Kurfürstenklinik
– 79–

Tapferer kleiner Patient

Krank und keine Eltern mehr

Nina Kayser-Darius

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-072-1

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»Wenn Sven kommt, müßt ihr auf mich verzichten«, sagte Tamara Vollmer spitz. »Allmählich solltest du das eigentlich wissen, Tina! Immerhin ist es meine Mutter, die Geburtstag hat, nicht seine. Soll er doch zu Hause bleiben!«

Christina Holländer seufzte laut. »Ihr benehmt euch wirklich kindisch, Tamara! Felix hat nur eine Tante, nämlich dich – und einen Onkel, nämlich Sven. Außerdem seid ihr beide seine Paten. Warum müßt ausgerechnet ihr euch dauernd streiten? Bei keinem Familienfest taucht ihr gemeinsam auf, niemals…«

Tamara unterbrach ihre ältere Schwester. »Du brauchst dich nicht dauernd zu wiederholen, diesen Vortrag hast du mir bestimmt schon hundert Mal gehalten! Ich finde ihn kalt, arrogant und rechthaberisch, ich ertrage ihn einfach nicht. Wenn ich mir Kurt dagegen ansehe…« Kurt war Christinas Mann. »Daß zwei Brüder so unterschiedlich sein können, werde ich nie begreifen.«

»Du schätzt Sven falsch ein – aber das habe ich dir auch schon oft genug gesagt. Ob es dir paßt oder nicht: Er ist mein Schwager und wird es bleiben.«

»Falls ihr euch nicht irgendwann scheiden laßt, Kurt und du«, versetzte Tamara, ihrer Stimme war jedoch anzuhören, daß sie diese Möglichkeit nicht in Betracht zog. Ihre nächsten Worte bestätigen das. »Aber so verliebt, wie ihr immer noch seid, ist damit wohl kaum zu rechnen, und ich bin bis an mein Lebensende mit einem Menschen in der Familie geschlagen, den ich nicht ausstehen kann. Wie geht’s meinem Patenkind?«

Dieser plötzliche Themenwechsel war Typisch für Tamara. Sie war eine sehr temperamentvolle Brünette – schlank und biegsam, mit langen Haaren und lebhaften graublauen Augen. Sie konnte sich unglaublich aufregen, wenn sie irgendwo eine Ungerechtigkeit entdeckte. Ihr ganzes Mitgefühl galt kranken und hilflosen Kreaturen – ob es ein Vogel mit einem verletzten Flügel oder eine alte Dame mit Herzproblemen war: Tamara machte da keinen Unterschied. Wenn jemand ihre Hilfe brauchte, bekam er sie.

Deshalb war sie so ungeheuer empfindlich, was Sven Holländer betraf, den Bruder von Christinas Mann Kurt. »Er hat überhaupt keine Gefühle«, hatte sie einmal zu ihrer Schwester gesagt, die es bis zum heutigen Tag nicht geschafft hatte, ihr dieses Vorurteil – denn als solches sah sie Tamaras Meinung über Sven an – auszureden.

Tamara war Innenarchitektin, sie hatte ihre Ausbildung gerade beendet und eine Anstellung in einem sehr angesehenen Geschäft bekommen. Ihr Beruf machte ihr Spaß, zumal ihr Chef von ihrem außerordentlichen Talent überzeugt war und ihr viele Freiheiten einräumte.

»Felix freut sich schrecklich auf unser Wiedersehen«, berichtete Christina. »Mal sehen, wie wir das organisieren, wenn du dich weigerst, zum großen Familientreffen zu kommen. Sven hat sofort zugesagt, ohne etwas zu zögern.«

»Aber garantiert nur, weil er sicher war, daß ich dann bestimmt absagen würde!« entgegnete Tamara prompt.

Wieder seufzte Christina. Der ständig schwelende Streit zwischen ihrer jüngeren Schwester und dem Bruder ihres Mannes war nicht nur nervtötend, er brachte auch die anderen Familienmitglieder immer wieder in unangenehme Situationen. So wie jetzt: Christinas und Tamaras Mutter, Ernestine Vollmer, von allen liebevoll »Ernst« genannt, hatte die ganze Familie zu ihrer Geburtstagsfeier in Berlin eingeladen. Außer Christina und Kurt, die wegen ihres kleinen Sohnes Felix aufs Land gezogen waren, wohnten alle anderen in Berlin – ein Treffen war also eigentlich nicht schwer zu organisieren. Aber immer, wenn so etwas anstand, mußte sorgfältig überlegt werden, wer zuerst eingeladen werden sollte: Tamara oder Sven. Denn hatte der eine zugesagt, sagte die andere ab – und umgekehrt. So war es nun schon seit Jahren, und es sah so aus, als werde sich daran nie etwas ändern.

»Tamara«, begann sie geduldig, »laß uns das Thema wechseln. Du weißt, daß ich euch beide kindisch finde, Sven und dich – mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Erwachsene sollten ihre wechselseitige Abneigung wenigstens ein paar Stunden lang für sich behalten können, wenn es darum geht, anderen Menschen eine Freude zu machen. Mama möchte dich dabei haben, das ist doch ganz klar, wenn sie ihren Geburtstag feiert.«

Dieses Mal schwieg Tamara, denn ihre Schwester hatte einen wunden Punkt getroffen. Sie fand, daß sie gute Gründe hatte, Sven zu verabscheuen – aber die anderen legten ihr ihre Weigerung, mit ihm zusammenzutreffen, als Egoismus aus, und das gefiel ihr nicht. »Ich überleg’s mir noch einmal«, sagte sie schließlich widerstrebend. »Wann werdet ihr denn in Berlin eintrudeln?«

»Wir fahren morgen nach dem Frühstück los, dann sind wir gegen Mittag da und können in aller Ruhe mit euch feiern.«

Da Tamara zunehmend stiller wurde, versiegte das Gespräch, und die Schwestern verabschiedeten sich voneinander. Nachdem sie aufgelegt hatte, begann Tamara wütend in ihrer Wohnung hin- und herzulaufen. Dieser Sven machte ihr das Leben schwer, seit sie ihn kennengelernt hatte – Verflixt noch einmal! Es war anstrengend, ihm ständig aus dem Weg zu gehen – und eigentlich hatte sie auch gar keine Lust dazu, sich durch ihn von den Familienfesten vertreiben zu lassen. Sie beschloß, ihre Taktik ihm gegenüber zu ändern: Von jetzt an würde sie die Konfrontation suchen. Er sollte sich nur warm anziehen!

*

»Sag mir bitte genau, wo es dir weh tut!« Dr. Adrian Winter stand über einen vierzehnjährigen Jungen gebeugt, der im Sportunterricht zusammengebrochen war. Vorsichtig tastete er die Leistengegend ab.

Der Junge schrie auf. »Da…, ja, da tut es schrecklich weh!«

Er war groß für sein Alter und sehr kräftig. Ein feiner Schweißfilm lag auf seinem Gesicht, die Haut war teigig-weiß.

»Aha«, murmelte Adrian. Er leitet die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg seit einigen Jahren und obwohl die Arbeit überaus kräftezehrend war, liebte er sie noch immer. Er hatte aus der Notaufnahme eine der größten und bekanntesten des Landes gemacht. Die Notfallmedizin war sein Spezialgebiet, über das er auch regelmäßig Artikel veröffentlichte.

»Du hast eine Blinddarmentzündung, Marco«, sagte er. »Wie lange hast du schon Bauchschmerzen?«

Der Junge wich verlegen seinem Blick aus. »Schon ein paar Tage«, murmelte er. »Aber wir machen nächste Woche eine Klassenfahrt, die wollte ich nicht verpassen, deshalb hab’ ich nichts gesagt. Meine Mutter ist immer so ängstlich. Wenn sie denkt, daß ich was habe, läßt sie mich nicht fahren.«

»Und jetzt lasse ich dich nicht fahren«, stellte Adrian lächelnd fest. »Du mußt sofort operiert werden – ein Blinddarmdurchbruch ist auch heute noch gefährlich, mußt du wissen.«

»Operieren?« fragte Marco, halb fasziniert, halb ängstlich. Seine Schmerzen schien er für den Moment vergessen zu haben. »Ich bin noch nie operiert worden.«

»Dann wird es heute eine Premiere geben. Wie kann ich deine Mutter erreichen?«

Marco nannte ihm die Telefonnummer, und Adrian beauftragte Schwester Monika, die Mutter des Jungen zu benachrichtigen. »Und dich bringe ich jetzt nach oben auf die OP-Station.«

»Kann ich vorher noch mit meiner Mutter reden?« fragte Marco, dessen Mut allmählich zu schwinden begann.

»Ich denke schon«, antwortete Adrian. »Eine Notoperation wird nicht nötig sein. Wir sollten zwar keine Zeit mehr verlieren, aber wir müssen dich ja auch noch für den Eingriff vorbereiten. Wenn wir deine Mutter gleich erreichen, ist sie bestimmt rechtzeitig hier.«

Das beruhigte den Jungen, und er schloß die Augen. Adrian sagte seinen Kollegen Bescheid und schob das Bett mit seinem Patienten zum Aufzug. Zum Glück stand ein erfahrener Chirurg zur Verfügung, er würde also nicht selbst operieren müssen. Das war jeweils eine starke zusätzliche Belastung, vor allem, wenn die Notaufnahme, wie es häufig der Fall war, von Patienten förmlich überquoll. Heute zum Beispiel saßen allein im Wartezimmer etwa dreißig Menschen, die auf Hilfe warteten.

Der Fahrstuhl hielt auf der OP-Station, und Adrian übergab Marco der Obhut einer freundlichen Schwester. »Keine Sorge, du bist hier gut aufgehoben«, sagte er und verabschiedete sich von dem Jungen. Wenige Minuten später untersuchte er bereits eine Frau mit verdächtigen Herzgeräuschen. Aber so sah sein Alltag nun einmal aus.

*

»Mama, jetzt hör auf, mich zu beschimpfen«, sagte Sven Holländer. »Ernst hat mich zu ihrem Geburtstag eingeladen, und ich habe die Einladung angenommen.«

»Ohne zu fragen, was mit Tamara ist«, erwiderte Anne Holländer streng.

»Tamara, Tamara!« wiederholte Sven gereizt. »Ganz allmählich geht mir schon ihr Name total auf die Nerven, das kann ich dir sagen.«

Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Ihr seid kindisch, alle beide. Aber du vor allem. Tamara ist eine reizende junge Frau, sie sieht gut aus, ist sehr temperamentvoll und außerordentlich hilfsbereit…«

»Ja, ja«, spottete Sven und strich sich die widerspenstigen blonden Haare aus dem Gesicht. »Ihr blutet sofort das Herz, wenn sie eine hinkende Katze sieht.«

»Du hast kein Recht, so über sie zu reden«, entgegnete Anne streng. »Sie ist warmherzig, was man von dir durchaus nicht immer sagen kann.«

Er schwieg einen Moment lang betroffen, dann fragte er unsicher: »Was willst du denn damit sagen?«

»Daß du deinen weichen Kern zu oft hinter einer harten Schale verbirgst«, antwortete sie. »Du kannst sehr verletzend sein, Sven, und manchmal wirkst du, als wüßtest du überhaupt nicht, was Gefühle sind. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, daß das nicht stimmt, aber andere wissen das nicht.«

Er öffnete bereits den Mund, um eine seiner üblichen spöttischen Bemerkungen zu machen, doch dieses Mal überlegte er es sich anders und schwieg. Statt dessen nahm er seine Mutter in den Arm und drückte sie liebevoll. »Danke, Mama, daß du mir ab und zu immer noch den Kopf wäschst.«

»Wer soll es denn sonst tun?« fragte sie lächelnd. »Wie läuft deine Arbeit?«

»Ganz gut, ich komme jeden Abend ein bißchen später aus dem Büro, aber wir machen Fortschritte.« Sven war Programmierer bei einer großen Firma, in der im Augenblick unter Hochdruck an einer neuen Software gearbeitet wurde.

»Und bist du wirklich glücklich?«

»Glücklich?« fragte er verwundert. »Diese Frage habe ich mir noch nie gestellt. Ich mache einfach das, was ich am besten kann, Mama. Ich glaube schon, daß ich ziemlich gut in meinem Job bin.«

»Sicher bist du das«, erwiderte sie voller Stolz. »Aber der ganze Lebensinhalt kann doch nicht darin bestehen, daß man gut in seinem Job ist. Was machst du in deiner Freizeit? Pflegst du Freundschaften? Gehst du ab und zu ins Kino? Liest du Bücher? Als Kind warst du eine richtige Leseratte, weißt du das überhaupt noch?«

Er wurde verlegen. »Na ja, mir bleibt nicht besonders viel Zeit für diese Dinge, Mama…«

Sie unterbrach ihn energisch. »Erzähl mir bloß nicht so etwas, Sven! Das Leben besteht nicht nur aus Arbeit – das ist eigentlich alles, was ich dir sagen will.«

»Ich bin erst sechsundzwanzig«, entgegnete er, »ich muß jetzt zeigen, was ich kann, Mama. Die Konkurrenz in meinem Beruf ist groß, die anderen schlafen nicht. Wenn ich es zu etwas bringen will, muß ich schon Leistung zeigen.«

»Und wozu willst du es bringen? Zu viel Geld?«

Er nickte. »Ja, sicher. Das will doch jeder.«

»Und sonst? Oder ist das alles?«

»Ich weiß es nicht. Ich mache mir darüber nicht so viele Gedanken, das lasse ich lieber auf mich zukommen.«

»Weil du denkst, daß du noch ewig Zeit hast, nicht? Aber ich versichere dir: So ist es nicht.«