gestern« gekämpft? Ist es nicht vielmehr so, dass die entscheidenden Freiheiten und Rechte im Zuge der letzten 150 Jahre gerade von Progressiven und Linken gegen konservativen Widerstand erstritten wurden? Warum hat sich die Linke diesen Begriff klauen lassen?
Robert Misik setzt sich pointiert mit dem halbierten, auf die Sphäre der Ökonomie reduzierten liberal-konservativen Freiheitsbegriff auseinander und plädiert für eine neue, progressive Freiheitsbewegung, die sich in einer verunsicherten Gesellschaft dafür einsetzt, dass alle Menschen frei von Angst leben können und die Möglichkeit haben, sich selbst zu verwirklichen: »Freiheit ohne Freiheit von Angst ist halbe Freiheit. Freiheit ohne die Möglichkeit, sie auch zu leben, ist halbe Freiheit.«
Robert Misik, geboren 1966, ist Journalist und politischer Schriftsteller. Er schreibt unter anderem für die tageszeitung, die Berliner Zeitung, Magazine wie Falter und Profil und betreibt den Videoblog »FS Misik« auf der Website der Tageszeitung Der Standard und bloggt unter www.misik.at. 2009 erhielt er den österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik. Er lebt in Wien.
Halbe Freiheit
Warum Freiheit und Gleichheit
zusammengehören
Umschlagfoto vorn: © akg-images / Erich Lessing
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
Originalausgabe
© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Bureau Johannes Erler
eISBN 978-3-518-73655-5
www.suhrkamp.de
I. Einleitung: Wie »Freiheit« zu einem polemischen Slogan wurde
II. Der Freiheitsbegriff der Neoliberalen und Neokonservativen
III. Der progressive Freiheitsbegriff
IV. Für eine zeitgenössische Freiheitsbewegung
Die Welt öffentlicher – also medialer – Großdebatten ist auch eine große Abstumpfungsmaschine, und so haben wir uns längst an einen Sachverhalt gewöhnt, der dennoch höchst erstaunlich ist: dass ausgerechnet konservative Politiker und Publizisten so häufig das Wort »Freiheit« im Munde führen. Das ist nicht erst seit gestern so, aber gerade in den vergangenen Jahren wurde der liberal-konservative Freiheitsjargon allgegenwärtig. Dabei sind immer die gleichen hohlen Phrasen zu hören: dass die Konservativen die »Freiheit« hochhalten würden, wohingegen die Linken und Progressiven doch nur an der »Gleichheit« interessiert seien; dass das Gravitätszentrum der Freiheit die »Wirtschaftsfreiheit« sei, während die Linken hier nichts als »Reglementierung« und unternehmerfeindliche »Umverteilung« im Kopf hätten; dass Linke und Progressive die Bürger in einen Wattebausch packen und in »Sicherheit« wiegen wollten, während Konservative und Liberale mit dem »Abenteuer Freiheit« locken.
All das ist, wie gesagt, nicht wirklich neu, wird aber in den vergangenen Jahren mit aufreizendem Triumphalismus vorgetragen. Das hängt ganz gewiss damit zusammen, dass nach dem Beinahe-Kollaps, den ein unregulierter (oder besser: allein von den großen Finanzmarktakteuren zu ihrem eigenen Vorteil regulierter) Finanzmarktkapitalismus verursacht hat, eine Regulierung der Wirtschaft nun wieder neu auf der politischen Agenda steht; das hat aber auch mit der Frage zu tun, wer eigentlich die Kosten dieses Desasters tragen soll, eine Debatte, die wiederum zu einer härteren Auseinandersetzung über Steuer- und Verteilungsgerechtigkeit führt.
Einer dieser Liberalkonservativen, der es angesichts dieser Debatten für notwendig hält, ein »Hoch auf die Freiheit« zu singen, ist der Journalist Rainer Hank, der in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung proklamierte: »Die Freiheit hat es schwer: Lieber schwärmen die Deutschen von Gleichheit und Gerechtigkeit.«1 Und der neue deutsche Bundespräsident Joachim Gauck stand im Frühjahr mit seinem Essaybüchlein Freiheit. Ein Plädoyer monatelang auf Platz eins der Sachbuch-Bestsellerliste.
Schon auf Seite eins seines kleinen Traktats springt Gauck seinen Lesern mit einem verräterischen Satz ins Gesicht:
»Es ist vielmehr meine tiefe Überzeugung, dass die Freiheit das Allerwichtigste im Zusammenleben ist und erst Freiheit unserer Gesellschaft Kultur, Substanz und Inhalt verleiht. Bei vielen Menschen aber, die mir im Land begegnen, vermute ich eine geheime Verfassung, deren virtueller Artikel 1 lautet: ›Die Besitzstandswahrung ist unantastbar.‹«
Dieser einleitende Absatz wäre wohl schon Grund genug, das Buch in die Ecke zu pfeffern und sich nützlicherer Lektüre zuzuwenden. Man weiß bereits jetzt, was einen erwartet: Jene neoliberale Agitation, wie sie alle Tage von Leuten wie Hans-Olaf Henkel in einer der unzähligen Fernsehtalkshows verbreitet wird. Das Wort »Besitzstandswahrung« ist dafür ein sicheres Indiz. Denn das Wort ist ja eine Chiffre. Mit »Besitzstandswahrung« sind schließlich nicht, wie man eigentlich annehmen würde, jene zehn Prozent der obersten Einkommensbezieher und Vermögensbesitzer gemeint, die rund sechzig Prozent aller Finanz-, Immobilien- und Sachvermögen auf sich konzentrieren und sich mit Zähnen und Klauen wehren, um nur ja keinen Krümel abgeben zu müssen. Als »Besitzstandswahrer« gelten absurderweise immer jene, die in Wirklichkeit überhaupt nichts besitzen, sondern nur kleine Renten, niedrige Löhne, schlanke Stipendien oder Hartz IV beziehen und die Unverfrorenheit besitzen zu murren, wenn man ihnen wieder einmal »nahelegt«, ihre materielle Ausstattung zu »flexibilisieren« und mehr »Eigenverantwortung« und »Selbsttätigkeit« an den Tag zu legen, indem man ihnen auch noch die letzten Kröten abknöpft.
Weil er so schön das Lied der Freiheit singt, das sich so praktisch als Hintergrundsound zur Sozialstaatszerstörung summen lässt, war Gauck gleich bei allen Neoliberalen und Konservativen lieb Kind. Immerhin muss man dem neuen Präsidenten zugutehalten, dass er schnell gemerkt hat, in welche ideologische Gesellschaft er da zu geraten drohte, weshalb er bei seiner Antrittsrede als Staatsoberhaupt merklich nuanciertere Töne anschlug: »Wir dürfen nicht dulden«, sagte er da,
»dass Kinder ihre Talente nicht entfalten können, weil keine Chancengleichheit existiert. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, Leistung lohne sich für sie nicht mehr und der Aufstieg sei ihnen selbst dann verwehrt, wenn sie sich nach Kräften bemühen. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, sie seien nicht Teil unserer Gesellschaft, weil sie arm oder alt oder behindert sind. Freiheit ist eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. Denn, was Gerechtigkeit, auch soziale Gerechtigkeit bedeutet und was wir tun müssen, um ihr näher zu kommen, lässt sich nicht paternalistisch anordnen, nur in intensiver demokratischer Diskussion und Debatte klären. Umgekehrt ist das Bemühen um Gerechtigkeit unerlässlich für die Bewahrung der Freiheit. Wenn die Zahl der Menschen wächst, die den Eindruck haben, ihr Staat meine es mit dem Bekenntnis zu einer gerechten Ordnung in der Gesellschaft nicht ernst, sinkt das Vertrauen in die Demokratie. Unser Land muss also ein Land sein, das beides verbindet. Freiheit als Bedingung von Gerechtigkeit und Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen.«2
Das klingt nun schon deutlich anders als etwa der haarsträubende Satz, den Gauck ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Finanzkrise formulierte, als er sagte, »wer ausgerechnet der Wirtschaft die Freiheit nehmen will, wird mehr verlieren als gewinnen« – als hätten wir uns nicht alle zusammen ein großes Schlamassel erspart, hätten wir rechtzeitig ein paar Wirtschaftsakteuren ein wenig von der Freiheit genommen, uns (und sich gegenseitig) zu übervorteilen.
All diese Abhandlungen aus der jüngsten Zeit – und in den vergangenen Jahren gab es eine schier unübersehbare Flut von Büchern mit neokonservativer und liberal-konservativer Ausrichtung, etwa Die Kultur der Freiheit des ehemaligen Verfassungsrichters Udo di Fabio3 –, stehen natürlich in einer Tradition des pamphletischen Schrifttums, man denke nur an Der Weg zur Knechtschaft des späteren Wirtschaftsnobelpreisträgers Friedrich August von Hayek aus dem Jahr 1943. Darin heißt es: »Schritt für Schritt haben wir jene Freiheit der Wirtschaft aufgegeben, ohne die es persönliche und politische Freiheit nie gegeben hat. Obwohl einige der politischen Denker des 19. Jahrhunderts […] warnend darauf hingewiesen hatten, dass Sozialismus Sklaverei bedeutet, haben wir uns stetig in diese Richtung bewegt.«4
Wohlgemerkt, Hayek hatte da nicht nur den Staatssozialismus in der Sowjetunion vor Augen, sondern ausdrücklich die ersten leisen Schritte zum Aufbau von Wohlfahrtsstaaten in Westeuropa und Nordamerika. Nun kann man Hayek zugutehalten, dass es damals immerhin noch möglich war, der – irrtümlichen – Ansicht zuzuneigen, Versuche, mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen, würden allerlei totalitäre Versuchungen nach sich ziehen: einerseits in Form des Sowjetkommunismus; andererseits, weil sich die bürgerlichen Eliten vor lauter Angst vor ersterem in die Arme des Faschismus werfen würden. Das war in the long run falsch, aber nicht ganz blöd gedacht. Falsch war es trotzdem, was man jetzt auch schon wieder seit sechzig Jahren wissen könnte.
Das hindert Hayeks Adoranten freilich nicht daran, noch Jahrzehnte später so zu tun, als wären moderate Regulationen der freien Marktwirtschaft und die Versuche von Regierungen,