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An essay on the history of civil society. Basel 1789. p. 123–146. Of rude nations prior to the establishment of property.
Dans une société bien ordonnée, au contraire, tout invite les hommes à cultiver leurs moyens naturels: sans qu’on s’en mêle, l’éducation sera bonne; elle sera même d’autant meilleure, qu’on aura plus laissé à faire à l’industrie des mâitres, et à l’émulation des élèves. Mirabeau s. l’éducat. publ. p. 12.
Ainsi c’est peut-être un problème de savoir, si les législateurs Français doi-veut s’occuper de l’éducation publique autrement que pour en protéger les progrès, et si la constitution la plus favorable au développement du moi humain et les lois les plus propres à mettre chacun à sa place ne sont pas la seule éducation, que le peuple doive attendre d’eux. l. c. p. 11. D’après cela, les principes rigoureux sembleraient exiger que l’Assemblée Nationale ne s’occupât de l’éducation que pour l’enlever à des pouvoirs, ou à des corps qui peuvent en dépraver l’influence. l. c. p. 12
Es wäre ein großes und treffliches Werk zu liefern, wenn jemand die eigentümlichen Fähigkeiten zu schildern unternähme, welche die verschiedenen Fächer der menschlichen Erkenntnis zu ihrer glücklichen Erweiterung voraussetzen; den echten Geist, in dem sie einzeln bearbeitet, und die Verbindung, in die sie alle mit einander gesetzt werden müssen, um die Ausbildung der Menschheit, als ein Ganzes, zu vollenden. Der Mathematiker, der Naturforscher, der Künstler, ja oft selbst der Philosoph beginnen nicht nur jetzt gewöhnlich ihr Geschäft, ohne seine eigentliche Natur zu kennen und es in seiner Vollständigkeit zu übersehen, sondern auch nur wenige erheben sich selbst späterhin zu diesem höheren Standpunkt und dieser allgemeineren Übersicht. In einer noch schlimmeren Lage aber befindet sich derjenige, welcher, ohne ein einzelnes jener Fächer ausschließend zu wählen, nur aus allen für seine Ausbildung Vorteil ziehen will. In der Verlegenheit der Wahl unter mehreren, und aus Mangel an Fertigkeit, irgend eins, aus den engeren Schranken desselben heraus, zu seinem eignen allgemeineren Endzweck zu benutzen, gelangt er notwendig früher oder später dahin, sich allein dem Zufall zu überlassen und was er etwa ergreift, nur zu untergeordneten Absichten, oder bloß als ein zeitverkürzendes Spielwerk zu gebrauchen. Hierin liegt einer der vorzüglichsten Gründe der häufigen und nicht ungerechten Klagen, dass das Wissen unnütz und die Bearbeitung des Geistes unfruchtbar bleibt, dass zwar Vieles um uns her zu Stande gebracht, aber [6]nur wenig in uns verbessert wird, und dass man über der höheren, und nur für Wenige tauglichen wissenschaftlichen Ausbildung des Kopfes die allgemeiner und unmittelbarer nützliche der Gesinnungen vernachlässigt.
Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Tätigkeit nämlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgendetwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Wert und Dauer verschaffen will. Da jedoch die bloße Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die bloße Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt außer sich. Daher entspringt sein Streben, den Kreis seiner Erkenntnisse und seiner Wirksamkeit zu erweitern, und ohne dass er sich selbst deutlich dessen bewusst ist, liegt es ihm nicht eigentlich an dem, was er von jener erwirbt, oder vermöge dieser außer sich hervorbringt, sondern nur an seiner inneren Verbesserung und Veredlung, oder wenigstens an der Befriedigung der innren Unruhe, die ihn verzehrt. Rein und in seiner Endabsicht betrachtet, ist sein Denken immer nur ein Versuch seines Geistes, vor sich selbst verständlich, sein Handeln ein Versuch seines Willens, in sich frei und unabhängig zu werden, seine ganze äußere Geschäftigkeit überhaupt aber nur ein Streben, nicht in sich müßig zu bleiben. Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders, als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nicht-Mensch, d. i. Welt zu sein, sucht er, so viel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.
[7]Die letzte Aufgabe unseres Daseins: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung. Dies allein ist nun auch der eigentliche Maßstab zur Beurteilung der Bearbeitung jedes Zweiges menschlicher Erkenntnis. Denn nur diejenige Bahn kann in jedem die richtige sein, auf welcher das Auge ein unverrücktes Fortschreiten bis zu diesem letzten Ziele zu verfolgen im Stande ist, und hier allein darf das Geheimnis gesucht werden, das, was sonst ewig tot und unnütz bleibt, zu beleben und zu befruchten.
Die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt scheint vielleicht auf den ersten Anblick nicht nur ein unverständlicher Ausdruck, sondern auch ein überspannter Gedanke. Bei genauerer Untersuchung aber wird wenigstens der letztere Verdacht verschwinden, und es wird sich zeigen, dass, wenn man einmal das wahre Streben des menschlichen Geistes (das, worin ebensowohl sein höchster Schwung, als sein ohnmächtiger Versuch enthalten ist) aufsucht, man unmöglich bei etwas Geringerem stehen bleiben kann.
Was verlangt man von einer Nation, einem Zeitalter, von dem ganzen Menschengeschlecht, wenn man ihm seine Achtung und seine Bewunderung schenken soll? Man verlangt, dass Bildung, Weisheit und Tugend so mächtig und allgemein verbreitet, als möglich, unter ihm herrschen, dass es seinen inneren Wert so hoch steigern, dass der Begriff der Menschheit, wenn man ihn von ihm, als [8]dem einzigen Beispiel, abziehen müsste, einen großen und würdigen Gehalt gewönne. Man begnügt sich nicht einmal damit. Man fordert auch, dass der Mensch den Verfassungen, die er bildet, selbst der leblosen Natur, die ihn umgibt, das Gepräge seines Wertes sichtbar aufdrücke, ja dass er seine Tugend und seine Kraft (so mächtig und so allwaltend sollen sie sein ganzes Wesen durchstrahlen) noch der Nachkommenschaft einhauche, die er erzeugt. Denn nur so ist eine Fortdauer der einmal erworbenen Vorzüge möglich, und ohne diese, ohne den beruhigenden Gedanken einer gewissen Folge in der Veredlung und Bildung, wäre das Dasein des Menschen vergänglicher, als das Dasein der Pflanze, die, wenn sie hinwelkt, wenigstens gewiss ist, den Keim eines ihr gleichen Geschöpfs zu hinterlassen.
Beschränken sich indes auch alle diese Forderungen nur auf das innere Wesen des Menschen, so dringt ihn doch seine Natur beständig von sich aus zu den Gegenständen außer ihm überzugehen, und hier kommt es nun darauf an, dass er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er außer sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohltätige Wärme in sein Innres zurückstrahle. Zu dieser Absicht aber muss er die Masse der Gegenstände sich selbst näher bringen, diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beide einander ähnlicher machen. In ihm ist vollkommene Einheit und durchgängige Wechselwirkung, beide muss er also auch auf die Natur übertragen; in ihm sind mehrere Fähigkeiten, ihm denselben Gegenstand in verschiedenen Gestalten, bald als Begriff des Verstandes, bald als Bild der Einbildungskraft, bald als Anschauung der Sinne vor seine Betrachtung zu führen. Mit allen diesen, wie mit ebenso [9]viel verschiedenen Werkzeugen, muss er die Natur aufzufassen versuchen, nicht sowohl um sie von allen Seiten kennen zu lernen, als vielmehr um durch diese Mannigfaltigkeit der Ansichten die eigene inwohnende Kraft zu stärken, von der sie nur anders und anders gestaltete Wirkungen sind. Gerade aber diese Einheit und Allheit bestimmt den Begriff der Welt. Allein auch außerdem finden sich nun in eben diesem Begriff in vollkommenem Grade die Mannigfaltigkeit, mit welcher die äußeren Gegenstände unsre Sinne rühren, und das eigne selbstständige Dasein, wodurch sie auf unsre Empfindung einwirken. Denn nur die Welt umfasst alle nur denkbare Mannigfaltigkeit, und nur sie besitzt eine so unabhängige Selbstständigkeit, dass sie dem Eigensinn unsres Willens die Gesetze der Natur und die Beschlüsse des Schicksals entgegenstellt.
Was also der Mensch notwendig braucht, ist bloß ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbsttätigkeit möglich mache. Allein wenn dieser Gegenstand genügen soll, sein ganzes Wesen in seiner vollen Stärke und seiner Einheit zu beschäftigen; so muss er der Gegenstand schlechthin, die Welt sein, oder doch (denn dies ist eigentlich allein richtig) als solcher betrachtet werden. Nur um der zerstreuenden und verwirrenden Vielheit zu entfliehen, sucht man Allheit; um sich nicht auf eine leere und unfruchtbare Weise ins Unendliche hin zu verlieren, bildet man einen, in jedem Punkt leicht übersehbaren Kreis; um an jeden Schritt, den man vorrückt, auch die Vorstellung des letzten Zwecks anzuknüpfen, sucht man das zerstreute Wissen und Handeln in ein geschlossenes, die bloße Gelehrsamkeit in eine gelehrte Bildung, das bloß unruhige Streben in eine weise Tätigkeit zu verwandeln.
Dies aber nun würde gerade durch ein Werk, wie das oben erwähnte auf die kräftigste Weise befördert werden. Denn bestimmt, die mannigfaltigen Arten menschlicher Tätigkeit in den Richtungen, die sie dem Geiste geben, und den Forderungen, die sie an ihn machen, zu betrachten und zu vergleichen, führte es geradezu in den Mittelpunkt, zu dem alles, was eigentlich auf uns einwirken soll, notwendig gelangen muss. Von ihm geleitet, flüchtete sich die Betrachtung aus der Unendlichkeit der Gegenstände in den engeren Kreis unsrer Fähigkeiten und ihres mannigfaltigen Zusammenwirkens; das Bild unsrer Tätigkeit, die wir sonst nur stückweise, und in ihren äußeren Erfolgen erblicken, zeigte sich uns hier, wie in einem zugleich erhellenden und versammelnden Spiegel, in unmittelbarer Beziehung auf unsre innere Bildung. Den Einfluss, den jedes Geschäft des Lebens auf diese ausüben kann, leicht und fasslich übersehend, fände vorzüglich derjenige seine Belehrung darin, dem es nur um die Erhöhung seiner Kräfte und die Veredlung seiner Persönlichkeit zu tun ist.
Zugleich aber lernt der, welcher eine einzelne Arbeit verfolgt, nur da sein Geschäft in seinem echten Geist und in einem großen Sinne ausführen. Er will nicht mehr bloß dem Menschen Kenntnisse oder Werkzeuge zum Gebrauch zubereiten, nicht mehr nur einen einzelnen Teil seiner Bildung befördern helfen; er kennt das Ziel, das ihm gesteckt ist, er sieht ein, dass, auf die rechte Weise betrieben, sein Geschäft dem Geiste eine eigne und neue Ansicht der Welt und dadurch eine eigne neue Stimmung seiner selbst geben, dass er von der Seite, auf der er steht, seine ganze [11]Bildung vollenden kann; und dies ist es, wohin er strebt. Wie er aber nur für die Kraft und ihre Erhöhung arbeitet, so tut er sich auch nur Genüge, wenn er die seinige vollkommen in seinem Werk ausprägt. Nun aber wird das Ideal größer, wenn man darin die Anstrengung, die es erreichen, als wenn man den Gegenstand ausmisst, den es darstellen soll. Überall hat das Genie nur die Befriedigung des innern Dranges zum Zweck, der es verzehrt, und der Bildner z. B. will nicht eigentlich das Bild eines Gottes darstellen, sondern die Fülle seiner plastischen Einbildungskraft in dieser Gestalt ausdrücken und heften. Jedes Geschäft kennt eine ihm eigentümliche Geistesstimmung, und nur in ihr liegt der echte Geist seiner Vollendung. Äußere Mittel es auszuführen gibt es immer mehrere, aber die Wahl unter ihnen kann nur jene, nur ob sie geringere oder vollere Befriedigung findet, bestimmen.
Das Verfahren unseres Geistes, besonders in seinen geheimnisvolleren Wirkungen, kann nur durch tiefes Nachdenken und anhaltende Beobachtung seiner selbst ergründet werden. Aber es ist selbst damit noch wenig geschehen, wenn man nicht zugleich auf die Verschiedenheit der Köpfe, auf die Mannigfaltigkeit der Weise Rücksicht nimmt, wie sich die Welt in verschiedenen Individuen spiegelt. Jenes Werk müsste daher zugleich auch diese Mannigfaltigkeit schildern, und dürfte unter denen, die sich in irgend einem Fache hervorgetan haben, niemanden übergehen, durch den dasselbe eine neue Gestalt, oder einen erweiterten Begriff gewonnen hätte. Diese müsste es in ihrer vollständigen Individualität, und dem ganzen Einflusse zeichnen, den ihr Zeitalter und ihre Nation auf sie ausgeübt hätte. Dadurch nun übersähe man nicht nur die mannigfaltigen [12]Arten, wie jedes einzelne Fach bearbeitet werden kann, sondern auch die Folge, in der eine nach und nach aus der andern entspringt. Da jedoch diese Folge immer wieder durch den Einfluss des Nationalcharakters, des Zeitalters und der äußeren Umstände überhaupt unterbrochen wird, so erhielte man zwei verschiedene aber immer gegenseitig auf einander einwirkende Reihen: die eine der Veränderungen, welche irgendeine Geistestätigkeit nach und nach in ihrem Fortschreiten gewinnt, die andre derjenigen, welche der Charakter der Menschen in einzelnen Nationen und Zeiten sowohl, als im Ganzen, durch die Beschäftigungen annimmt, die er nach und nach ergreift; und in beiden zeigten sich außerdem die Abweichungen, durch die genievolle Individuen diesen sonst ununterbrochen fortschreitenden Naturgang plötzlich stören, und ihre Nation oder ihr Zeitalter auf einmal in andre, neue Aussichten eröffnende Bahnen hinschleudern.
Allein nur, indem man dies schrittweise verfolgt und am Ende im Ganzen überschaut, gelangt man dahin, sich vollkommne Rechenschaft abzulegen, wie die Bildung des Menschen durch ein regelmäßiges Fortschreiten Dauer gewinnt, ohne doch in die Einförmigkeit auszuarten, mit welcher die körperliche Natur, ohne jemals etwas Neues hervorzubringen, immer nur von neuem dieselben Umwandlungen durchgeht.
Wie man in der vergleichenden Anatomie die Beschaffenheit des menschlichen Körpers durch die Untersuchung des tierischen erläutert: ebenso kann man in einer vergleichenden Anthropologie die Eigentümlichkeiten des moralischen Charakters der verschiedenen Menschengattungen neben einander aufstellen und vergleichend beurteilen.
Geschichtschreiber, Biographen, Reisebeschreiber, Dichter, Schriftsteller aller Art, selbst den spekulativen Philosophen nicht ausgenommen, enthalten Data zu dieser Wissenschaft. Auf Reisen, wie zu Hause, im geschäftigen, wie im müßigen Leben bietet sich überall die Gelegenheit dar, sie zu bereichern und zu benutzen, und unter allen Studien ist kein anderes in so hohem Grade unser beständiger Begleiter, als das Studium des Menschen. Es kommt nur darauf an, den reichen Stoff, den das ganze Leben hergibt, zu sammeln, zu sichten, zu ordnen und zu verarbeiten.
Dies zu tun ist die vergleichende Anthropologie bestimmt, welche, indem sie sich auf die allgemeine stützt, und den Gattungs-Charakter des Menschen als bekannt voraussetzt, nur seine individuellen Verschiedenheiten aufsucht, die bloß zufälligen und vorübergehenden von den wesentlichen und bleibenden absondert, die Beschaffenheit dieser erforscht, ihren Ursachen nachspürt, ihren Wert beurteilt, die Art sie zu behandeln bestimmt, und den Fortgang ihrer Entwicklung vorhersagt.
Es gibt kein praktisches Geschäft im menschlichen Leben, das nicht der Kenntnis des Menschen bedürfte, und zwar nicht bloß des allgemeinen, philosophisch gedachten, sondern des individuellen, wie er vor unsern Augen erscheint. Es ist schwer bei der Erwerbung dieser Kenntnis den doppelten Fehler zu vermeiden, sich weder einen zu unbestimmten und allgemeinen, noch auch einen zu partikulären Begriff von dem Individuum zu bilden; es weder zu sehr bloß nach seinen möglichen Anlagen, noch zu sehr mit allen bloß zufälligen Beschränkungen zu betrachten. Durch den ersteren beraubt gewöhnlich der bloß spekulierende Philosoph seine Grundsätze ihrer praktischen Anwendbarkeit; durch den letzteren der bloße Geschäftsmann seine Einrichtungen ihrer längeren Dauer und ihres wohltätigen Einflusses auf die Aufklärung und den innern Charakter.
Um zugleich den Menschen mit Genauigkeit zu kennen, wie er ist, und mit Freiheit zu beurteilen, wozu er sich entwickeln kann, müssen der praktische Beobachtungssinn und der philosophierende Geist gemeinschaftlich tätig sein. Diese Verbindung aber wird beträchtlich erleichtert, wenn die individuelle Charakterkenntnis in einer vergleichenden Anthropologie zu einem Gegenstande des wissenschaftlichen Nachdenkens erhoben wird, und wenn man in derselben von den Eigentümlichkeiten verschiedener Menschenklassen, und dem gewöhnlichen Einfluss äußerer Lagen auf den innern Charakter bestimmte und getreue Schilderungen antrifft. Der allgemeine Typus, den sie angibt, kann alsdann mit Hilfe eigner Erfahrung weiter [15]ausgezeichnet; in der Sphäre, welche sie einem Charakter überhaupt als möglich anweist, kann die Stelle bestimmt werden, welche er in dem jedesmaligen Moment wirklich einnimmt.
Der Gesetzgeber, hat man immer gesagt, muss seine Nation, ihren Geist und ihre Gesinnung studiert haben, wenn er mit Fortgang auf sie einwirken will. Wie aber ist es möglich den Charakter einer Nation vollständig zu kennen, ohne nicht zugleich auch die andern erforscht zu haben, mit welchen jene in den nächsten Beziehungen steht, durch deren kontrastierende Verschiedenheit er teils wirklich entstanden ist, teils allein vollkommen begriffen werden kann? und wie ist es erlaubt, auf einen individuellen Charakter einzuwirken, ohne darüber nachgedacht zu haben, inwiefern Charakterverschiedenheiten überhaupt möglich? inwiefern mit den Forderungen einer freien und allgemeinen Ausbildung verträglich? oder gar politisch oder moralisch notwendig sind?
Um einzelnen Zügen gleichsam gewisse Kunstgriffe der Regierungskunst abzulernen, um einzusehen, dass man den Franzosen nicht pedantisch, den Engländer nicht sichtbar despotisch behandeln muss, bedarf es freilich so großer Zurüstungen nicht. Mittel die empfindlichen Stellen des menschlichen Charakters zu schonen, und seine Schwächen zu benutzen, gibt auch eine oberflächliche Beobachtung leicht an die Hand.
Aber es soll etwas ganz andres geschehen. Die individuellen Charaktere sollen so ausgebildet werden, dass sie eigentümlich bleiben, ohne einseitig zu werden, dass sie der Erfüllung der allgemeinen Forderungen an allgemeine idealische Vortrefflichkeit keine Hindernisse in den Weg [16]legen, nicht bloß durch Fehler und Extreme eigentümlich sind, aber dagegen ihre wesentlichen Grenzen nicht überschreiten, und in sich konsequent bleiben. In dieser innern Konsequenz und äußern Kongruenz mit dem Ideal sollen alsdann alle gemeinschaftlich zusammenwirken.
Denn nur gesellschaftlich kann die Menschheit ihren höchsten Gipfel erreichen, und sie bedarf der Vereinigung vieler nicht bloß um durch bloße Vermehrung der Kräfte größere und dauerhaftere Werke hervorzubringen, sondern auch vorzüglich um durch größere Mannigfaltigkeit der Anlagen ihre Natur in ihrem wahren Reichtum und ihrer ganzen Ausdehnung zu zeigen. Ein Mensch ist nur immer für Eine Form, für Einen Charakter geschaffen, ebenso eine Klasse der Menschen. Das Ideal der Menschheit aber stellt so viele und mannigfaltige Formen dar, als nur immer mit einander verträglich sind. Daher kann es nie anders, als in der Totalität der Individuen erscheinen.
Man nehme in Gedanken aus der Reihe der Europäischen Nationen eine hinweg, die keinen im Ganzen sehr beträchtlichen Anteil an der Kultur und den Fortschritten dieses Weltteils genommen hat, und nicht einmal ein eigner Stamm, nur ein Zweig einer andern Nation ist, ich meine die Schweizerische, und es würde auf einmal in dem kultivierten, üppigen, von der ersten Einfachheit der Natur so weit entfernten Europa an einem Volke fehlen, das noch mitten unter unähnlichen Nachbarn eine vergleichungsweise so große Einfalt der Sitten besitzt, die Zahl seiner Bedürfnisse auf so wenige beschränkt, sich mit einem so dürftigen Vorrat von Mitteln und mit Verfassungen behilft, wie sie sonst nur die Kindheit der Nationen zeigt.
[17]Wir haben mit Fleiß den schweizerischen Charakter zum Beispiel gewählt, der wenigstens zum Teil der Natur so nah verwandt ist, dass niemand seine Eigentümlichkeiten anders als mit innigem Mitgefühl untergehn sehen könnte. Denn sonst ist nicht freilich gleich jede Verschiedenheit des Aufbewahrens wert, und seltner gerade ist dies eine nationelle, die durch die Verbindung so vieler bloß zufälliger Umstände entspringt.
Aber gerade weil nicht jede Varietät empfehlungswürdig, ja viele sogar tadelhaft sind, und es doch (um nur dies Eine hier in Betrachtung zu ziehen) schon physisch unmöglich ist, die Menschen auf einmal und gänzlich aus ihrem gewohnten Gleise herauszuheben, ihre Individualität zu vernichten und sie zu andern Menschen zu machen, muss man ihre Verschiedenheiten studieren, und was sich aus ihnen entwickeln lässt, überschlagen.
Der Mensch soll seinen Charakter, den er einmal durch die Natur und die Lage empfangen hat, beibehalten, nur in ihm bewegt er sich leicht, ist er tätig und glücklich. Darum soll er aber nicht minder die allgemeinen Forderungen der Menschheit befriedigen und seiner geistigen Ausbildung keinerlei Schranken setzen. Diese beiden einander widersprechenden Forderungen mit einander verbinden und beide Aufgaben zugleich lösen soll der praktische Menschenkenner, und wie kann er in diesem Geschäfte glücklich sein, ohne die allgemeinen möglichen Verschiedenheiten der menschlichen Natur, und die allgemeinen Verhältnisse einzelner Eigentümlichkeiten zum Ideal der Gattung sorgfältig erforscht zu haben?
Den Menschen zu bilden ist aber nicht bloß der Erzieher, der Religionslehrer, der Gesetzgeber bestimmt. So wie [18]jeder Mensch neben allem, was er noch sonst sein kann, zugleich immer noch Mensch ist, so hat er auch die Obliegenheit auf sich, neben allen Geschäften, die er sonst immer betreiben mag, zugleich auf die intellektuelle und moralische Bildung seiner und andrer praktische Rücksicht zu nehmen.
Es ist das allgemeine Gesetz, das die Vernunft aller Gemeinschaft der Menschen unter einander unnachlässlich vorschreibt: ihre Moralität und ihre Kultur gegenseitig zu achten, nie nachteilig auf sie einzuwirken, aber sie, wo es geschehen kann, zu reinigen und zu erhöhen. Die Stärke der Verbindlichkeit hierzu bei einzelnen bestimmten Geschäften wächst nun mit dem Grade ihres Einflusses auf den Geist und den Charakter, und wo ihr vollkommen ein Genüge geleistet werden soll, da muss ebenso sehr auf die individuelle Charakterform, als auf die allgemeine gesehen werden.
Am wenigsten kann sich von dieser Verpflichtung der Gesetzgeber lossagen, da er die größte und gefährlichste Macht in Händen hat, auf die Menschen zu wirken. Die ganze Politik, vorzüglich die innere, wird dadurch einem Gesichtspunkte untergeordnet, der ihr an sich eigentlich fremd ist. Denn da sie für sich eigentlich nichts anders zu tun hat, als nur die Aufgabe zu lösen, wie der letzte Zweck aller bürgerlichen Vereinigung, die Sicherheit der Person und des Eigentums am kürzesten und gewissesten erhalten werden kann? so muss sie nun bei jeder Veranstaltung, die sie vorschlägt, erst nach dem Einflusse fragen, welchen dieselbe auf den Charakter der Bürger, als Menschen, ausüben wird? und jede erst nach diesem Maßstabe prüfen. Da noch überdies beide Gesichtspunkte fast überall auf [19]ganz entgegengesetzte Resultate führen müssen, der rein politische auf Zwang, der erweiterte moralische auf Freiheit, so wird es ihr schwierigstes Geschäft sein, diese beiden streitenden Forderungen mit einander zu vereinigen, und diese Schwierigkeit wird dadurch noch größer, dass sie, sobald von einer Anwendung die Rede ist, einen individuellen Charakter zu schonen und zu leiten, also noch mehr partikuläre Umstände in Acht zu nehmen hat.
Die gewöhnliche Theorie über diesen Gegenstand ist großen Missbräuchen ausgesetzt. Sie lehrt den Gesetzgeber, die Eigentümlichkeiten zu benutzen, um die Nation dadurch leichter zu lenken und zu beherrschen. Aber wie leicht führt dieser bloß politische Gesichtspunkt, ohne die höheren moralischen, in die Gefahr, auch offenbare Schwächen und Blößen absichtlich zu unterhalten.
Eine neue Schwierigkeit mehr findet der Staatsmann der neueren Zeit, wo mehrere Nationen nicht nur, wie auch vormals oft, unter Einem Zepter vereinigt sind, sondern auch im genauesten Verstande als Eine Masse wirken sollen. Soll dies mit vollkommener Präzision und Schnelligkeit geschehen, so wäre es unstreitig besser die Verschiedenheiten der einzelnen Stoffe aufzuheben, Sprache, Sitten, Meinungen u. s. w. gleich zu machen. Aber ist dies ohne Verlust an Eigentümlichkeit, und folglich zugleich an Selbsttätigkeit und Energie möglich, und welchen dieser beiden Vorzüge soll er nun dem andern aufopfern? Stellt er diese Untersuchung mit dem Geiste an, der weder die Würde des individuellen Charakters, noch den unleugbaren Nutzen großer Staaten und Massen von Menschen verkennt, so wird er sie gar bald verlassen, und sich lieber zu der Aufgabe wenden, beide Vorzüge mit einander zu [20]vereinigen. Die Auflösung dieser aber kann er sich nur noch allenfalls von dem genauesten Studium der wirklichen Individualität der Subjekte, die er zu behandeln hat, versprechen.
Die Religion scheint am wenigsten Einfluss von der Eigentümlichkeit ihrer Bekenner leiden zu dürfen. Sie lehrt Wahrheit und die Wahrheit ist durchaus objektiv und allgemein. Dennoch ist gerade bei ihr die Sorgfalt, sie immer und Schritt vor Schritt die Umänderungen des Geistes begleiten zu lassen, am meisten notwendig, wenn die doppelte Gefahr eines drückenden Gewissenszwangs, oder religiöser Gleichgültigkeit vermieden werden soll.
Die übrigen Geschäfte des Lebens haben selten einen nahen und großen Einfluss auf die innre Individualität. Es ist hinreichend grobe Fehler zu vermeiden, um der Gefahr nachteiliger Einwirkungen zu entgehen.
Desto mächtiger aber wirkt auf die eigentümliche Charakterbildung der freie und alltägliche Umgang in engeren und weiteren Verbindungen: in der Ehe, der Freundschaft, kleineren und größeren gesellschaftlichen Zirkeln. Die Kunst dieses Umgangs, wenn sie nicht, wie bisher immer geschehn ist, zu einem bloßen Talent zu gefallen und zu gewinnen herabgewürdigt werden soll, beruht ganz und gar auf Charakterkenntnis und Charakterbildung.
Sie strebt zuerst jeden Umgang so wichtig für die Kultur und den Charakter zu machen, ihm so viel Seele zu geben, als nur immer möglich ist, dann aber noch in jedem die verschiedenen Individualitäten so einzeln zu stellen und in Massen zu gruppieren, dass sie dem Betrachter das Bild einer lehrreichen Mannigfaltigkeit geben, einander selbst aber durch ihre zweckmäßige Berührung zugleich [21]empfänglicher und eigentümlicher machen. Beides will sie jedoch nicht anders, als unter der Bedingung einer vollkommenen Freiheit ausführen, mit gänzlicher Vermeidung alles Scheins von Absicht. Alles soll von selbst entstehn, alles Spiel und Erholung, nichts Ernst oder Geschäft sein. Dies macht sie zur eigentlich schönen Kunst.
Die Grundlinien dieser Kunst zu entwerfen, wäre zugleich nützlich und unterhaltend, aber es könnte nur die Arbeit eines Mannes sein, der einen großen und vielseitigen eignen Charakter mit einer ausgebreiteten Kenntnis fremder Individualitäten verbände, und ebenso viel Gedanken- und Empfindungsgehalt besäße, ein enges Verhältnis interessant zu machen, als Leichtigkeit und Beweglichkeit, in den Zirkeln der großen Welt eine Rolle zu spielen.
Gerade also zu dem, was als ein alltägliches Bedürfnis immer wiederkehrt, bedürfen wir am meisten einer individualisierenden Menschenkenntnis, und mit ihrer Hilfe können wir gerade die Stunden, die wir gewöhnlich leer und verloren achten, zu den inhaltvollsten unsres Lebens machen.
Der Erziehung ist im Vorigen nicht erwähnt worden. Es liegt zu sehr am Tage, wie unentbehrliche Vorarbeiten ihr Untersuchungen, wie die gegenwärtige sein müssen. Andre Beziehungen sind der Kürze wegen übergangen. So muss z. B. der Arzt notwendig auf den moralischen und gerade, da nur diesen ihm zu kennen wichtig sein kann, auf den individuellen Charakter achten.
Die vergleichende Anthropologie ist daher zu einem doppelten Zweck und zu einem doppelten Geschäfte nützlich. Sie erleichtert die Kenntnis der Charaktere, und gibt zugleich eine philosophische Anleitung, ihren Wert zu [22]beurteilen, ihre ferneren Entwicklungen zu berechnen, und die Möglichkeit zu überschlagen, wie sie mit andern als ein Ganzes zusammenzuwirken fähig sind. Sie dient dem Geschäftsmann, der den Menschen benutzen und beherrschen will, und zugleich dem Erzieher und Philosophen, der ihn zu bessern und zu bilden bemüht ist.
Aber sie ist außerdem die unterhaltendste Beschäftigung des menschlichen Geistes. Denn er findet in ihr 1. den erhabensten Gegenstand, den die Natur darbietet, am genauesten und vollständigsten geschildert; 2. eine Mannigfaltigkeit, die nicht bloß durch das bunte Farbenspiel des Gemäldes die Einbildungskraft und die Sinne vergnügt, sondern durch die Feinheit der Züge zugleich den Geist und die Empfindung bereichert, und die 3. immer zugleich so behandelt ist, dass nicht bloß jede einzelne Eigentümlichkeit als ein Ganzes betrachtet, sondern auch alle zu einem Ganzen zusammengestellt werden.
Nicht genug, dass eine vergleichende Anthropologie die Verschiedenheit menschlicher Charaktere kennen lehrt; sie trägt auch selbst dazu bei, eine größere hervorzubringen, und die schon wirklich vorhandene zweckmäßiger zu leiten.
Ob das Erstere aber nun ein Vorteil zu nennen sei, oder ob nicht vielmehr eine noch größere Mannigfaltigkeit der Charakterformen der allgemeinen Richtigkeit und der Objektivität der Kultur, des Geschmacks und der Sitten Hindernisse in den Weg lege? dies dürfte in den Augen der [23]Meisten noch so ausgemacht nicht sein. Alle Werke, welche der Mensch hervorbringt, gewinnen durch eine allgemeine und von Subjektivität Einzelner unabhängige Behandlung einen besseren Fortgang, und selbst die Arbeiten des Geistes können hievon nur in gewisser Rücksicht ausgenommen werden. Ebenso wird den Verfassungen und den praktischen Verhältnissen unter den Menschen Dauer und Sicherheit mehr durch Gleichförmigkeit der Sitten, als durch die unregelmäßigeren Einwirkungen ungewöhnlicher Individuen verbürgt.
Dagegen hängt Kraft, Erfindungsgeist, Enthusiasmus von Originalität ab, und ohne außerordentliche und eigen gewählte Bahnen des Geistes würde nie etwas Großes entstanden sein.
Überhaupt ist Verschiedenheit der Charakterformen, wenn sie auch sogar schädlich sein sollte, dennoch einmal schlechterdings unvermeidlich, und die Frage ist bloß die, ob man dieselbe blindlings dem Zufall überlassen, oder durch vernünftige Leitung zur Eigentümlichkeit umschaffen soll? Auf diese aber kann die Antwort unmöglich anders, als Eine sein.
Die vergleichende Anthropologie sucht den Charakter ganzer Klassen von Menschen auf, vorzüglich den der Nationen und der Zeiten. Diese Charaktere sind oft zufällig; sollen denn auch diese erhalten werden? soll der Philosoph, der Geschichtschreiber, der Dichter, der Mensch seinen Namen, seine Nation, sein Zeitalter, sein Individuum endlich sichtbar an sich tragen? – Allerdings, nur recht verstanden. Der Mensch soll alle Verhältnisse, in denen er sich befindet, auf sich einwirken lassen, den Einfluss keines einzigen zurückweisen, aber den Einfluss aller aus sich heraus [24]und nach objektiven Prinzipien bearbeiten. So soll er sein; wie viel er hernach hievon in den verschiedenen Gattungen seiner Tätigkeit zeige? hängt von den Erfordernissen dieser Gattung und der Natur seiner Individualität ab. Je mehr subjektive Originalität er aber, dem objektiven Wert des Werks unbeschadet, zeigen kann, desto besser.
Der Mensch kann wohl vielleicht in einzelnen Fällen und Perioden seines Lebens, nie aber im Ganzen Stoff genug sammeln. Je mehr Stoff er in Form, je mehr Mannigfaltigkeit in Einheit verwandelt, desto reicher, lebendiger, kraftvoller, fruchtbarer ist er. Eine solche Mannigfaltigkeit aber gibt ihm der Einfluss vielfältiger Verhältnisse. Je mehr er sich demselben öffnet, desto mehr neue Seiten werden in ihm angespielt, desto reger muss seine innere Tätigkeit sein, dieselben einzeln auszubilden, und zusammen zu einem Ganzen zu verbinden. Das Zweckwidrige und Verderbliche ist bloß das untätige Hingeben an einen einzelnen. Daraus entstehen die plumpen National- und Familiencharaktere, die uns in der Wirklichkeit unaufhörlich begegnen; daran aber ist die innere Schlaffheit und Trägheit, nicht die äußere Mannigfaltigkeit Schuld. Nach der Anleitung einer richtigen Bildungstheorie wird kein Mitglied einer Nation dem andern so auffallend ähnlich sehen; der National-Charakter wird sich in allen Einzelnen spiegeln, aber gerade weil er in jedem durch den Einfluss aller übrigen Verhältnisse, und vorzüglich durch die prüfende und richtende Vernunft gemildert wird, so wird er im Ganzen nicht so plump und handgreiflich, dagegen reiner, eigentümlicher, feiner und vielseitiger erscheinen.
Der Mensch ist allein genommen schwach, und vermag durch seine eigne kurzdauernde Kraft nur wenig. Er bedarf [25]einer Höhe, auf die er sich stellen; einer Masse, die für ihn gelten; einer Reihe, an die er sich anschließen kann. Diesen Vorteil erlangt er aber unfehlbar, je mehr er den Geist seiner Nation, seines Geschlechts, seines Zeitalters auf sich fortpflanzt. Was war ein Römer schon allein dadurch, dass Rom ihn geboren hatte? Was ein Scipio dadurch, dass er aus dem Geschlecht der Cornelier stammte? Was sind die neueren Dichter schon einzig dadurch, dass sie den ganzen Reichtum griechischer Dichtkunst als ihr Eigentum behandeln, und sich auf einmal zu einer solchen Höhe emporschwingen?
Aber von der subjektiven Kenntnis der Natur zu ihrer objektiven Beschaffenheit scheint ein mächtiger Sprung zu sein. Wie kann die Erweiterung und Verfeinerung der ersteren unmittelbar die Veredlung der letzteren befördern? – Unleugbar dadurch, dass beides: das Beobachtende und das Beobachtete hier der Mensch ist, dass dieser sich überall, selbst ohne es immer zu bemerken, seiner inneren Geistesform anpasst, und dass die Masse herrschender Begriffe sich immer endlich auf eine uns selbst oft unbegreifliche Weise, nicht bloß den Menschen, sondern sogar die tote Natur unterwirft.
Dass eine erweiterte Kenntnis der Charaktereigentümlichkeit Charaktere richtiger beurteilen, und zweckmäßigere Methoden ihrer Behandlung auffinden lehrt, versteht sich hiebei von selbst. Aber auch bloß dadurch, dass man feinere Nuancen in dem Charakter entdeckt, modifiziert sich derselbe in der Tat auf eine mannigfaltigere Weise; dadurch dass man einzelne Gattungen studiert und ihre Formen so individuell, als sie sind, und so idealisch, als sie werden können, aufstellt, entwickeln sie sich wirklich reiner und bestimmter.
[26]Der Charakter entsteht nicht anders, als durch das beständige Einwirken der Tätigkeit der Gedanken und Empfindungen. Dadurch dass diese gewisse Anlagen unaufhörlich, und andere niemals oder selten beschäftigen, werden die einen entwickelt und die andern unterdrückt, und so geht nach und nach die bestimmte Charakterform hervor. Durch diese durchgängige Korrespondenz unsrer Art zu sein und unsrer Art zu urteilen, unsrer praktischen und unsrer theoretischen Beschaffenheit wird es uns möglich, bloß durch die Idee und von unserm Geiste aus tätig und praktisch auf uns einzuwirken. Man kann nichts durch den Verstand begreifen, was nicht auf irgendeine Weise in dem Gebiet der Sinne und der Empfindung angespielt ist; aber man kann auch nichts in sein Wesen aufnehmen, was nicht durch Begriffe einigermaßen vorbereitet ist. Man kann nicht einsehen, wofür man keinen Sinn hat, wozu der Stoff mangelt; aber man kann auch nichts sein, wovon man gar keinen Begriff hat, wozu die Form fehlt.
Die Achtsamkeit auf das Charakteristische leistet aber noch mehr. Einesteils nimmt sie jeden Gegenstand zuerst und vorzüglich in seiner Beziehung auf das innere Wesen; andernteils weckt sie den Charakter und erregt seine Tätigkeit. Sobald aber einmal der Charakter erwacht ist, so eignet er sich von allen Dingen, die auf ihn einwirken, immer von selbst nur das an, was ihm homogen ist; von allen Seiten her wird also Stoff und Nahrung auf einen einzigen Punkt hin zusammengetragen. Man sieht dies sehr deutlich an Charakteren, die von Natur heftig, leidenschaftlich und einseitig sind. Von diesen pflegt man mit Recht zu sagen, dass sie überall nur sich sehen, in alles nur sich hinüber tragen; darum wächst auch ihre Einseitigkeit mit so [27]verdoppelten Fortschritten. Der Fehler liegt aber bei ihnen nicht daran, dass ihre Individualität zu rege wäre, sondern nur daran, dass sie es durch Leidenschaft und Naturanlage wird. Würde sie aber durch eine Stimmung des Geistes rege gemacht, durch das Streben, überall eine schöne Individualität zu zeigen, so würde der Erfolg ganz und gar ein andrer sein. Ein solcher Mensch würde gleichfalls alles charakteristisch auf sich einwirken lassen, und charakteristisch behandeln. Aber er würde dasjenige, was ihm heterogen wäre, nicht übersehen noch wegwerfen, sondern nur auf seine Weise und zu seinen Zwecken benutzen; er würde jeden Gegenstand durchaus objektiv und wie der Unbefangenste aufnehmen, der ganze, aber freilich wichtige Unterschied würde nur in dem Grade und der Art der Aneignung liegen. Der Kontrast einiger auswärtigen Nationen mit der Deutschen zeigt dies sehr deutlich. Franzosen und Engländer gehen in auffallend bestimmten Charakterformen fort; aber sie behandeln auch sehr häufig die Welt um sich her nur auf ihre einseitige Weise, und verfehlen Wahrheit und Objektivität.
Vorzüglich aber bildet sich der Charakter gesellschaftlich zur Reinheit und Bestimmtheit aus, wenn er mit reinen und bestimmten Charakteren in Verbindung kommt. Es ist nicht die Ähnlichkeit allein, zu welcher sich einer dem andern anartet, es ist auch der Kontrast, in welchem sie sich einander entgegensetzen. Denn der moralischen, wie der physischen Organisation ist ein assimilierender Bildungstrieb eigen, der aber, sobald nur der eigne Charakter erst einige Bestimmtheit erlangt hat, nicht geradezu auf Ähnlichkeit, sondern auf eine verhältnismäßige Stellung der beiderseitigen Individualitäten gegen einander herausgeht. So [28]wird der männliche Charakter reiner und männlicher, wenn ihm der weibliche gegenübergestellt ist, und umgekehrt. Übrigens aber bemerkt man diese Eigentümlichkeit freilich mehr bei einzelnen Individuen, als ganzen Gattungen. Vorzüglich wird sie noch bei Charakteren von Nationen vermisst, die im Verkehr unter einander noch immer mehr ihre Originalität entweder übertreiben oder aufgeben, als zweckmäßig bestimmen und bilden. Selbst die äußre Gesichtsbildung erfährt einigermaßen diesen Einfluss, wie z. B. die gewiss nicht chimärische Ähnlichkeit von verheirateten Personen unter einander beweist.
Wenn aber einmal Ein Schritt geschehen ist, so folgen die übrigen mit unglaublicher Leichtigkeit nach. Denn nichts wirkt so lebendig rund um sich her, als die menschliche Individualität. Vorzüglich wirkt in dieser Hinsicht die Abstammung, welche dasjenige, was bisher erworben ist, dem neuen Individuum als fertige Anlage überliefert, und so jedes Mal das in ein sicheres Eigentum verwandelt, was so lange nur ein minder sicherer Besitz schien.
Das Studium der Charaktere in ihrer Individualität vermehrt also diese letztere selbst. Dass aber von dieser, von der Mannigfaltigkeit der Charakterformen die Veredlung der Gattungen abhängt, davon ist auch außer der menschlichen Natur ein merkwürdiges Beispiel vorhanden – das bekannte Phänomen nämlich, dass die Haustiere mehr Rassen, mehr Varietäten, und endlich auch mehr individuelle Merkmale zeigen, als alle übrigen Tiergattungen.
Das Bestreben der vergleichenden Anthropologie geht dahin, die mögliche Verschiedenheit der menschlichen Natur in ihrer Idealität auszumessen; oder, was dasselbe ist, zu untersuchen, wie das menschliche Ideal, dem niemals Ein Individuum adäquat ist, durch viele dargestellt werden kann.
Was sie sucht, ist also kein Gegenstand der Natur, sondern etwas Unbedingtes, – Ideale, die aber auf Individuen, auf empirische Objekte so bezogen werden, dass man sie als das Ziel ansieht, dem diese sich nähern sollen.
Könnte sie diesen Zweck erreichen, ohne zu der Beobachtung der wirklichen Natur herabzusteigen, so würde sie eine rein philosophische und spekulative Wissenschaft bleiben. Und in gewissem Verstande kann sie dies in der Tat. Sie kann bloß bei dem allgemeinen Ideale des Menschen stehen bleiben; sie kann dasselbe nach seinen einzelnen Seiten zerlegen, und aus diesen einzelnen Virtuositäten einzelne idealische Gestalten bilden, in welchen sich um dieselben, als um die herrschenden Züge, die übrigen Eigenschaften, deren der vollkommen ausgebildete Mensch nicht entbehren kann, in gehöriger Unterordnung herum versammeln. In dem Ideale des Menschen findet sich z. B. Sinn für Schönheit und Streben nach Wahrheit, beide für sich in hoher Stärke, und gegeneinander in vollkommnem Gleichgewicht. Man zerlege diese beiden Tendenzen, mache jede zum Grundzug einer besonderen Individualität, ergänze von diesem Gesichtspunkte aus die übrige Gestalt, [30]und man erhält, ohne irgendeine spezielle Erfahrung zu bedürfen, die reinen Charaktere des Künstlers und des Philosophen.