Ganz genau kann Michelle den Tag benennen, als ihre Kindheit gestohlen wurde: Ein Foto zeigt die gerade Achtjährige, wie sie für den neuen Freund ihrer Mutter in die Kamera lächelt. Noch am gleichen Abend beginnt eine Tortur, die sie führt in die tiefsten Abgründe der Hölle führt. Michelle überlebt, indem sie eine multiple Persönlichkeit entwickelt. Jahre später, nachdem ihre zersplitterte Seele wieder geheilt ist, erhebt sie laut ihre Stimme für all die Opfer, die still leiden.
Michelle Stevens studierte zunächst Creative Writing an der New York University, anschließend studierte sie Psychologie an der Saybrook University und erwarb einen Doktortitel mit einer besonders ausgezeichneten Dissertation. Sie ist Gründerin und Leiterin der Non-Profit-Organisation »Post Traumatic Success«, die Traumapatienten bei ihrer Ausbildung unterstützt und sie begleitet. Sie arbeitet weltweit mit Überlebenden von traumatischen Lebenssituationen zusammen, ermutigt sie zu heilen, zu wachsen und um ein besseres Leben zu kämpfen. Sie lebt heute in Pasadena, Kalifornien.
MICHELLE STEVENS
AUSSER MIR
VOR ANGST
Missbraucht und misshandelt,
zerbrach meine Seele
in viele Persönlichkeiten
Aus dem amerikanischen Englisch von
Rosie Pinhorn
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2017 by Michelle Stevens
Illustrationen © Gillian Biease 2013
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Scared Selfless«
Originalverlag: G. P. Putnam’s Sons
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, Friedberg
Titelillustration: © Lesley Rigg/shutterstock
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-5624-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Mikey, Chris, Steve und Leah,
die mir gezeigt haben, dass Liebe die beste Medizin ist
Wir wären beinahe zu spät gekommen. Fast den ganzen Weg über hatte starker Verkehr auf dem Highway geherrscht. Als ich das Gebäude schließlich betrat, konnte ich sehen, dass die anderen schon ihre Talare übergezogen hatten. Ich fand meinen, schlüpfte rasch hinein und prüfte noch einmal sorgfältig, dass mein Tam richtig saß. Dieses seltsame Hütchen ist zugleich Stolz und Demütigung aller Doktoranden.
Ich reihte mich in die Schlange der Absolventen ein, gerade noch rechtzeitig, bevor die Gruppe geschlossen in den Hörsaal marschierte. Nach einer Reihe der typischen langweiligen Reden begann der Dean, die Namen aufzurufen. Wir mussten ein paar hundert Masterabschlüsse durchstehen, bevor sie mit den Dissertationen begannen. Wir waren ungefähr fünfzig, alle mit diesen mittelalterlichen Hütchen ausgestattet. Da mein Familienname mit S beginnt, dachte ich, es wäre besser gewesen, wenn ich mir in den Falten der schmucken Robe etwas zu essen versteckt hätte. Oder noch besser: einen Scotch.
Endlich waren wir an der Reihe. Ich schaute mir voller Erwartung an, wie die Absolventen einer nach dem anderen aufstanden und nach vorne gingen. Bei Nummer 239 kannte ich den Ablauf: Der Name wird aufgerufen, der oder die Graduierte geht nach vorn, erhält das Diplom vom Provost und bekommt die Hand geschüttelt, während der Dean etwas unelegant die Kapuze über den Kopf des Graduierten schiebt. Wenn das Haar des Kandidaten so richtig schön in Unordnung gebracht ist, folgt ein schnelles Klick-Klick des Institutsfotografen. Dann verlässt man das Podium, und schon wird der nächste Name aufgerufen.
Als die Kommilitonin neben mir nach vorne gerufen wurde, bereitete ich mich also auf einen fixen Spurt vor. Aber als sie die Bühne verließ, gab es eine unerwartete Pause. Der Provost wandte sich vom Mikrofon ab, und der Präsident trat vor. Ich geriet in Panik. Was zum Teufel ging hier vor sich? O Gott, dachte ich. Ich muss meine Scheine vermasselt haben. Auf einmal bereute ich die siebenstündige Fahrt nach San Francisco.
»Jedes Jahr«, sagte der Präsident, »wählt die Fakultät einen Absolventen aus, der für seine Dissertation eine besondere Auszeichnung erhält. Dieses Jahr geht diese Auszeichnung an ein ambitioniertes Projekt, das die Geschichte eines Mädchens nachzeichnet, dessen Leben von einem gewieften und außerordentlich grausamen Pädophilen bestimmt wurde. Außerdem handelt es sich bei dieser Arbeit um eine anthropologisch-soziologische Studie der Pädophilie und der sadomasochistischen Subkulturen in der westlichen Welt. Es ist die mutigste Untersuchung, die ich jemals gelesen habe. Sie wurde von Michelle Stevens verfasst.«
Applaus brach im Auditorium los. Leute, die mich kannten, riefen Hurra. Der Präsident trat vom Mikrofon zurück und lächelte mich an. Ich begriff kaum, dass von mir erwartet wurde, nun hochzugehen. Von meinen Kommilitonen nach vorne geschoben, schritt ich Meter für Meter zur Bühne. Auf dem Weg dahin drehte ich mich gerührt zu all den Menschen um, die mich unterstützt hatten: meine Frau Chris, unser kleiner Sohn Mikey, mein bester Freund Steve. Auch mein gesamtes Dissertationskomitee war da, und eine Reihe meiner Professoren. Ehrlich gesagt war es ein höchst wundersamer Moment.
Im Grunde war es sogar ein Wunder, dass ich noch lebte.
Jahrelang habe ich ein gefährliches Dasein gefristet. Zuerst wurde ich wiederholt Opfer von Kindesmissbrauch. Später litt ich dann unter einer schweren Psychose, verursacht durch eben jenen Missbrauch. Nur sechs Jahre vor meinem Abschluss wurde ich in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen, weil eine meiner alternativen Persönlichkeiten sich auf die Suche nach sadistischen Männern gemacht hatte, die mir wehtun wollten. Eine andere war beständig suizidgefährdet und hatte dahingehend schon mehrere Versuche unternommen.
In einer Fachklinik für Traumapatienten sagte mir eine erfahrene Therapeutin, meine Prognose sei nicht sehr gut. Ich wurde mit Dissoziativer Identitätsstörung diagnostiziert, besser bekannt als Multiple Persönlichkeitsstörung. Das ist eine der schlimmsten psychiatrischen Diagnosen überhaupt. Ich war umgeben von Patienten, die aufgrund der Krankheit alles verloren hatten. Ihre Arbeit. Ihre Ehepartner. Ihre Kinder. Mir wurde gesagt, dass ich niemals ein normales, funktionsfähiges Leben würde führen können. Ja, mir wurde gesagt, ich sei ein hoffnungsloser Fall.
Ich übertreibe also nicht, wenn ich behaupte, es grenzte an ein Wunder, dass ich hier vor einer akademischen Fakultät auf dem Podium stand. Und für meine Dissertation gelobt zu werden, nun, auch das grenzte an ein Wunder. Denn das Thema meiner Dissertation war mein beschissenes Leben. Nicht gerade der übliche akademische Weg, ich weiß. Aber als Überlebende eines Kindersexrings wollte ich Licht in die Welt der Pädophilie bringen. Ich musste erklären, warum diese Menschen tun, was sie tun, und wie sich das auf ihre jungen Opfer auswirkt.
Mir war aufgefallen, dass unsere Gesellschaft die stete Nachrichtenflut über Entführungen, gefallene Kirchenvertreter und Kinderpornografie leid ist. Dabei wissen wir trotz all der Fernsehquoten und Verkaufszahlen von Zeitschriften, die über derlei Geschichten berichten, sehr wenig über sexuellen Missbrauch und seine Ursachen. So kann es geschehen, dass wir jedes Mal, wenn eine große Geschichte ans Licht kommt – Elizabeth Smart, katholische Priester, Jaycee Dugard, Jerry Sandusky, die Entführungen in Cleveland –, die gleichen Fragen stellen:
Wie konnte das passieren?
Wie konnte das in dieser Gegend passieren?
Warum sind sie nicht geflohen?
Warum haben sie es niemandem erzählt?
Warum hat niemand etwas bemerkt?
Wie konnte das so lange anhalten?
Warum hat keiner etwas dagegen unternommen?
Tief in meinem Innern erkannte ich, dass diese Geschichten an unseren Urängsten rühren. Sie bewirken, dass wir uns um unsere eigene Sicherheit sowie die unserer Kinder sorgen. Wir fragen uns:
Wie soll ich wissen, wem ich trauen kann?
Wie kann ich mich und meine Lieben schützen?
Ich wusste, dass ich Antworten auf diese Fragen hatte. Und zwar auf alle diese Fragen. Ich hatte Antworten, weil ich mehr als sechs Jahre lang Vergewaltigungen und Folter durch unzählige Pädophile überlebt habe – Männer, die aufgrund ihrer kriminellen Handlungen im Geheimen vorgehen und äußerst schwer zu finden und zu studieren sind. In dieser Zeit war es mir bestimmt, Einblick in die Taten eines sogenannten »Karriere-Pädophilen« zu erhalten. Ich wurde Zeugin seiner schmutzigen Verbrechen, beobachtete ihn dabei, wie er auch andere Kinder aus typischen Mittelschichtfamilien missbrauchte. Außerdem bekam ich die Machenschaften anderer Perverser mit und lernte viel über Sexualstraftäter: wie sie denken, wie sie ihre Opfer aussuchen, wie sie ihre Eroberungen verschweigen. Als Überlebende weiß ich außerdem, was es heißt, Missbrauch zu erleiden – was es der Seele eines Menschen antut. Ich weiß es, weil ich es selbst erlebt habe.
Also schrieb ich alles auf, was ich wusste. Dann las ich Bücher, Studien und Interviews und lernte noch mehr darüber. Nach acht Jahren Forschung hatte ich einen Berg an Material über Sexualstraftäter, deren Opfer und gesellschaftliche Reaktionen auf ihre Handlungen und war bereit, dieses Wissen mit der Welt zu teilen.
Ich war sogar bereit, die Details meines eigenen Missbrauchs und meiner Genesung mit der Welt zu teilen.
Aber ich war nervös.
Wie würden die Leute reagieren?
Als ich zur Bühne hinaufging und das Meer aus Gesichtern fixierte, kam mir plötzlich eine Geschichte aus meinem Kurs »Geschichte der Psychiatrie« in den Sinn. Denn vor vielen Jahren stand ein anderer Therapeut hinter einem Podium und sprach offen über sexuellen Kindesmissbrauch. Für ihn ging die Sache nicht so gut aus. Man schrieb das Jahr 1896, und der Therapeut war ein Mann namens Sigmund Freud. Freud arbeitete mit Patientinnen, die unter Hysterie litten, eine vage Diagnose für eine Reihe von Symptomen bei Frauen inklusive Schlaflosigkeit, Gereiztheit und sexueller Gelüste (oder des Fehlens jeglicher Gelüste). Er betreute vor allem schwierigere Fälle von Hysterie – Frauen mit Halluzinationen, unerklärten Lähmungserscheinungen und radikalen Persönlichkeitsveränderungen mit Gedächtnisverlust in Bezug auf bestimmte Vorfälle. Auf der Suche nach den Ursachen für die Symptome machte Freud eine monumentale Entdeckung: Er erkannte, dass seine Patientinnen psychotisch waren aufgrund von »ein[em] oder mehrere[n] Erlebnisse[n] von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören«.
Freud war überzeugt, dass seine Patientinnen Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch gewesen waren und dass diese Art von Missbrauch einen lang anhaltenden psychologischen Schaden verursachte. Voller Begeisterung über seine neuen Erkenntnisse war der gute Doktor darum bemüht, sie mit seinen Kollegen in einer Vorlesung zu teilen. Leider reagierten seine Kollegen nicht gut auf diese Nachricht. Hysterie war immerhin eine sehr weit verbreitete Diagnose.
Wenn Freud recht hatte, bedeutete das, dass in ganz Wien kleine Mädchen missbraucht wurden. Statt diese bittere Erkenntnis zu akzeptieren, gaben die Männerbünde extremer Skepsis Ausdruck. Sie glaubten, dass Freud falsche Missbrauchserinnerungen in die Köpfe seiner leicht beeinflussbaren Patientinnen pflanzte. Dem gesellschaftlichen Druck (und vielleicht einem eigenen Unbehagen) nachgebend, widerrief Freud und stellte eine neue These auf. Er folgerte stattdessen, dass die schrecklichen Erinnerungen eher einem Wunschdenken entsprangen.
Und so wurde Frauen in den nächsten achtzig Jahren gesagt, dass ihre Erinnerungen falsch und vielmehr Wunschdenken seien. So einfach war das: Diese Frauen wünschten sich einfach nur, als Kind vergewaltigt worden zu sein! Diese Lächerlichkeit war eine so durch und durch anerkannte Forschungsmeinung, dass noch ein Lehrbuch der Psychiatrie von 1975 angab, Fälle von Vater-Tochter-Inzest würden im Verhältnis eins zu einer Million auftreten.
Während ich mir wünschte, etwas ganz Besonderes zu sein, wissen wir heutzutage, dass sexueller Kindesmissbrauch alles andere als selten ist. Bis zu 40 Prozent aller Frauen und 13 Prozent aller Männer in den Vereinigten Staaten haben schon einmal »nicht einvernehmliche körperliche Kontakte« erlebt. Internationalen Berichten zufolge werden weltweit bis zu 50 Prozent aller Mädchen und 60 Prozent aller Jungen im Kindesalter sexuell missbraucht. Das bedeutet, dass nahezu jeder Mensch entweder Opfer von Missbrauch war oder zumindest eine betroffene Person im näheren Umfeld hat. Es ist traurig, dass sexueller Kindesmissbrauch eine der wenigen Lebenserfahrungen ist, die die gesamte Weltbevölkerung miteinander teilt.
Vor diesem Hintergrund könnte man meinen, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern ein allgegenwärtiges Gesprächsthema ist, so gewöhnlich wie die Arbeit oder das Wetter. Aber tatsächlich ist das nicht so. Denn im Gegensatz zum Wetter ist Sex noch immer ein Tabuthema. Und Sex mit Kindern? Nun, das ist faktisch ein Supertabuthema. Wir finden das Thema so unangenehm, dass wir es aus dem politischen Diskurs verbannen. In ihrer Funktion als Psychiaterin sagt Judith Herman: »Einige Verstöße gegen den Gesellschaftsvertrag sind zu schrecklich, um sie laut auszusprechen: Das ist die Bedeutung des Wortes unaussprechlich.«
Das Problem ist aber folgendes: Wenn wir nicht über sexuellen Kindesmissbrauch reden, wie können wir dann hoffen, die Dinge jemals zum Besseren zu verändern? Wenn wir Kinder schützen, Pädophilie verhindern und erwachsenen Opfern helfen wollen, dann müssen wir offen und ehrlich über das Problem diskutieren.
Deshalb habe ich beschlossen, meine persönliche Geschichte von Missbrauch und Genesung mit anderen zu teilen. Als ich an jenem Abend aufgerufen wurde, um meine Promotionsurkunde entgegenzunehmen, erzählte ich den Anwesenden meine Geschichte.
Es ist die gleiche Geschichte, die ich hier erzähle – die eines achtjährigen Mädchens, das dazu gezwungen wurde, Sexsklavin zu werden.
Ich wurde vergewaltigt, gefoltert und in die Prostitution mit unzähligen Männern gezwungen. Ich wurde für Kinderpornografie benutzt. Das Ergebnis des Missbrauchs war, dass ich verstört und ohne Aussicht auf eine optimistischere Perspektive aufwuchs. Aber ich beschloss, mich nicht der Verzweiflung hinzugeben. Ich schwor, für ein gutes und normales Leben zu kämpfen. Der Weg dahin war nicht leicht, sondern mit Schmerz, Zweifeln und Selbsthass gepflastert. Aber ich gab nicht auf und fand letztlich die Hilfe und Liebe, die ich brauchte.
Ich kehrte an die Uni zurück und wurde schließlich Psychologin. Ich wollte Menschen helfen, die genauso litten wie ich damals. Nun arbeite ich mit Hunderten Opfern von Kindesmissbrauch. Eine Aufgabe, vor der ich großen Respekt habe. Und so verrückt es auch klingen mag: Ich spreche niemals von einer schlechten Prognose.
Aber ich greife vor. Zurück auf Anfang …
Wenn die Angst regiert, ist Gehorsam die einzige Wahl,
um zu überleben.
Toni Morrison, Gott, hilf dem Kind
Alles begann mit einer Puppe. Nicht für mich natürlich, obwohl ich acht war und noch mit Puppen spielte. Aber diese Puppe war etwas Besonderes. »Eine echt antike Porzellanpuppe«, sagte meine Mutter. Sie hatte sie an einem Antiquitätenstand auf dem Flohmarkt gefunden. Der Preis: dreihundert Dollar.
Selbst heutzutage sind dreihundert Dollar für eine Puppe übertrieben. Es war jedoch 1976, und meine Mutter war eine alleinerziehende Achtundzwanzigjährige mit einem schlecht bezahlten Job. Wir lebten in einer Einzimmerwohnung, Radio und Fernsehen sowie Telefon wurden oft abgeklemmt, weil wir nicht dafür zahlen konnten. Meine Mutter war also eigentlich nicht in der Lage, eine Dreihundert-Dollar-Puppe zu kaufen.
Aber niemand hat meiner Mutter jemals bescheinigt, vernünftig zu sein.
Ein Zahlungsplan wurde entworfen. Die alte Dame hinter dem Tresen nahm eine erste Rate entgegen, steckte die Puppe in eine Papiertüte und schob sie unter den Tisch. Alle paar Wochen schleifte meine Mutter mich zurück zu dem Stand und überreichte der Dame ein paar Scheine. Ehrlich gesagt war mir das mit meinen acht Jahren alles so ziemlich egal. Der Flohmarkt war halt irgend so ein Ort, zu dem man an einem Samstag ging. Herumrennen, Steine kicken, Hot Dogs essen. Und der staubige Stand, den meine Mutter besuchte, war besonders interessant, denn er war bestückt mit Puppen, elektrischen Eisenbahnen und Baseballkarten. Wir hatten Spaß.
Ich ahnte nicht, dass mir jemand nachstellte.
Da war ein Mann am Stand, der den Platz als Nebenverdienst unterhielt. Gary Lundquist war Lehrer für Fünftklässler und hatte eine Schwäche für Spielsachen, Spiele und überhaupt alles, was einem Kind Spaß macht. Kaum dass er mich gesehen hatte, ließ er durchblicken, auch eine Schwäche für meine Mutter entwickelt zu haben.
Die zwei fingen an, miteinander auszugehen. Dann ging alles sehr schnell. Innerhalb weniger Wochen wurde es mit der Beziehung so ernst, dass Gary vorschlug, ich sollte ein bisschen Zeit mit ihm verbringen. Allein. Er sagte, so könnten wir unsere eigene spezielle Freundschaft entwickeln. Ein langes Wochenende wurde geplant. Meine Mutter brachte mich zu Garys Haus und fuhr weg, nachdem sie mir versprochen hatte, mich in drei Tagen wieder abzuholen.
Als Erstes fiel mir auf, wie groß Garys Haus war. Es stand auf einer riesigen Wiese und war das schickste Haus, das ich jemals betreten hatte. Es gab drei Schlafzimmer, ein Büro und einen vollgestopften Keller. Außerdem war ein offener Kamin im Wohnzimmer – der erste, den ich in meinem Leben sah. Heute ist mir klar, dass es nur ein typisches Haus der Mittelklasse war, mit wohl kaum mehr als 170 m2. Da ich aber aus einfachen Verhältnissen kam, erschien es mir wie ein Palast.
Das Dekor war jedoch seltsam. Ein ausgestopftes Reh hing über dem Kamin, und die Wand des Esszimmers wurde von einer Konföderierten-Flagge geziert. Neonreklameschilder für Bier strahlten ein schummeriges Licht in den Flur aus. Auf jeder Ablagefläche befand sich irgendeine Baseballkarte, ein Kronkorken oder ein militärisches Memento. Und es gab massenhaft politische Memorabilien, besonders Bilder von Präsident Carters Tochter Amy als Kind.
Als ich das Wohnzimmer betrat, fiel mir ein Bücherregal voller Fotoalben auf. Eine ganze Menge davon. »Was ist denn das?«, fragte ich.
»Schau sie dir an«, sagte er und drückte sich an mir vorbei. Mit seinen 1,85 m konnte er problemlos ein paar Alben von den oberen Regalfächern herunterholen. Er ließ sie auf den Wohnzimmertisch fallen und setzte sich selbst auf die Couch. Er klopfte auf das Kissen neben sich und winkte mich herüber. Kaum dass ich saß, öffnete er das erste Album. Auf der aufgeschlagenen Seite klebten Fotos. Lauter Bilder von Kindern. Ihre Haare waren alle ordentlich gekämmt, sie starrten in die Kamera und lächelten in dieser bekloppten Weise, in der Kinder auf Schulporträts lächeln.
Auf der nächsten Seite war ein großes Foto von einer Klasse. Die gleichen Kinder waren alle hübsch gekleidet und standen auf Stufen. Daneben stand Gary. Unter dem Foto stand:
G. Lundquists 5. Klasse – 1969
Gary erklärte mir, dass er Lehrer sei und dies nun schon seit mehr als zehn Jahren. Das Foto zeigte eine seiner ersten Klassen, die er unterrichtet hatte, als er noch in Kansas arbeitete. Er sprach über sein Collegestudium in Kansas und darüber, dass die Studentinnen frigide Kühe waren. Mit meinen acht Jahren hatte ich natürlich keine Ahnung, wovon er sprach. Ich war vollkommen ahnungslos, genauso wie die Kinder auf dem Foto. Gary zeigte mir eine Seite nach der anderen. Zuerst die offiziellen Schulporträts. Dann die offiziellen Klassenfotos. Dann Polaroids – kleine Fotos von einzelnen Kindern. »Die Besonderen«, sagte er.
Sie lachten, umarmten sich oder machten Unsinn, wie Kinder es eben tun. Einfach nur normale Bilder. Aber sehr viele davon. Die Kinder in seiner Klasse, die Kinder in seiner Theater-AG, die Kinder des Begabtenprogramms, das er am Nachmittag betreute. Nachbarskinder. Kinder, die er für Wochenendarbeiten beschäftigte. Kinder, die mit ihm im Sommer verreisten. Kinder, die er für eine Weile in Pflege nahm, wenn die Eltern sich nicht um sie kümmern konnten. Hunderte und Aberhunderte von Kindern.
Keines davon war seines, sagte er. Dabei wünschte er sich nichts mehr als ein Kind ganz für sich allein.
Und deshalb sitze ich hier, dachte ich. Zum Vorsprechen, sozusagen. In den wenigen Wochen, in denen er mit meiner Mutter ausging, hatte er schon deutlich gemacht, dass er eine bedeutende Rolle in meinem Leben spielen wollte. Das war eine große Erleichterung für meine Mutter. Bis vor Kurzem hatte sie jegliche Hoffnung aufgegeben, noch jemanden zu finden, der Verantwortung für ihr uneheliches Kind übernehmen wollte. Und dann kam doch noch so ein toller Typ daher: gebildet, fest angestellt, mit einem schönen Haus, und obendrauf hatte er noch ein erfolgreiches kleines Geschäft. Meine Mutter stammte aus einer verarmten Familie. Sie hatte weder eine gute Erziehung noch eine Berufsausbildung genossen und keinerlei Zukunftsaussichten. Für sie war Gary eine ausgesprochen gute Partie.
Nach ein paar weiteren Fotoalben sagte Gary, es sei Zeit, ins Bett zu gehen. Ich holte mein Nachthemd und ging ins Bad, um mich fertig zu machen. Als ich wieder rauskam, fand ich Gary in einem Schlafzimmer am Ende des Flurs. Es war spärlich eingerichtet mit einem einfachen Doppelbett. Gary hatte bereits die Laken beiseitegeschlagen, also kroch ich hinein und zog die Decke über mich.
Gary sah auf einmal sehr bekümmert aus. »Weißt du«, sagte er, »ich bin sehr traurig. All die Jahre habe ich in diesem großen Haus ganz alleine gewohnt. Ich bin so einsam … Aber jetzt kannst du ja meine Tochter sein!« Er verkündete es strahlend, als ob das alles so einfach wäre. Aber ich war mir nicht so sicher. Ich kannte den Mann doch kaum. Und trotz all seiner Bemühungen, sich bei mir einzuschmeicheln, war ich mir nicht sicher, ob ich ihn wirklich mochte. Die Vorstellung, einen Vater zu haben, in einem richtigen Haus zu wohnen, mein eigenes Zimmer zu haben, war sicher nicht schlecht. Aber irgendetwas an Gary kam mir unaufrichtig vor. Wenn nicht gar beängstigend.
»Lass mich dein Nachthemd ansehen«, sagte er plötzlich und zog die Decke weg. Das stimmte mich glücklich, weil ich mein Lieblingsnachthemd trug: ein langärmliges rosa Flanellkleidchen mit Rüschen am Saum und einer schönen Dame vorne drauf. Sie hielt ein paar Blumen in der Hand und trug einen Schutenhut. Santa Claus hatte es mir zu Weihnachten gebracht.
»Oh, das ist aber hübsch«, gurrte er und traf den Nerv meines Stolzes. »Willst du ein Foto von dir in dem hübschen Nachthemd?«
Ich nickte.
Er verließ das Zimmer und kam nach wenigen Augenblicken mit einer Polaroidkamera zurück. Er positionierte sich am Fußende des Betts und machte sich daran, die restlichen Decken wegzuziehen, bevor er seine Linse ausrichtete. Ich bat ihn, eine Minute zu warten, um mein Nachthemd glattzustreichen. Ich wollte sichergehen, dass die Dame vorne auf dem Hemd gut zu sehen war. Dann machte er das Bild. Zwei Mal drückte er auf den Auslöser und schoss ein Foto für sich und eins für mich. Ich habe meines noch. Es zeigt ein kleines Mädchen mit langen braunen Haaren und einem Pony, umgeben von einem Meer aus rosafarbenen Rüschen, flach auf dem Bett liegend. Das Mädchen hat eine milchig weiße Haut und blassrosa Lippen, von einem scheuen Lächeln umspielt. Die großen blauen Augen sind weit geöffnet, starren direkt in die Kamera. Da ist eine Unschuld an dem kleinen Kind, eine Verletzlichkeit, die so viel Vertrauen ausstrahlt, dass sie mich heute schmerzt.
Dennoch ist es ein Bild, das mir sehr viel bedeutet, denn es ist das letzte Mal, dass ich mit diesen strahlenden, unbekümmerten Augen direkt in die Kamera geschaut habe. Ein seltsames Geschenk und das erste von vielen, die ich von diesem Mann erhalten würde, der zugleich mein Leben zerstört hat. Eigentlich ein wahrer Schatz. Was ich meine, ist: Wie viele Leute können schon behaupten, dass sie genau wissen, wie sie im letzten Moment ihrer Kindheit aussahen?
Später in der gleichen Nacht. Ein Keller. Ich bin nackt und in einem Käfig eingesperrt. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich dahin gekommen bin.
Es gibt viele Dinge in meinem Leben, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Dies ist eine gute Gelegenheit für einen Einschub: Ich leide an Amnesie, und das schon seit meiner Kindheit. Jeder Mensch mit multiplen Persönlichkeiten leidet an Gedächtnislücken. Auslöser sind die Traumata, die er oder sie in der Kindheit durchmachen musste. Ich zum Beispiel hatte völlig vergessen, dass ich als kleines Mädchen vergewaltigt und gefoltert wurde. Die Erinnerungen kamen erst nach und nach im Erwachsenenalter zurück. Die Vorstellung, dass jemand etwas so Wichtiges wie eine Vergewaltigung vergisst – oder mehr als eine Persönlichkeit entwickelt –, ist für manche Leute schwer zu verstehen. Also behaupten einige, wiedergewonnene Erinnerungen und multiple Persönlichkeiten seien Humbug. Diese Leute haben natürlich nicht die Tortur durchleben müssen, die ich zu erdulden hatte. Wäre es so, dann würden sie verstehen, warum mein Verstand so hart daran gearbeitet hat, alles zu verdrängen.
Es gibt ein schönes Sprichwort dazu: Richte niemanden, bevor du nicht eine Meile in seinen Schuhen gelaufen bist. Und doch leben wir in einer Gesellschaft, in der Gewaltopfer immer wieder verurteilt werden. Verprügelte Frauen werden als »schwach« beschimpft, wenn sie ihre Männer nicht verlassen können. Vergewaltigungsopfer werden wegen ihrer Kleidung kritisiert. Sogar unschuldigen Kindern wird vorgehalten, dass sie ihren Entführern nicht davongelaufen sind!
Dazu kommt es, weil viele Leute ihre Ansichten rein darauf begründen, was sie zu kennen und verstehen gelernt haben. Aber was nicht Betroffene wirklich über Verbrechen wissen, ist sehr eingeschränkt. Schließlich misshandeln die meisten Täter ihre Opfer nicht mitten im Einkaufszentrum. Wenn sie nicht komplett dämlich sind, schlagen, vergewaltigen und drohen sie in ihrem privaten Umfeld. Das verhindert, dass der Rest der Gesellschaft erfährt, was wirklich passiert.
Aus diesem Grund herrscht weithin eine gewisse Skepsis gegenüber Opfern und seltsam erscheinenden Symptomen wie Amnesie, wiedergewonnenen Erinnerungen und multiplen Persönlichkeiten. Es ist für viele schlichtweg nicht vorstellbar, welch schreckliche Begebenheiten derartige Störungen hervorrufen. Der einzige Weg für die Betrachter, jemals zu wissen, was Opfer durchgemacht haben, ist, wenn Opfer ihre Erfahrungen offenbaren. Aber Opfer sprechen selten über ihre beschämende Qual, und so entsteht ein Informationsvakuum, das zu sehr vielen Missverständnissen, Insensibilität und Ignoranz führt.
Eines meiner Ziele ist es, diese Missverständnisse aufzuklären. Aber dafür muss ich Details über den Missbrauch offenlegen, den ich als Kind erleiden musste. Es ist mir klar, dass es meinen Leserinnen und Lesern nicht immer leichtfallen wird, das zu lesen. Dennoch: Wenn Menschen die komplizierten Antworten zu Reaktionen eines Opfers auf Gewalthandlungen verstehen wollen, dann müssen sie in die Schuhe des Opfers schlüpfen. Sie müssen die Gewalt selbst erfahren – wenigstens auf den Seiten eines Buches.
Und deshalb werde ich meine Geschichte genau so erzählen, wie sie mir im Gedächtnis geblieben ist. Manche Erinnerungen sind klar und farbig wie in einem Hollywoodfilm. Andere sind dunkel, verschwommen und unzusammenhängend wie die Seiten eines vergilbten Fotoalbums. Sie alle wurden über Jahre hinweg zusammengetragen und erzählen eine schlimme Geschichte. Meine Geschichte. Sie handelt von meiner Versklavung, und sie beginnt in einem Keller.
Ein kalter, dunkler Keller mit einem Zementboden und Wänden aus Betonschalsteinen. Der Raum sieht riesig aus. Von meinem Sitzplatz aus scheinen die Schatten unbegrenzt.
Ich bin nackt und in einem Käfig eingesperrt: wohl neunzig mal neunzig Zentimeter groß. Gerade groß genug, um sich mit ausgestreckten Beinen hinzusetzen oder um sich in der Embryonalstellung hinzulegen. Er ist aus dünnen Metallstangen gefertigt. Der Boden besteht aus einer festen Metallplatte. Ein winziges Vorhängeschloss sichert die Halterung an der Tür. Es ist ein Hundezwinger. Die Art von Käfig, die dazu dient, Welpen wegzusperren. Mit meinen acht Jahren weiß ich das jedoch noch nicht. Meine einzige Erfahrung mit Haustieren besteht aus dem Zusammenleben mit einer kleinen Wüstenrennmaus, die meine Mutter bei Woolworth gekauft hat. Sie lebt in einem Glaskäfig in unserem Wohnzimmer und beißt, wenn ich versuche, sie anzufassen.
Ich will nach Hause zu meiner Wüstenrennmaus und meinem Snoopy-Kissen und meiner Raggedy-Ann-Puppe. Ich will auf dem Teppich in meinem Schlafzimmer liegen und Sesamstraße auf meinem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher gucken. Ich will, dass meine Mama Fischstäbchen und Kroketten macht und dann mit mir auf der Couch sitzt, sodass wir beide unsere Lieblingssendung Archie Bunker gucken können.
Ich habe Hunger.
Wann habe ich das letzte Mal etwas gegessen?
Was für ein Tag ist heute?
Wann kommt Mama zurück?
Plötzlich ein Geräusch.
Wird die Haustür geöffnet? Mama ist hier! Erleichterung. Nur noch einen kleinen Moment.
Dann höre ich den schweren Schritt von Männerfüßen. Er ist zurück. Mein Bauch tut weh. Ich muss pinkeln.
Seine Füße laufen auf dem Boden über mir. Ich bin wie gelähmt. Mein Atem wird flach, meine Arme und Beine werden schwach, und nach und nach verliere ich die Kontrolle über meinen gesamten Körper. Mein Verstand jedoch bleibt scharf und fokussiert. All meine Aufmerksamkeit gilt dem Geräusch der Füße. Jeder Schritt – weiter weg, näher – ist Leben. Oder Tod.
Es ist der schiere Horror. Und zwar von der Art, wie ihn die meisten Menschen nur aus ihren Träumen kennen. Aber selbst aus dem schlimmsten Albtraum kann man aufwachen, aus dem Bett springen und die Vorhänge aufreißen. Versuchen, das schreckliche Gefühl abzuschütteln.
Ich will dieses Gefühl abschütteln. Meine schreckliche, schreckliche Angst. Ich will sie verdrängen und einfach nur etwas anderes fühlen. Es ist unerträglich, sich so sehr zu fürchten. Unerträglich, es nur eine Minute, eine Stunde, geschweige denn einen ganzen Tag auszuhalten.
Oder zwei Tage? Wie viel Zeit ist wohl vergangen? Wann kommt meine Mutter? Was ist das für ein Geräusch?
Männer unterhalten sich.
O Gott, es müssen zwei sein!
Die Tür am oberen Ende der Treppe wird knarrend geöffnet. Gary kommt herunter, gefolgt von einem anderen Mann. Ich kann ihn nicht genau sehen, weil er im Schatten verborgen ist. Trotzdem spüre ich schon jetzt, dass er fies sein wird. Er ist so groß wie Gary, hat schwarzes Haar und einen schwarzen Schnurrbart. Er sieht irgendwie wie ein Verbrecher in einem dieser alten Stummfilme aus.
Irgendwann später einmal erfahre ich, dass der Mann Joe heißt. Er ist ein Freund von Gary, der seine Interessen teilt. Auch er begeistert sich für politische Geschichte, antike Sammelobjekte und sadistische Pädophilie.
Als der Mann die letzte Treppenstufe erreicht, schlendert Gary langsam zu mir herüber. Sie sehen beide streng aus, und keiner der beiden redet, was die ganze Szene sogar noch mehr einem Albtraum ähnlich macht. Falls ich tatsächlich einen Körper, einen Verstand, einen Namen habe, bin ich mir dessen in diesem Augenblick nicht bewusst. Alles, was ich jetzt noch kenne, ist Lähmung. Meiner Glieder, meines Verstands, meiner selbst. Die Zeit steht still. Jeder Schritt, der Gary näher zu mir führt, dauert eine Stunde. Jetzt fühle ich keine Angst mehr. In diesem Moment fühle ich nichts.
Der schwarzhaarige Mann trägt so etwas wie Seile. Er geht ein Stückchen von der Treppe weg und beginnt, sie über die Balken der Kellerdecke zu hängen. Gary kommt weiter auf meinen Käfig zu. Er steht jetzt über mir und schaut auf mich herunter.
»Es ist Zeit, mit deinem Training zu beginnen, Sklavin«, sagt er. Seine Stimme ist tief und fordernd, nicht so, wie sie sonst klingt. Sein Gesicht ist auch anders. Es ist ausdruckslos und leer. Außer seinen Augen, die mich mit einer Kälte anstarren, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. An niemandem. Die Kälte und Ausdruckslosigkeit sind so unmenschlich, so bizarr, dass sie mich bis heute verwirren.
Vielleicht spielt Gary nur mit mir – ein beängstigendes unecht-verrücktes Spiel, wie es Erwachsene manchmal machen, bevor sie ein ulkiges Gesicht ziehen und anfangen zu lachen.
»Raus aus deinem Käfig, Sklavin«, sagt Gary im gleichen fordernden Ton. Er bückt sich und öffnet das Schloss.
Die Tür schwingt leicht auf.
Er wartet.
Aber worauf? Ich bin wie gelähmt. Nichts von dem, was hier passiert, ergibt einen Sinn.
»Ich habe gesagt, raus aus deinem Käfig, Sklavin. Du wirst tun, was ich sage. Du wirst lernen, mir zu gehorchen!«
Er bückt sich noch mal, streckt seinen Arm durch die Käfigöffnung und grapscht nach meinem Bein. Er zerrt daran und fängt an, mich rauszuziehen.
Hilflos, wie ich bin, werde ich über den Boden geschleift. Am Boden des Käfigs ist ein Metallrand, und als mein Rücken darübergezerrt wird, merke ich, wie der kalte Stahl meine Haut aufschürft. Alles passiert so schnell. Ich kann mich auf nichts richtig konzentrieren.
Plötzlich werde ich hochgehoben. Der Schwarzhaarige hält mich. Er und Gary fesseln meine Arme und Beine mit den Seilen, die von der Decke hängen, und stopfen ein Halstuch in meinen Mund. Es passiert alles so schnell und ist so seltsam, dass ich nicht begreife, was eigentlich geschieht. Schlagartig lassen mich die Männer los, und das volle Gewicht meines Körpers hängt durch. Das zieht die Fesseln um meine Handgelenke, Schenkel und Knie ruckartig fester. Ich hänge dort nackt, geknebelt und mit gespreizten Beinen.
»Wenn du mir nicht gehorchst, dann wirst du bestraft«, sagt Gary. Dann hält er eine Art Stock hoch, wahrscheinlich einen abgesägten Besenstiel. Ich habe Angst und bin sicher, dass ich nun geschlagen werde. Doch stattdessen rammt Gary mir den Stock nach einer bedrohlich langen Pause zwischen die Beine.
Schmerz. Schock. Panik. Ich muss hier weg. Ich kämpfe. Winde mich. Aber ich bin festgebunden. Kann mich nicht bewegen. Kann nicht fortlaufen. Hilflos. Ich versuche zu schreien. Muss schreien. Schreien wegen des Schocks, des Schmerzes. Um Hilfe schreien. Damit er aufhört. »Stopp! Stopp!« Ich versuche zu schreien.
Aber ich bin geknebelt. Geknebelt und gefesselt. Zu hilflos, um fortzurennen oder zu schreien oder mich vor dem Schmerz zu schützen. Plötzlich flutet ein grässlicher Geschmack meinen Mund. Ich übergebe mich.
Instinktiv drehe ich meinen Kopf und versuche meinen Mund zu öffnen, um die ekelhafte Flüssigkeit loszuwerden. Aber mein Mund ist zugebunden. Meine Schreie ertrinken im Erbrochenen. Ich ersticke. Kriege keine Luft mehr. Kann nicht atmen.
Das Stoßen hört auf. Gary ist bei meinem Kopf. Er zieht an dem Halstuch. Fummelt daran herum, um es herauszuziehen. Tasten, zerren, er stopft seine fetten Finger in meinen Mund, zieht das verkrumpelte, nasse, stinkende Tuch heraus. Erbrochenes strömt aus meinem Mund, auf meine Lippen, mein Gesicht, meinen Hals. Ich würge immer noch, huste, schnappe nach Luft. Nach einer Weile kann ich wieder atmen. Ich bemerke ein Brennen in meinem Hals, den faulen Geschmack in meinem Mund, Schmerz zwischen meinen Beinen.
Gary sieht zu dem Schwarzhaarigen. Sein Gesicht ist ernst, aber normal. Er sieht wieder aus wie ein Mensch.
»Sie hätte ersticken können«, sagte er leise.
Dann hebt Gary meinen Körper hoch, während der andere Mann die Fesseln löst. Gary trägt mich zurück zum Käfig, legt mich auf den Boden und befiehlt mir, hineinzukriechen.
Automatisch gehorche ich ihm. Ich krabble hinein, krümme mich zusammen und schließe die Augen. Ich bin zu schwach, um zu kämpfen, zu schreien, zu denken. Ich will nur schlafen.
Noch mehr passiert an diesem Wochenende. Irgendwann kommen Gary und der Mann zurück, um den Käfig zu öffnen, und befehlen mir rauszukommen. Es sei Zeit, mit meinem Training zu beginnen. Ich krieche heraus, so erschöpft, dass es mir gar nicht in den Sinn kommt, nicht zu tun, was man von mir verlangt. Als ich auf dem Boden niederknie, bindet der schwarzhaarige Mann ein Lederhalsband um meinen Hals und befestigt eine Leine daran. Er übergibt die Leine an Gary, der mich zwingt, auf Händen und Knien hin und her zu kriechen. Mir wird beigebracht, bei Fuß zu gehen, zu sitzen, zu bleiben. Bei alldem wird von mir erwartet, dass ich blind gehorche. Ich bin nun eine Sklavin, wird mir gesagt. Nicht besser als ein Hund. Ich muss lernen, dem Meister zu gehorchen.
Natürlich ist mir das alles zutiefst zuwider. Es tut weh, über den harten Boden zu kriechen. Und es ist noch schlimmer, lange Zeit still in der Bleib-Position zu sein. Was mich jedoch am meisten stört, ist nicht der Schmerz, die Kälte oder gar die Angst. Es ist der furchtbare Zwang, Dinge tun zu müssen, die ich nicht tun will. Dinge, die ich beschämend finde. Demütigend. Ich will nicht nackt sein. Ich will kein Hundehalsband tragen. Ich will nicht an einer Leine herumkriechen. Ich will nichts von alldem tun. Ich hasse es. Es macht mich so wütend. Aber ich kann nichts sagen. Was ich will, glaube, fühle, ist völlig egal. Ich kann nur noch tun, was sie sagen.
Endlich ist meine Dressur beendet. Mir wird gesagt, dass ich es gut gemacht habe, dass ich eine gute und gehorsame Sklavin sei. Dafür gibt es eine Belohnung. Es ist mir erlaubt, etwas zu essen. Das ist eine Erlösung. Ich bin völlig ausgehungert. Allein das Wort »Essen« bringt meinen Magen zum Knurren. Als der schwarzhaarige Mann mir jedoch mein Essen bringt, merke ich, dass das nur ein Trick war, eine weitere Art der Demütigung. Er platziert zwei Hundenäpfe vor mir. Einen mit Wasser, den anderen mit Nassfutter. Mir wird gesagt, dass ich mich über die Schalen knien solle, mit den Händen auf meinem Rücken. Einen langen Moment bleibe ich bewegungslos. Ich weiß, dass ich das Hundefutter essen muss, aber beim bloßen Gedanken daran und bei dem Geruch wird mir schlecht. Ich kann mich nicht dazu durchringen, mein Gesicht in dem stinkenden Napf zu versenken.
»Was ist los, Sklavin? Magst du dein Essen nicht? Du wirst lernen müssen, ein bisschen dankbarer zu werden. Und du wirst lernen, es zu mögen. Iss!«
Der Ton von Garys Stimme macht klar, dass es sicherlich weniger schlimm sein wird, dieses widerliche Mahl zu essen, als das, was er mir antut, wenn ich es nicht esse.
Also beuge ich meinen Kopf über die Schale und esse das Hundefutter. Ich ignoriere den Geruch. Den Geschmack. Jede Anwandlung in meinem Körper, die mich drängt, davonzulaufen, es auszuspucken, mich zu übergeben. Ich schalte meine Gedanken ab, meine Gefühle, meine Sinne, meinen Körper. Ich verwandle mich in eine stumpfe, dumme Fressmaschine, immun gegen den Geruch, den Geschmack, die Zusammensetzung, alles. Das ist der einzige Weg, das Ganze durchzustehen. Der einzige Weg.
Ich bin wieder allein in meinem Käfig. Wie lange bin ich nun schon hier? Es müssen sicherlich bereits ein paar Tage sein. Irgendwie ist mir der Lauf der Zeit bewusst. Ich habe das Licht kommen und gehen sehen durch das hohe Fenster auf der anderen Seite des Kellers. Ich habe aber nicht mitgezählt. Weiß nicht, wie oft die Sonne rumkam. Aber es muss doch längst an der Zeit sein, dass Mama kommt. Nicht wahr? Wann kommt sie und holt mich ab?
Mir ist kalt, und es ist eng in der kleinen Zelle. Das Hundehalsband sitzt zu straff. Ich muss pinkeln. Trotzdem habe ich das Alleinsein im Käfig schätzen gelernt. Wenn sie mich rausholen, passieren die schlimmen Dinge. Deshalb mag ich es hier irgendwie. Ich mag es, wenn ich allein sein und meine Gedanken fliegen lassen kann. Ich denke an schöne Dinge wie Kätzchen, Spielsachen, Eis und das Pferd, das ich eines Tages haben werde. Ich denke nicht daran, dass ich nackt, hungrig, müde und verängstigt bin. Ich bilde mir einfach ein, irgendwo an einem guten Ort zu sein, wo ich glücklich und sicher bin.
Die Tür geht auf. Licht flutet die Treppe herunter. Gary und Joe sind wieder da. Sie haben einen gemeinen Ausdruck in ihren Gesichtern. Und mit einem Mal verwandle ich mich wieder von einem glücklichen, Pferde reitenden Kind in ein stumpfes, körperloses Knäuel, angefüllt mit unsäglicher Angst. Ich bin wertlos. Meine Tagträume sind wertlos. Es geht nur noch um den Gesichtsausdruck von Gary.
»Ich bin enttäuscht von dir, Sklavin«, sagt er. »Ich versuche, dich abzurichten, aber du scheinst nicht lernen zu wollen. Ich glaube nicht, dass du schätzt, was ich alles für dich tue. Ich glaube nicht, dass du dankbar bist für all die Zeit und Aufmerksamkeit, die ich dir schenke. Ich glaube, du brauchst mehr Strenge. Ich glaube, Schmerz ist das Einzige, das dich lehrt zu gehorchen.« Er bückt sich, um den Käfig zu öffnen. »Raus«, sagt er.
Sofort krieche ich aus dem Käfig heraus. Ich habe bereits gelernt, dass es besser ist, ihm zu gehorchen, und zwar je schneller, desto besser.
»Steh auf«, sagt er und greift mein Halsband. Dann schubst er mich zu den Seilen.
O mein Gott! Nicht noch mal die Seile. Nicht der Stock. So viel Schmerz! Unfassbare Panik packt mich. Instinktiv falle ich zusammen, versuche auszuweichen. Aber er ist da, zieht mich wieder hoch, bindet mich an die Schlinge.
»Nein, bitte nicht«, bettele ich. »Ich bin brav! Ich verspreche es! Ich bin brav!«
»Still«, brummt er, als er den Stock drohend hochhält. Ich bin starr vor Angst. Wahnsinnige Furcht überkommt mich. Ich bereite mich auf den Schmerz vor, aber er kommt nicht. Stattdessen legt er seine Hand an die Stelle zwischen den Beinen und beginnt, sie sachte zu reiben.
»Na, fühlt sich das nicht gut an?«, fragt er.
Ich weiß nicht, was ich denken soll. Fühlt es sich gut an? Ja, ich denke schon. Es fühlt sich auf jeden Fall sehr viel besser an als der Stock und der Schmerz.
Er reibt weiter, aber es ist schwer zu verstehen. Schwer zu verstehen, was passiert. Ich dachte, sie würden mir wehtun. Dachte, ich würde gefoltert werden. Aber das hier ist nicht schlecht. Es tut gar nicht weh. Trotzdem bin ich verwirrt. Kann dem nicht trauen. Es muss ein Trick sein. Warum tut er mir nicht weh? Warum reibt er mich? Warum sieht sein Gesicht auf einmal so nett aus?
»Ist das nicht besser?«, sagt er. »Fühlt sich das nicht gut an? Gefällt dir das? Es gefällt dir, nicht wahr? Ja, entspann dich. Entspann dich einfach.«
Das Nächste, was ich weiß, ist, dass die Männer mich runterholen. Gary hält mich in seinen Armen und trägt mich nach oben. Zurück in das Haus, in dem alles angefangen hat. Durch die Küche und ins Esszimmer, den langen Flur entlang. Ich bin so verwirrt. Ich weiß nicht, was vor sich geht. Weiß nicht, ob ich Angst haben oder erleichtert sein soll. Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll. Ich fühle einfach gar nichts.
Bevor ich das Ganze verstehen kann, sind wir in Garys Schlafzimmer. Er zieht die Decken zurück. Legt mich in sein riesiges grünes Bett. Er steigt nach mir rein. Zieht die Decken hoch. Wiegt mich in seiner Armbeuge. Fängt erneut an, die Stelle zwischen meinen Beinen zu reiben. Zärtlich. Rhythmisch. »Na, fühlt sich das nicht gut an?«
Es ist warm und weich. Das rhythmische Reiben, die sanfte Stimme beruhigen mich. Ich bin so müde, und es ist so friedlich, und trotz allem fange ich an, mich zu entspannen. Erleichterung überkommt mich. Der Keller ist vergessen. Mir ist jetzt warm. Endlich, endlich fühle ich mich sicher.
Ich schlafe ein über dem Einlullen des Reibens. Ich kann nicht anders. Mein Körper hat sich seit Tagen nicht entspannt. Es ist ein plötzlicher, tiefer, lebloser Schlaf. Einer von jenen, wie man ihn nur in seiner Kindheit erfährt.
Solange ich ihn kannte, war Gary ein begeisterter Hobbyhistoriker. Er liebte es, Leute mit Geschichten über Präsidenten und Politiker zu unterhalten. Aber seine allerliebste Geschichte war die von Stalins Huhn. Vom Kopfende seines Esstisches aus erzählte Gary von Stalin und seiner Suche nach Macht. Wie Stalin sich eines Tages vor das Kabinett stellte und sagte: »Wisst ihr, wie man Menschen beherrscht?« Dann wurde eine Tür geöffnet, und ein Huhn wurde hereingebracht. Stalin setzte es vor sich auf den Tisch und zupfte ihm eine Feder nach der anderen aus. Für das Huhn war der Schmerz unerträglich, und der Vogel kämpfte mit aller Kraft, um zu entfliehen. Aber als Stalin fertig war, weigerte sich das verängstigte, verletzliche Huhn, von seiner Seite zu weichen.
Es hat dreißig Jahre gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich das Huhn war.