Cover

Das Buch

1968: Am Hafen von Leningrad müssen der junge Alexander Karpenko und seine Mutter auf der Flucht vor dem KGB entscheiden, auf welches Schiff sie sich als blinde Passagiere schleichen. Eines fährt nach Großbritannien, eines in die USA. Der Wurf einer Münze soll das Schicksal von Alexander und Ella besiegeln … Über eine Zeitspanne von dreißig Jahren und auf zwei Kontinenten entfaltet sich in Jeffrey Archers neuem Roman eine Geschichte von einmaliger Spannung und Dramatik – eine Geschichte, die man nicht wieder vergisst.

Der Autor

Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Archer schlug zunächst eine bewegte Politiker-Karriere ein. Weltberühmt wurde er als Schriftsteller, »Kain und Abel« war sein Durchbruch. In Deutschland erscheinen seine großen Werke im Heyne Verlag. Mittlerweile zählt Jeffrey Archer zu den erfolgreichsten Autoren Englands, sein historisches Familienepos »Die Clifton-Saga« begeistert eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in London, Cambridge und auf Mallorca.

JEFFREY ARCHER

TRAUM DES
LEBENS

ROMAN

Aus dem Englischen
von Martin Ruf

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

HEADS YOU WIN

bei Pan Macmillan

Copyright © 2018 by Jeffrey Archer

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (EML, happykanppy, pisaphotography (2x))

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-22712-8
V003

www.heyne.de

Für Boris Nemtsow

Ich wünschte, ich hätte seinen Mut

ERSTES BUCH

1

Alexander

Leningrad: 1968

Was willst du machen, wenn du mit der Schule fertig bist?«, fragte Alexander.

»Ich möchte zum KGB«, erwiderte Wladimir, »aber sie werden mich nicht mal in Erwägung ziehen, wenn ich keinen Platz an der staatlichen Universität bekomme. Und was ist mit dir?«

»Das Außenministerium«, sagte Alexander. »Wenn sie mich wollen.«

»Die würden dich mit offenen Armen aufnehmen«, sagte Wladimir. »Bei den Verbindungen, die dein Vater hat.«

»Ich halte nichts von Vetternwirtschaft«, entgegnete Alexander, während sie über den Schulhof in Richtung Straße schlenderten.

»Vetternwirtschaft?«, sagte Wladimir, nachdem sie die Straße überquert und den Heimweg eingeschlagen hatten.

»Das ursprüngliche lateinische Wort spricht eigentlich von Neffen und geht auf die Päpste im fünfzehnten Jahrhundert zurück, die ihren Verwandten und engen Freunden oft Vergünstigungen zukommen ließen.«

»Was soll daran falsch sein?«, sagte Wladimir. »Man ersetzt die Päpste einfach nur durch den KGB

»Gehst du am Samstag zum Spiel?«, fragte Alexander, indem er das Thema wechselte.

»Nein. Seit Zenit Leningrad das Halbfinale erreicht hat, gibt es wirklich keine Chance mehr, an eine Eintrittskarte zu kommen. Aber weil dein Vater Hafenverwalter ist, bekommst du automatisch ein paar reservierte Plätze auf der Tribüne.«

»Nicht solange er sich weigert, in die Kommunistische Partei einzutreten«, sagte Alexander. »Und als ich ihn das letzte Mal gefragt habe, klang er nicht besonders optimistisch, was Karten angeht. Deshalb ist Onkel Kolja meine letzte Hoffnung.«

Während sie ihren Weg nach Hause fortsetzten, begriff Alexander, dass sie genau jenes Thema vermieden, an das sie beide fast unablässig denken mussten.

»Wann werden wir es wohl erfahren, was meinst du?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Alexander. »Vermutlich genießen es die Lehrer, uns leiden zu sehen, denn es ist das letzte Mal, dass sie irgendwelche reale Macht über uns haben. Und das wissen sie natürlich.«

»Du brauchst dir darüber keine Sorgen zu machen«, sagte Wladimir. »Bei dir gibt es nur einen Punkt, der noch offen ist: Bekommst du das Lenin-Stipendium für das Fremdspracheninstitut in Moskau, oder bieten sie dir einfach so einen Platz an? Ich kann nicht einmal sicher sein, ob ich einen Platz an der staatlichen Universität bekomme, und wenn nicht, dann war’s das mit meinen Chancen, zum KGB zu gehen.« Wladimir seufzte. »Wahrscheinlich werde ich am Ende für den Rest meines Lebens in den Docks arbeiten, mit deinem Vater als meinem Chef.«

Alexander äußerte sich nicht dazu, als sie das Mietshaus betraten, in dem sie beide wohnten, und die abgetretenen Stufen zu ihren Wohnungen hinaufstiegen.

»Ich würde lieber im ersten Stock wohnen anstatt im neunten.«

»Du weißt genauso gut wie ich, dass die Wohnungen in den ersten drei Stockwerken für Parteimitglieder reserviert sind, Wladimir. Aber ich bin sicher, dass du ganz schön tief sinken wirst, wenn du erst mal beim KGB bist.«

»Wir sehen uns morgen«, sagte Wladimir, ohne auf die schnippische Bemerkung seines Freundes einzugehen, und trat seinen Weg weitere vier Stockwerke hinauf an.

Alexander öffnete die Tür zu der winzigen Wohnung der Familie im fünften Stock, während er über einen Artikel nachdachte, den er kürzlich in einem staatlichen Magazin gelesen hatte. Dort wurde darüber berichtet, dass die Kriminalität in Amerika so sehr überhandgenommen hatte, dass jeder mindestens zwei und manchmal sogar drei Schlösser an seiner Wohnungstür angebracht hatte. Der einzige Grund, warum das in Russland nicht so war, vermutete Alexander, bestand wahrscheinlich darin, dass niemand etwas besaß, das zu stehlen sich gelohnt hätte.

Er ging auf direktem Weg in sein Zimmer, denn er wusste, dass seine Mutter erst nach Beendigung ihrer Arbeit zurückkommen würde. Er nahm mehrere Blätter liniertes Papier, einen Bleistift und ein abgegriffenes Buch aus seiner Schultasche und legte alles auf den winzigen Tisch in einer Ecke seines Zimmers. Dann schlug er Krieg und Frieden auf Seite 179 auf und fuhr fort, Tolstois Worte ins Englische zu übersetzen. Als die Familie Rostow sich zum Abendessen versammelte, schien Leo nicht ganz bei der Sache zu sein, und das nicht nur, weil …

Alexander sah gerade jeden Absatz noch einmal auf Rechtschreibfehler durch und dachte gleichzeitig darüber nach, ob er an einigen Stellen ein angemesseneres englisches Wort finden könnte, als er hörte, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Sein Magen begann zu knurren, und er fragte sich, ob es seiner Mutter gelungen war, einen Happen aus der Offiziersmesse zu schmuggeln, wo sie als Köchin arbeitete. Er schloss das Buch, verließ sein Zimmer und ging zu ihr in die Küche.

Elena begrüßte ihren Sohn mit einem warmherzigen Lächeln, als er sich auf die Holzbank am Tisch setzte.

»Gibt es heute Abend irgendetwas Besonderes, Mama?«, fragte Alexander hoffnungsvoll. Sie lächelte und begann, ihre Taschen zu leeren; zum Vorschein kamen dabei eine große Kartoffel, zwei Pastinaken, ein halber Laib altbackenes Brot sowie – als Höhepunkt dieses Abends – ein Stück Fleisch, das ein Offizier wahrscheinlich nach dem Mittagessen auf seinem Teller hatte liegen lassen. Ein wahres Fest, dachte Alexander, verglichen mit dem, was sein Freund Wladimir heute Abend essen würde. Es gab immer jemanden, dem es schlechter ging als einem selbst – seine Mutter wurde nicht müde, ihn daran zu erinnern.

»Irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte seine Mutter, während sie begann, die Kartoffel zu schälen.

»Jeden Abend stellst du mir dieselbe Frage, Mama«, erwiderte Alexander, »und ich erkläre dir immer wieder, dass es mindestens noch einen Monat oder vielleicht sogar noch länger dauern wird, bis ich es erfahren werde.«

»Es ist ja nur, weil dein Vater so stolz wäre, wenn du das Lenin-Stipendium gewinnen würdest.« Sie legte die Kartoffel auf den Tisch und schob die Schalen zusammen. Nichts würde verschwendet werden. »Du weißt, dass dein Vater studiert hätte, wenn der Krieg nicht dazwischengekommen wäre.«

In der Tat, Alexander wusste das nur zu gut. Aber er hörte immer wieder gern, wie sein Vater als junger Gefreiter während der Belagerung von Leningrad direkt an der Front stationiert worden war und seinen Posten erst verlassen hatte, als die Deutschen abgedrängt worden waren und sich in ihr eigenes Land zurückgezogen hatten, obwohl eine Elite-Panzerdivision den betreffenden Frontabschnitt über dreiundneunzig Tage hinweg immer wieder angegriffen hatte.

»Wofür ihm der Orden der Verteidiger von Leningrad verliehen wurde«, sagte Alexander wie aufs Stichwort.

Seine Mutter musste ihm die Geschichte schon mindestens einhundert Mal erzählt haben, doch Alexander wurde ihrer niemals überdrüssig, auch wenn sein Vater sie von sich aus nie erwähnte. Und jetzt, fast fünfundzwanzig Jahre nach seiner Rückkehr zu den Docks, war er zum Genossen Hafenverwalter aufgestiegen und hatte die Oberaufsicht über dreitausend Arbeiter inne. Obwohl er kein Parteimitglied war, musste sogar der KGB anerkennen, dass er genau der Richtige für diese Arbeit war.

Die Wohnungstür wurde geöffnet und mit einem recht lauten Knall wieder geschlossen, was bedeutete, dass Alexanders Vater eingetroffen war. Alexander lächelte, als sein Vater in die Küche kam. Konstantin Karpenko war ein großer, kräftig gebauter Mann, der noch immer so gut aussah, dass manche junge Frau sich bis heute nach ihm umdrehte, um sich einen zweiten Blick zu gönnen. Sein wettergegerbtes Gesicht wurde von einem buschigen Schnurrbart beherrscht, den Alexander als Kind oft gestreichelt hatte. Inzwischen wagte er es schon seit mehreren Jahren nicht mehr. Konstantin ließ sich seinem Sohn gegenüber auf einen Stuhl sinken.

»Es dauert noch eine halbe Stunde, bis das Abendessen fertig ist«, sagte Elena, während sie die Kartoffel in Würfel schnitt.

»Wenn wir unter uns sind, sollten wir uns ausschließlich auf Englisch unterhalten«, sagte Konstantin.

»Warum?«, fragte Elena in ihrer Muttersprache. »Ich habe noch nie in meinem Leben einen Engländer getroffen, und vermutlich werde ich das auch nie.«

»Weil Alexander die Sprache unserer Feinde flüssig sprechen sollte, wenn er dieses Stipendium gewinnen und nach Moskau gehen wird.«

»Aber haben die Briten und die Amerikaner im letzten Krieg nicht auf derselben Seite wie wir gekämpft, Papa?«

»Auf derselben Seite, ja«, erwiderte sein Vater. »Aber nur, weil wir für sie von zwei Übeln das kleinere waren.« Alexander dachte darüber nach, während sein Vater aufstand. »Sollen wir eine Runde Schach spielen, solange wir warten?«, fragte er. Alexander nickte. Das war immer der schönste Teil des Tages für ihn. »Du stellst die Figuren auf, während ich mir die Hände wasche.«

Nachdem Alexanders Vater die Küche verlassen hatte, flüsterte Elena: »Warum lässt du ihn heute nicht ausnahmsweise gewinnen?«

»Niemals«, sagte Alexander. »Er würde ohnehin merken, wenn ich es versuchen würde, und das würde mir nicht gut bekommen.« Er zog die Schublade des Küchentischs auf und nahm ein hölzernes Schachbrett und eine kleine Kiste heraus, in der sich die Figuren befanden. Eine Figur fehlte, weshalb der Plastiksalzstreuer jeden Abend als Läufer dienen musste.

Alexander rückte seinen Königsbauern zwei Felder nach vorn, bevor sein Vater wieder zurück war. Konstantin reagierte sofort und zog mit seinem Königinnenbauern ein Feld nach vorn.

»Wie ist euer Match gelaufen?«, fragte er.

»Wir haben 3 : 0 gewonnen«, sagte Alexander und zog mit dem Turm auf der Seite seiner Königin.

»Du hast wieder mal keinen reingelassen, sehr gut«, sagte Konstantin. »Aber noch wichtiger ist, dass du dieses Stipendium bekommst. Wahrscheinlich hast du immer noch nichts gehört?«

»Nichts«, bestätigte Alexander, während er seinen nächsten Zug machte. Es dauerte einige Augenblicke, bis sein Vater ebenfalls zog. »Papa, darf ich dich etwas fragen? Hast du es geschafft, für das Spiel am Samstag eine Karte zu bekommen?«

»Nein«, gestand sein Vater, wobei er den Blick nicht vom Brett hob. »Die Karten sind seltener als eine Jungfrau auf dem Newski-Prospekt.«

»Konstantin!«, sagte Elena. »Du kannst dich bei der Arbeit wie ein Hafenarbeiter benehmen, aber nicht zu Hause.«

Konstantin grinste über den Tisch hinweg seinen Sohn an. »Aber man hat deinem Onkel Kolja ein paar Karten für die Ränge versprochen, und da ich nicht die Absicht habe hinzugehen …« Alexander sprang auf, während sein Vater den nächsten Zug machte; dieser freute sich, dass es ihm gelungen war, seinen Sohn abzulenken.

»Du hättest problemlos ein paar Karten bekommen«, sagte Elena, »wenn du nur bereit wärst, in die Partei einzutreten.«

»Genau das werde ich nicht tun, wie du sehr wohl weißt. Quid pro quo, diesen Ausdruck hast du mir beigebracht«, sagte Konstantin, wobei er seinem Sohn direkt ins Gesicht sah. »Vergiss nie, dass diese Bande immer eine Gegenleistung erwartet, und ich werde meine Freunde nicht für ein paar Fußball-Karten verraten.«

»Aber seit über zwanzig Jahren haben wir beim Kampf um die Meisterschaft das Halbfinale nicht mehr erreicht«, sagte Alexander.

»Und wir werden es wahrscheinlich auch nicht mehr erreichen, solange ich lebe. Aber es braucht schon sehr viel mehr dazu, dass ich in die Kommunistische Partei eintrete.«

»Wladimir ist bereits Pionier und hat erklärt, dass er in den Komsomol eintreten will«, sagte Alexander, nachdem er seinen nächsten Zug gemacht hatte.

»Das ist keine große Überraschung«, sagte Konstantin, »denn sonst hätte er keine großen Aussichten, vom KGB genommen zu werden – und dabei ist der doch das natürliche Habitat für diese ganz besondere Art von im Schlamm hausender Lebensform.«

Wieder war Alexander abgelenkt. »Warum bist du immer so hart zu ihm, Papa?«

»Weil er ein verschlagener kleiner Bastard ist, genau wie sein Vater. Du solltest ihm niemals ein Geheimnis anvertrauen, denn sonst landet es beim KGB, noch bevor du wieder zu Hause bist.«

»Er ist nicht besonders helle«, sagte Alexander. »Ehrlich gesagt, kann er schon froh sein, wenn er einen Platz an der staatlichen Universität angeboten bekommt.«

»Er mag zwar nicht allzu viel im Kopf haben«, sagte Konstantin, »aber er ist gerissen und rücksichtslos, und das ist eine viel gefährlichere Kombination. Glaub mir, für eine Karte zum Pokalendspiel würde er seine Mutter verkaufen. Vielleicht sogar schon für eine Karte zum Halbfinale.«

»Das Abendessen ist fertig«, sagte Elena.

»Sollen wir uns auf ein Remis einigen?«, fragte Konstantin und starrte das Brett an.

»Nein, Papa. Ich brauche noch sechs Züge bis zum Schachmatt, und das weißt du ganz genau.«

»Hört auf, euch zu streiten«, sagte Elena. »Deckt lieber den Tisch.«

»Wann habe ich dich das letzte Mal besiegt?«, fragte Konstantin und kippte seinen König um.

»Am 19. November 1967«, sagte Alexander. Beide standen auf und gaben einander die Hand.

Alexander stellte den Salzstreuer zurück auf den Tisch und packte die Schachfiguren in die Kiste, während sein Vater drei Teller vom Regal über der Spüle nahm. Nachdem er sie auf den Tisch gestellt hatte, öffnete Alexander eine Schublade des Küchenschranks und holte Messer und Gabeln heraus, die allesamt aus verschiedenen Gedecken stammten. Er dachte an den Abschnitt aus Krieg und Frieden, den er gerade übersetzt hatte. Die Rostows genossen regelmäßig ein fünfgängiges Dinner – ein besseres Wort als Abendessen, er würde es korrigieren, wenn er wieder in seinem Zimmer war –, und für jeden Gang benutzten sie besonderes Besteck. Überdies hatte die Familie ein Dutzend Diener in Livree, die hinter den Stühlen der Gäste standen, um die Mahlzeiten zu servieren, die von drei Köchinnen, welche niemals die Küche verließen, zubereitet worden waren. Alexander war überzeugt, dass die Rostows keine bessere Köchin als seine Mutter gehabt haben konnten, denn sonst hätte Elena nicht in der Offiziersmesse gearbeitet.

Eines Tages …, sagte er sich, nachdem er den Tisch gedeckt und seinem Vater gegenüber Platz genommen hatte. Elena setzte sich mit ihrer neuesten Köstlichkeit zu ihnen, die sie in drei Portionen teilte, aber nicht jede Portion war gleich groß. Das Fleisch hatte sie in drei Stücke geschnitten, die Kartoffel gewürfelt und die Schale angebraten, sodass sie wie eine Delikatesse aussah. Dieses Mahl hatte Elena nach eigenen Angaben von den Tellern diverser Offiziere »repatriiert«. »Repatriiert« war ein Wort, das sie von Alexander übernommen hatte. Für beide Männer gab es überdies je eine Pastinake und eine dicke Scheibe Schwarzbrot mit Schweineschmalz.

»Ich habe heute Abend ein Kirchentreffen«, sagte Konstantin und griff nach seiner Gabel.

Alexander schnitt seine Wurstportion in vier Stücke und kaute jedes einzelne Stück sorgfältig, wobei er zwischendurch immer wieder von seinem Schwarzbrot aß und Wasser trank. Die Pastinake hob er sich bis zuletzt auf, und der fade Geschmack blieb ihm noch lange im Mund. Er war nicht einmal sicher, ob er sie wirklich mochte. In Krieg und Frieden aß nur die Dienerschaft Pastinaken. Während der Mahlzeit unterhielt sich die Familie weiter auf Englisch.

Konstantin leerte sein Glas Wasser, wischte sich den Mund mit dem Jackenärmel ab, stand auf und verließ die Küche ohne ein weiteres Wort.

»Du kannst zurück an deine Bücher gehen, Alexander. Für das hier werde ich nicht allzu lange brauchen«, sagte Elena und machte eine wegwerfende Handbewegung.

Glücklich folgte Alexander der Erlaubnis seiner Mutter und ging wieder in sein Zimmer. Er ersetzte das Wort Abendessen durch das Wort Dinner, bevor er sich der nächsten Seite zuwandte und seine Übersetzung von Tolstois Meisterwerk fortsetzte. Die Franzosen rückten auf Moskau vor …

Als Konstantin aus dem Mietshaus auf die Straße trat, war er sich nicht bewusst, dass ein Augenpaar auf ihn herabstarrte.

Unfähig, sich auf seine Schularbeiten zu konzentrieren, hatte Wladimir ziellos aus dem Fenster gesehen, als er plötzlich bemerkte, wie Genosse Karpenko aus dem Gebäude kam. Es war schon das dritte Mal diese Woche. Wo ging er so spät noch hin? Vielleicht sollte Wladimir das herausfinden. Rasch verließ Wladimir sein Zimmer und schlich auf Zehenspitzen durch den Flur. Er konnte das laute Schnarchen hören, das aus dem vorderen Zimmer kam, spähte hinein und sah seinen Vater zusammengesunken in einem Rosshaarsessel sitzen, eine leere Wodkaflasche neben sich. Wladimir schloss leise die Tür. Dann eilte er die Treppe hinab und hinaus auf die Straße. Er sah nach links und erkannte, wie Genosse Karpenko gerade um die Ecke bog. Er rannte ihm nach, ging jedoch langsamer, bevor er das Ende der Straße erreichte. Er spähte um die Ecke und sah, wie Genosse Karpenko in der Andreaskirche verschwand. Was für eine Zeitverschwendung, dachte Wladimir. Der KGB schätzte die Christlich-Orthodoxe Kirche zwar nicht gerade, aber sie war auch nicht verboten. Er wollte gerade wieder nach Hause gehen, als ein weiterer Mann sich aus dem Schatten löste, den er sonntags noch nie in der Kirche gesehen hatte.

Wladimir achtete darauf, von niemandem beobachtet zu werden, während er sich langsam der Kirche näherte. Er sah, wie zwei weitere Männer, die aus der anderen Richtung kamen, ebenfalls in die Kirche gingen. Wladimir erstarrte, als er Schritte hinter sich hörte. Sofort sprang er über die Mauer des Kirchhofs und blieb regungslos liegen. Er wartete, bis der Mann vorbeigegangen war, bevor er über den Kirchhof zur Rückseite des Gebäudes kroch, wo sich ein Eingang befand, der nur von den Chorknaben benutzt wurde. Er drehte den Knauf und fluchte, als die Tür sich nicht öffnen ließ.

Er schaute sich um und entdeckte ein halb geöffnetes Fenster über sich. Er konnte es nicht ganz erreichen, weshalb er eine grobe Steinplatte als Stufe benutzte. Mit ihrer Hilfe drückte er sich nach oben. Beim dritten Versuch gelang es ihm, den Fenstersims zu packen. Mit größter Anstrengung zog er sich hoch, schob seinen schmalen Körper durch den Fensterspalt und ließ sich auf der anderen Seite zu Boden fallen.

Leise schlich sich Wladimir vom hinteren Bereich der Kirche in den Chorraum, wo er sich hinter dem Altar versteckte. Nachdem sich sein Herzschlag fast wieder normalisiert hatte, spähte er um den Altar und erkannte ein Dutzend Männer, die ins Gespräch vertieft im Chorgestühl saßen.

»Wann wirst du mit den anderen Arbeitern über deine Vorstellungen sprechen?«, fragte einer von ihnen.

»Am nächsten Samstag, Stefan«, sagte Konstantin, »bei der monatlichen Mitarbeiterversammlung. Ich werde nie eine bessere Gelegenheit bekommen, wenn ich sie davon überzeugen will, sich uns anzuschließen.«

»Nicht einmal gegenüber den ältesten Arbeitern eine Andeutung über das, was du vorhast?«, fragte ein anderer.

»Nein. Das Überraschungsmoment ist unsere einzige Aussicht auf Erfolg. Bei dem, was wir planen, sollten wir den KGB lieber nicht aufscheuchen.«

»Aber bei der Versammlung werden sie ihre Spione haben, die genau auf jedes deiner Worte achten werden.«

»Das denke ich auch, Michail. Aber die werden ihren Vorgesetzten dann nur noch berichten können, wie groß die Unterstützung für uns ist, wenn wir eine unabhängige Gewerkschaft bilden wollen.«

»Ich zweifle nicht daran, dass die Männer dich unterstützen werden«, sagte eine vierte Stimme, »aber selbst das mitreißendste Rednertalent kann den Flug einer Kugel nicht aufhalten.« Mehrere Männer nickten mit düsteren Mienen.

»Sobald ich am Samstag meine Rede gehalten habe«, sagte Konstantin, »wird sich der KGB hüten, etwas so Unüberlegtes zu tun. Denn sollten sie so vorgehen, würden sich die Arbeiter wie ein Mann erheben, und der KGB bekäme den Geist, der einmal aus der Flasche ist, nie wieder hinein. Und doch«, fuhr er fort, »hat Juri recht. Ihr alle geht ein großes Risiko ein für eine Sache, an die ich selbst schon lange glaube. Wenn sich also irgendjemand anders entscheiden und die Gruppe verlassen möchte, dann wäre jetzt die Zeit gekommen, es zu tun.«

»Unter uns wirst du keinen Judas finden«, sagte eine weitere Stimme, gerade als Wladimir ein Husten unterdrückte. Und dann standen alle auf, um zu zeigen, dass sie Karpenko als ihren Anführer anerkannten.

»Dann sehen wir uns also am Samstagmorgen wieder, aber bis dahin muss jeder strengstes Stillschweigen bewahren.«

Wladimirs Herz hämmerte heftig, als die Männer einander die Hand reichten und die Kirche verließen. Er bewegte sich erst wieder, als er hörte, wie das große Westtor geschlossen und verriegelt wurde. Dann eilte er zurück in die Sakristei und schob sich aus dem Fenster, indem er einen Hocker benutzte. Er hielt sich einen Augenblick lang am Sims fest, bevor er sich wie ein erfahrener Ringer zu Boden fallen ließ – die einzige Disziplin, in der Alexander ihm nicht das Wasser reichen konnte.

Weil Wladimir wusste, dass er keine Sekunde zu verlieren hatte, rannte er in die entgegengesetzte Richtung zu der, die Genosse Karpenko eingeschlagen hatte, und hielt dabei auf eine Straße zu, die kein »Zutritt verboten«-Schild nötig hatte, denn nur Parteimitglieder betraten jemals den Tereschkowa-Prospekt. Er wusste genau, wo Major Poljakow wohnte, doch auch jetzt noch fragte er sich, ob er den Mut haben würde, so spät an dessen Tür zu klopfen. Doch genau genommen wäre es zu jeder Tages- oder Nachtzeit eine Herausforderung gewesen.

Als er die Straße mit ihren dicht belaubten Bäumen und dem hübschen Kopfsteinpflaster erreicht hatte, blieb er stehen und starrte das Haus an. Mit jedem Augenblick sank seine Entschlossenheit. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und ging langsam auf die Haustür zu. Doch gerade als er anklopfen wollte, wurde die Tür von einem Mann aufgerissen, der offensichtlich keine Überraschungen mochte.

»Was willst du, Junge?«, fragte der Major und packte seinen unerwünschten Besucher am Ohr.

»Ich habe Informationen«, erwiderte Wladimir. »Als Sie letztes Jahr bei uns in der Schule waren, um Rekruten anzuwerben, haben Sie uns gesagt, Informationen seien Gold wert.«

»Ich hoffe, du hast mir wirklich etwas anzubieten«, sagte Poljakow, der Wladimirs Ohr nicht losließ, als er seinen unwillkommenen Besucher ins Haus zog und die Tür hinter sich zuwarf. »Rede.«

Wladimir berichtete ihm genau, was er in der Kirche gehört hatte, und als er fertig war, hatte Poljakow endlich sein Ohr losgelassen und ihm den Arm auf die Schulter gelegt.

»Hast du noch jemand anderen außer Karpenko erkannt?«, fragte Poljakow.

»Nein, Genosse Major, aber er hat die Namen Juri, Michail und Stefan erwähnt.«

Poljakow notierte sich die Namen und sagte dann: »Wirst du dir am Samstag das Fußballspiel ansehen?«

»Nein, Genosse Major. Es ist ausverkauft, und mein Vater hat es nicht geschafft …«

Wie ein Bühnenzauberer ließ der KGB-Chef eine Eintrittskarte aus einer seiner Innentaschen erscheinen und reichte sie seinem neuesten Rekruten.

Leise schloss Konstantin die Schlafzimmertür, denn er wollte seine Frau nicht wecken. Er zog seine schweren Stiefel aus, stellte sie auf den Boden und kroch ins Bett. Wenn er früh genug aufbrach, würde er Elena nicht erklären müssen, was er und seine Anhänger besprochen hatten und, was noch wichtiger war, was er am Samstagmorgen vorhatte. Es war besser, wenn sie dachte, er sei mit seinen Freunden etwas trinken gegangen, oder sogar, er habe eine Geliebte, als ihr die Wahrheit zu sagen. Denn Konstantin wusste, dass seine Frau versuchen würde, ihn davon abzubringen, seine geplante Rede zu halten.

Er konnte geradezu hören, wie sie ihn daran erinnerte, dass sie schließlich kein allzu schlechtes Leben hatten. Sie wohnten in einem Mietshaus, das über elektrischen Strom und fließend Wasser verfügte. Sie hatte Arbeit als Köchin im Hafen, und ihr Sohn erwartete die baldige Mitteilung, dass er ein Stipendium für das renommierte Fremdspracheninstitut erhalten würde. Was konnten sie mehr verlangen?

Dass eines Tages diese Privilegien für jeden etwas ganz Selbstverständliches seien, würde Konstantin auf ihre Frage antworten.

Er lag wach in jener Nacht und schrieb seine Rede im Kopf, denn er konnte nicht riskieren, sie zu Papier zu bringen, bevor er den dreitausend Dockarbeitern am Samstagmorgen seine Botschaft verkündet hatte.

Er stand um halb sechs auf, und wieder bemühte er sich, seine Frau nicht zu wecken. Er spritzte sich etwas eiskaltes Wasser ins Gesicht, rasierte sich jedoch nicht. Dann zog er seinen Overall und ein grobes, kragenloses Hemd an, bevor er schließlich seine abgenutzten Stiefel mit der genagelten Sohle überstreifte. Er schlich sich aus dem Schlafzimmer und holte seine Brotdose aus der Küche: ein Würstchen, ein hart gekochtes Ei, zwei Scheiben Brot und Käse. Nur die Leute vom KGB würden besser essen.

Er schloss die Wohnungstür hinter sich und ging langsam die abgewetzten Steinstufen der Treppe hinab, bevor er schließlich auf die leere Straße hinaustrat. Die sechs Kilometer zur Arbeit ging er immer zu Fuß. Er mied den überfüllten Bus, der die Arbeiter zwischen den Docks und der Stadt hin und her transportierte. Wenn er darauf hoffen wollte, den nächsten Samstag zu überleben, musste er so fit bleiben wie ein gut ausgebildeter Soldat im Fronteinsatz.

Jedes Mal, wenn Konstantin auf der Straße an einem Arbeitskollegen vorbeikam, grüßte er den Mann, indem er spöttisch salutierte. Manchmal wurde sein Salutieren erwidert, einige andere nickten, während wiederum andere wie schlechte Samariter wegsahen. Letztere hätten genauso gut die Nummer ihres Parteiausweises auf die Stirn tätowiert tragen können.

Eine Stunde später erreichte Konstantin das Tor zum Hafen und schob seine Karte unverzüglich in die Stechuhr. Da er für die Arbeit im Hafen verantwortlich war, war er gerne der Erste, der kam, und der Letzte, der ging. Er folgte der Kaimauer, während er über den ersten Auftrag des Tages nachdachte. Ein U-Boot mit Zielhafen Odessa am Schwarzen Meer war vor Kurzem in Dock 11 eingelaufen, um Treibstoff und Proviant aufzunehmen, bevor es seine Fahrt fortsetzen würde. Aber bis dahin würde es noch mindestens eine Stunde dauern. Nur die vertrauenswürdigsten Arbeiter durften sich an jenem Morgen in der Nähe von Dock 11 aufhalten.

Konstantins Gedanken schweiften zurück zum Treffen am Abend zuvor. Irgendetwas stimmte nicht, aber er hätte es nicht genauer benennen können. War es vielleicht eher jemand und nicht etwas?, fragte er sich gerade, als ein gewaltiger Kran am anderen Ende des Docks seine schwere Last hob und langsam und schwankend in Richtung des wartenden U-Bootes in Dock 11 hievte.

Der Kranführer war sorgfältig ausgewählt worden. Er konnte einen Tank auch dann noch sicher in einem Frachtraum platzieren, wenn er rechts und links nur wenige Zentimeter Spielraum hatte. Doch heute war das nicht seine Aufgabe. Vielmehr würde er Ölfässer in ein U-Boot verladen, das mehrere Tage am Stück unter Wasser bleiben musste. Auch das war natürlich eine Arbeit, die größte Genauigkeit erforderte. Immerhin hatte er in einer Hinsicht Glück: Heute Morgen wehte kein Wind.

Konstantin versuchte, sich zu konzentrieren, als er seine Rede noch einmal durchging. Wenn seine Kollegen lange genug den Mund hielten, würde alles perfekt ablaufen. Er war voller Zuversicht und lächelte still vor sich hin.

Der Kranführer stellte zufrieden fest, dass er alles bis auf wenige Zentimeter genau berechnet hatte. Die Ladung war perfekt ausbalanciert und hing vollkommen ruhig in der Luft. Behutsam schob er einen schweren Hebel nach vorn und sah zu, wie sich die große Haltevorrichtung öffnete und die drei Ölfässer freigab. Die Fässer fielen mit einem lauten Knall auf die Kaimauer. Auf den Zentimeter genau. Konstantin Karpenko hatte noch aufgesehen, aber es war zu spät. Er wurde sofort getötet. Ein schrecklicher Unfall, an dem niemand Schuld hatte. Dem Kranführer war klar, dass er schnell verschwinden musste, bevor die Arbeiter der Frühschicht eintrafen. Rasch schwang er den Arm des Krans wieder zurück, schaltete den Motor ab, stieg aus dem Führerhäuschen und kletterte über die Leiter nach unten. Drei Arbeitskollegen erwarteten ihn, als er auf die Kaimauer trat. Er lächelte seinen Genossen zu. Die fünfzehn Zentimeter lange gezähnte Klinge bemerkte er erst, als sie sich in seinen Magen bohrte und mehrmals umgedreht wurde. Die beiden anderen Männer hielten ihn fest, bis sein Wimmern verklungen war. Dann banden sie seine Arme und Beine zusammen und warfen ihn von der Kaimauer ins Wasser. Er tauchte noch drei Mal auf, bevor er schließlich unter der Wasseroberfläche versank. Der Kranführer hatte an diesem Morgen seine Karte nicht gestempelt, weshalb es einige Zeit dauern würde, bis irgendjemand ihn vermisste.

Konstantin Karpenkos Beerdigung fand in der Kirche des Apostels Andreas statt, und der Andrang war so groß, dass die Trauernden bereits bis auf die Straße standen, noch bevor der Chor eingetroffen war.

Der Bischof, der die Trauerrede hielt, nannte Konstantins Tod einen tragischen Unfall; wahrscheinlich war er einer der wenigen, die allen Ernstes dem offiziellen Kommuniqué glaubten – und auch das nur, nachdem es von Moskau abgesegnet worden war.

In der ersten Reihe der überfüllten Bänke saßen elf Männer, die wussten, dass es kein Unfall gewesen war. Sie wussten auch, dass das Versprechen einer gründlichen Untersuchung durch den KGB ihrer Sache nicht helfen würde, denn staatliche Untersuchungskommissionen benötigten regelmäßig mehrere Jahre, bis sie ihre Ergebnisse vortragen würden, und dann wäre der geeignete Zeitpunkt für ihre Aktion längst vorüber.

Nur Familienmitglieder und enge Freunde versammelten sich am Grab, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Elena weinte, als der Leichnam ihres Mannes langsam in die Erde gesenkt wurde, und hielt die Hand Alexanders, was sie schon seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte. Er wurde sich plötzlich bewusst, dass nun er, trotz seiner Jugend, das Familienoberhaupt war.

Er hob den Kopf und sah Wladimir, mit dem er seit dem Tod seines Vaters nicht mehr gesprochen hatte und der jetzt halb verborgen im hinteren Bereich der Trauergemeinde stand. Als sich ihre Blicke trafen, wandte sich sein bester Freund rasch ab. In diesem Augenblick fielen Alexander die Worte seines Vaters wieder ein: Er ist ein verschlagener kleiner Bastard, und für eine Karte zum Pokalendspiel würde er seine Mutter verkaufen. Vielleicht sogar schon für eine Karte zum Halbfinale. Wladimir hatte der Versuchung nicht widerstehen können und Alexander erzählt, dass er eine Karte für einen Stehplatz am Samstag bekommen hatte, auch wenn er nicht sagen wollte, von wem sie war oder was er hatte tun müssen, um sie zu bekommen.

Alexander konnte sich nur fragen, wie weit Wladimir gehen würde, um vom KGB rekrutiert zu werden. In jenem Augenblick begriff er, dass er nicht mehr sein Freund war. Er beobachtete, wie Wladimir sich davonschlich wie Judas in der Nacht. Wladimir hatte alles getan, außer Alexanders Vater auf die Wange zu küssen.

Nachdem alle gegangen waren, knieten Elena und Alexander noch eine Weile am Grab. Als Elena schließlich aufstand, musste sie sich unweigerlich fragen, was der Grund dafür gewesen war, dass Konstantin einen solchen Zorn auf sich gezogen hatte. Nur diejenigen Parteimitglieder, bei denen die Gehirnwäsche besonders erfolgreich gewesen war, glaubten die Geschichte, die der KGB überall verbreitete und die besagte, der Kranführer habe nach dem schrecklichen Unfall Selbstmord begangen. Sogar Leonid Breschnew, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, hatte in die Täuschung eingestimmt, indem er einen Sprecher des Kreml verkünden ließ, dass Konstantin Karpenko posthum zum Helden der Sowjetunion erklärt und seine Witwe die volle staatliche Pension erhalten würde.

Elena hatte ihre Aufmerksamkeit bereits dem anderen Mann in ihrem Leben zugewandt. Sie würde, so hatte sie zunächst geplant, nach Moskau ziehen, sich eine Arbeit suchen und alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Karriere ihres Sohnes zu fördern. Doch nach einer langen Diskussion mit ihrem Bruder Kolja hatte Elena widerwillig akzeptiert, dass sie in Leningrad bleiben würde und wie bisher mit ihrem Leben weitermachen musste, als sei nichts geschehen. Sie konnte bereits von Glück reden, wenn sie ihre gegenwärtige Arbeit behalten durfte, denn die Tentakel des KGB reichten bis weit über ihre bedeutungslose Existenz hinaus.

Beim Halbfinalspiel um die russische Meisterschaft schlug Zenit Leningrad Odessa am Samstag mit 2 : 1 und würde nun im Endspiel gegen Torpedo Moskau antreten.

Wladimir versuchte bereits, eine Möglichkeit zu finden, eine Eintrittskarte zu bekommen.