Die Studien zur Philosophie des Bildes verfolgen eine doppelte Absicht: Sie bemühen sich einerseits um einen Überblick über die grundlegenden Positionen innerhalb der gegenwärtigen Bildwissenschaft und versuchen andererseits stets einen systematischen Hauptgedanken zu verteidigen: Bilder präsentieren; nur Bilder ermöglichen die artifizielle Präsenz von ausschließlich sichtbaren Dingen, die den Gesetzen der Physik enthoben sind. Vor dem Hintergrund dieses Bildbegriffs wird die Verwendung von Bildern als Zeichen aus einer phänomenologischen Sicht beschrieben, Platons Mimesis-Begriff anhand seiner kanonischen Bildvorstellungen rekonstruiert und die besondere Bedeutung extremer Bildtypen – wie die virtuelle Realität, Benutzeroberflächen oder die Abstrakte Fotografie – für die philosophische Arbeit am Bildbegriff vorgeführt.
Lambert Wiesing ist Professor für Bildtheorie und Phänomenologie am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Im Suhrkamp Verlag ist von ihm erschienen: Das mich der Wahrnehmung (2009). Er hat den Band Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen (stw 1562) und von Maurice Merleau-Ponty, Das Primat der Wahrnehmung (stw 1676) herausgegeben und David Humes Versuch über den menschlichen Verstand kommentiert (stb 5).
Artifizielle Präsenz
Studien zur Philosophie des Bildes
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005
Der vorliegende Text folgt der 3. Auflage des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1737
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Umschlag nach Entwürfen von
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-73279-3
www.suhrkamp.de
Vorwort
1. Bildwissenschaft und Bildbegriff
2. Die Hauptströmungen der gegenwärtigen Philosophie des Bildes
3. Wenn Bilder Zeichen sind: das Bildobjekt als Signifikant
4. Was könnte »Abstrakte Fotografie« sein?
5. Fenster, Fernseher und Windows
6. Virtuelle Realität: die Angleichung des Bildes an die Imagination
7. Platons Mimesis-Begriff und sein verborgener Kanon
8. Was sind Medien
Textnachweise
Die in diesem Band versammelten Arbeiten zur Philosophie des Bildes schreiten ein Begriffsfeld ab. Im Mittelpunkt steht der Bildbegriff, der in jeder der acht Studien in seinem Verhältnis zu einem angrenzenden Begriff beschrieben wird. Die thematisierten Begriffe dieses Begriffsfeldes sind: der Begriff des Zeichens, der Abstrakten Fotografie, des Fensters, der Virtuellen Realität und Immersion, der Mimesis und des Mediums. So heterogene Phänomene mit diesen Begriffen auch angesprochen sein mögen, so einheitlich ist doch die These, welche gleichermaßen in jeder Studie verteidigt wird: Nur wenn die artifizielle Präsenz der im Bild sichtbaren Objekte als das spezifische Merkmal eines jeden Bildes verstanden wird, arbeitet die Bildwissenschaft mit einem Bildbegriff, welcher in der Lage ist, die unersetzbare Leistung des Bildes sowie die daraus resultierende Bedeutung des Bildes für den Menschen zu erfassen. Daß Menschen meinen, auf Bildern etwas sehen zu können, obwohl sie sich gleichzeitig sicher sind, daß dieses sichtbare Etwas nicht real, sondern nur künstlich gegenwärtig ist: das ist das Thema dieses Buches. Es geht um das Phänomen, daß mit dem Bild ein Blick auf eine physikfreie Wirklichkeit eröffnet wird.
Ich hatte Glück, daß mir bei der Arbeit zu diesen Studien, welche zwischen 2000 und 2004 als Aufsätze und Vorträge entstanden sind und jetzt in diesem Band größtenteils zum ersten Mal und teils in überarbeiteter Form veröffentlicht werden, in vielfacher Weise geholfen wurde; ich möchte mich bedanken bei: Prof. Dr. Stefan Matuschek, Dr. Stephan Günzel, Michael Albert Islinger, Grit Hammer, Sandra Gadinger, Silvia Seja, PD Dr. Iris Därmann, Prof. Dr. Manfred Sommer, Dr. Ralph Behrwald, Prof. Gottfried Jäger, PD Dr. Thomas Rolf, PD Dr. Wolfgang Kienzler und Prof. Dr. Klaus Rehkämper.
Sendenhorst, im Juni 2004
L.W.
Ein derzeit mit vielen Erwartungen und Hoffnungen verbundenes wissenschaftliches Vorhaben trägt den Namen »Bildwissenschaft«. Doch wie oft bei neuen wissenschaftlichen Disziplinen ist keineswegs unstrittig, welche spezifischen Aufgaben, Inhalte oder Methoden mit ihr verbunden sein sollen. Nur wenig kann als sicher gelten: Eine Wissenschaft, die sich »Bildwissenschaft« nennt, widmet sich der Erforschung des Bildes. Bezüglich des genaueren Profils besteht Erklärungsbedarf: Ist die Bildwissenschaft eine eigenständige, neue Disziplin auf einer Ebene mit anderen Einzelwissenschaften wie zum Beispiel Archäologie und Soziologie? Dann müßte man den Studiengang »Bildwissenschaft« an Universitäten einrichten. Oder ist die Bildwissenschaft vielleicht Teil einer bekannten, etablierten Disziplin wie zum Beispiel Philosophie oder Kunstgeschichte? Sie könnte auch in mehreren Disziplinen verankert sein. Im letzteren Fall wäre die Bildwissenschaft in ihrem disziplinären Status mit der Semiotik vergleichbar, welche auch in mehreren Wissenschaften angewandt und erforscht wird. Genausogut ist allerdings auch denkbar, daß eine Bildwissenschaft in eine der jungen, selbst wiederum keineswegs gänzlich bestimmten Wissenschaften wie zum Beispiel der Medien- oder Kulturwissenschaft gehört. Es ist keineswegs auszuschließen, daß mit »Bildwissenschaft« überhaupt keine eigenständige Disziplin gemeint ist, sondern daß es sich um einen bloßen Sammelbegriff handelt, der viele, inhaltlich und methodisch heterogene Überlegungen über Bilder, die aus unterschiedlichen Disziplinen entstammen, aufgrund einer Art losen Familienähnlichkeit zusammenfaßt. Wenn letzteres der Fall ist, sollte man besser nicht von der Bildwissenschaft im Singular, sondern von den Bildwissenschaften im Plural sprechen.
Angesichts einer solchen ungeklärten Situation scheint es einen Versuch wert zu sein, sich auf einfache, dafür aber sichere Grundunterscheidungen zu besinnen. Wenn davon ausgegangen werden kann, daß die Bildwissenschaft die Bilder erforscht, dann ist nämlich immerhin sicher, daß sich rein extensional, allein am thematischen Umfang drei Arten von Bildwissenschaft unterscheiden lassen: Das konkrete Bild, eine Gruppe von Bildern und die Gesamtheit der Bilder können das Thema einer bildwissenschaftlichen 10Untersuchung sein; nur diese drei Arten sind denkbar. Unabhängig von inhaltlichen oder methodischen Auffassungen ergeben sich allein über den Umfang der thematisierten Bilder kaum vergleichbare bildwissenschaftliche Beiträge.
Die kleinste denkbare thematische Extension einer bildwissenschaftlichen Arbeit ist das einzelne Bild. In diesem Fall hat man es mit Theorien und Beschreibungen zu tun, die sich einem konkreten Objekt zuwenden; es handelt sich um dezidierte Werkuntersuchungen. So wenden sich zum Beispiel Kunsthistoriker einem speziellen Kunstwerk oder Werbepsychologen einem konkreten Plakat mit jeweils ihren spezifischen wissenschaftlichen Methoden und Absichten zu. Doch unabhängig davon, in welcher wissenschaftlichen Disziplin ein konkretes Bild thematisiert wird, in jedem Fall gilt, daß ein bestimmtes Bild immer nur dann zum Thema einer speziellen wissenschaftlichen Untersuchung wird, wenn die Bedeutung des Bildes dies zu rechtfertigen scheint. Der Begriff der Bedeutung ist in diesem Zusammenhang willkommenerweise doppeldeutig, denn mit »Bedeutung« kann sowohl der Inhalt oder Sinn von etwas (Was bedeutet dieses Schild?) wie aber auch die Relevanz von etwas (Mein Vater bedeutet mir viel) gemeint sein. Zumeist fungieren beide Bedeutungen von »Bedeutung« in einer unauflösbaren Mischung als Grund von konkreten Bilduntersuchungen, was zur Folge hat, daß jede bildwissenschaftliche Untersuchung eines einzelnen Werks stets mit einer Würdigung verbunden ist. Durch eine spezielle Untersuchung wird ein Bild zwangsläufig zu einem Bild, mit dem etwas gemacht wird, das keineswegs mit jedem Bild geschieht. Deshalb muß es für eine konkrete Werkuntersuchung einen im Werk selbst liegenden Grund für diese wissenschaftliche Thematisierung geben – und genau dies ändert sich, wenn Gruppen von Bildern untersucht werden.
Schon ein flüchtiger Blick auf die derzeit ständig steigende Flut an wissenschaftlichen Publikationen über Bilder kann belegen, daß in den meisten Fällen eine mehr oder weniger genau bestimmte Gruppe von Bildern thematisiert wird. Die beiden extensionalen Grenzfälle bildwissenschaftlichen Arbeitens – das konkrete Werk wie auch das prinzipielle Phänomen der Bildlichkeit – sind eher selten. Diese Feststellung gilt erneut ganz unabhängig davon, aus welcher Disziplin die jeweiligen Überlegungen kommen. Der Löwenanteil an wissenschaftlichen Arbeiten über Bilder widmet sich einer definierten Menge von konkreten Bildern. Aus der Vielzahl der denkbaren Kriterien, mit denen sich aus der Menge des gesamten Bildbestandes thematische Teilmengen bilden lassen, hat sich ein Kanon üblicher bildwissenschaftlicher Themenkonstruktionskriterien herausgebildet. Den jeweiligen kanonischen Rang eines solchen Kriteriums erkennt man daran, daß eine Studie, welche sich mit einem kanonischen Unterscheidungskriterium ein Thema zurechtlegt, über die Verwendung des Kriteriums keine Rechenschaft ablegen muß. So wird sich gegenwärtig ein Kunsthistoriker kaum in seiner wissenschaftlichen Gemeinschaft rechtfertigen müssen, wenn er Bilder einzig und allein aus dem Grund thematisiert, weil sie das Œuvre eines Künstlers bilden. Es ist vollkommen ›normal‹, daß sich ein Bildwissenschaftler auf die Menge der Bilder konzentriert, die man Filme nennen kann; andere konzentrieren sich auf Bilder, welche gleichzeitig auch noch Holzschnitte sind. Die jeweils ausgewählte und thematisierte Herstellungstechnik kann noch enger gefaßt werden, wie es zum Beispiel der Fall ist, wenn sich eine Studie einzig auf digitale Filme oder Mosaike, Fresken oder Daguerreotypien konzentriert. Der Herstellungsort und die Herstellungszeit von Bildern sind weitere, mindestens ebenso kontingente wie kanonische Arten der Themenbildung für bildwissenschaftliche Studien. Doch das eigentlich Bemerkenswerte ist, daß in dem gleichen Maße, wie sich bestimmte Kriterien als kanonische Themenfindungsmöglichkeiten herausgebildet haben, sich auch die Kombinationsmöglichkeit dieser Kriterien bildwissenschaftlich etabliert hat. So ist es gang und gäbe, zum Beispiel eine Herstellungstechnik mit einem Herstellungsort zu kombinieren, um einen geradezu typischen bildwissenschaftlichen Gegenstand zu definieren; man denke hierfür 12beispielhaft an die unüberschaubare Menge an Studien, die nach diesem Schema gebildet sind: Römische Wandmalereien, Amerikanische Fotografie, Französischer Film oder Griechische Mosaiken. Es liegt in der Logik dieser Art von bildwissenschaftlicher Themenbestimmung, daß sich dieses Prinzip grenzenlos fortsetzen läßt, also nicht nur zwei, sondern noch mehrere Kriterien kombiniert werden. Wenn das Ägyptische Mumienporträt oder das Präsidentenbild in der amerikanischen Presse erforscht wird, dann konzentriert sich der Bildwissenschaftler auf eine sehr begrenzte Gruppe von Bildern. Es ist diese Kombination von kontingenten Kriterien, welche einem nicht geringen Anteil von bildwissenschaftlichen Studien ihr Thema gibt. Typische Titel lauten Malerei in Florenz und Siena nach der großen Pest, Gauguin und die Druckgraphik der Schule von Pont-Aven oder Skandinavische Interieurmalerei zur Zeit Carl Larsons. So unterschiedlich in diesen Beispielfällen die thematisierten Bilder auch sein mögen, das Prinzip der Themenbildung ist stets dasselbe. Das Thema ist das Produkt einer kontingenten Kriterienkombination – und genau hierin liegt gleichermaßen eine bildwissenschaftliche Gefahr wie aber auch eine Chance. Die Gefahr dürfte besonders schnell ins Auge fallen: Es ist die ungewollte Emphase und das unberechtigte Pathos. Man kennt dieses Phänomen auch aus der Literaturwissenschaft im Fall von problematischen Gesamtausgaben großer Literaten. In diesen findet sich nicht selten der vom Diener gegen den Willen des Autors aus dem Papierkorb gefischte Zettel, die unveröffentlichte Bagatelle oder das flüchtige Gelegenheitsgedicht ohne jeden editorischen Unterschied gleichwertig neben dem poetischen Meisterwerk, was zur Folge hat, daß das Beiläufige eine Gewichtung, Aufmerksamkeit und Bedeutung erhält, die durch den ursprünglichen Entstehungskontext überhaupt nicht gerechtfertigt ist. Dies ist bei der Erforschung von Bildgruppen nicht anders.
Doch genau diese Aufnahme des künstlerisch Banalen und Belanglosen in die Reihe der wissenschaftlichen Forschungsobjekte birgt nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine große Chance: In ihr ist der erste notwendige Schritt zur Reflexion über alle Bilder angelegt. Denn so eigenwillig eine thematisierte Gruppe auch sein mag, sobald nicht mehr ein bedeutungsvolles Einzelwerk, sondern eine Gruppe thematisiert wird, werden zwangsläufig Bilder zum Thema einer Wissenschaft, die als einzelne Objekte nicht bemerkenswert sind. Das heißt: Es werden Bilder zum Gegenstand einer Wissen13schaft aus Gründen, die nicht in ihrer besonderen Bedeutung liegen – und genau dies ist eine Entwicklung, an deren Ende die Philosophie des Bildes steht. Mit der Zuwendung zur Gruppe ist zumindest eine partielle Abwendung vom Meister- und Kunstwerk verbunden. Dies ist ein Vorgang, der insbesondere für das Verhältnis von Kunstwissenschaft und Bildwissenschaft ausgesprochen wichtig ist. Denn sobald sich Kunstwissenschaft mit Werkgruppen befaßt, kann sie sich nicht mehr ausschließlich auf Kunstwerke konzentrieren. Da in der Kunstwissenschaft Bilder thematisiert werden, einzig und allein, weil sie ein Element in einer bestimmten Gruppe von Bildern sind, ist in der Kunstwissenschaft – nicht erst seit Aby Warburg – die Tendenz zur allgemeinen Bildwissenschaft immer schon angelegt, das heißt der Gedanke, Bilder zu thematisieren, weil sie in die größtmögliche Gruppe fallen, nämlich in die Gruppe aller existierenden Bilder. Man kann gar nicht das Bild der Kunst erforschen, ohne sich für alle anderen Bilder als möglichen komparatistischen Bezugspunkt zu interessieren. Insofern besteht kein Zweifel daran, daß der Kunstgeschichte immer auch eine disziplinäre Zuständigkeit für alle existenten Bilder inhärent war und ist – aber nicht für den Bildbegriff. Kunstgeschichte kann und sollte sich mit den für das Fach spezifischen Methoden mit allem befassen, was ein Bild ist. Doch es läßt sich nicht mehr sinnvoll behaupten, daß noch Kunstgeschichte oder Kunstwissenschaft betrieben würde, wenn man sich mit der Frage befaßt, was alles ein Bild ist. Denn diese Frage ist ein genuin kategoriales Problem, welches sich nicht historisch oder empirisch beantworten läßt. Die Frage führt vielmehr zu einer weiteren Art des wissenschaftlichen Interesses an Bildern: das philosophische Interesse am Bildbegriff. Denn die Definition des Bildbegriffs ist eine bildwissenschaftliche Aufgabe, welche nur philosophisch gelöst werden kann.
Die Erweiterung des Themenumfangs von einer bestimmten, noch so großen Werkgruppe hin zum Bildbegriff ist keine bloß extensionale, quantitative Erweiterung, sondern ein Schritt ins Kategoriale, der notwendigerweise einen Wechsel der Methoden verlangt. Denn eine Bildwissenschaft, die versucht, über alle Gegenstände, die Bil14der sind, zu sprechen, kann aus prinzipiellen Gründen keine empirische Wissenschaft mehr sein – und zwar aus einem gleichermaßen einfachen wie wichtigen Grund: Sobald über alle Phänomene der Bildlichkeit gesprochen werden soll, wird die Definition, welche empirischen Gegenstände hierzu gehören, höchst problematisch. Es kommt zu einem dezidiert philosophischen Problem: Denn wenn man die Frage Was soll als Bild bezeichnet werden? in aller Radikalität ernst nimmt, dann ist mit dem Vollzug dieser Fragestellung fraglich geworden, welche Gegenstände überhaupt als Bild anzusprechen sind. Wer die Frage nach dem Bild in aller Radikalität stellt, kann nicht länger voraussetzen, daß er weiß, welche Gegenstände auf ihre gemeinsamen Eigenschaften hin untersucht werden sollen. Anders gesagt: Wer über alle Bilder wissenschaftlich arbeiten will, arbeitet primär über die Frage, was aus welchen Gründen ein Bild ist – und genau diese Frage läßt sich ausschließlich argumentativ beantworten. Jeglicher Versuch einer empirischen Untersuchung sämtlicher Bilder würde notgedrungen an einem Problem scheitern, welches spezifisch für die meisten philosophischen Probleme ist. Es geht nicht um die Erforschung dessen, was schon kategorisiert ist, sondern um die Erforschung der Kategorisierung: eben um den Begriff des Bildes. Man kennt vergleichbare Probleme aus anderen philosophischen Disziplinen: So läßt sich zum Beispiel das moralisch Gute auch nicht dadurch bestimmen, daß ›bestimmte‹ moralisch gute Handlungen untersucht werden. Denn auch in diesem Fall müßte zuvor bekannt sein, welche Handlungen zur Gruppe der moralisch guten Handlungen gezählt werden. Doch genau dieses Wissen steht gerade zur Diskussion, wenn man fragt, was moralisch gut ist. Die Parallele läßt sich durchaus fortziehen: In den meisten Fällen dürfte kaum jemand das Problem haben, nicht zu wissen, welcher Gegenstand ein Bild ist. Ganz ähnlich sind auch die moralischen Bewertungen der meisten Handlungen vollkommen unstrittig. Doch für die Erforschung läßt sich dieses selbstverständliche Alltagswissen nicht voraussetzen, weil es ja selbst thematisiert werden soll – zumal nicht nur im Bereich der moralischen Handlungen, sondern durchaus auch bei Bildern strittige Problemfälle bekannt sind.
Es hängt von der jeweiligen philosophischen Position ab, ob ein Sternenbild, Spiegelbild, Schattenbild, Kalligramm, Diagramm, Abstrakte Fotografie, der Cyberspace, die Landkarte oder der Fußabdruck zur Gruppe der Bilder gerechnet wird. In der Kunsttheorie 15stellt sich dieses Problem in anderer Form: Da nicht jedes Kunstwerk ein Bild sein muß, kann man der Meinung sein, daß zum Beispiel in der Monochromen Malerei zwar Kunstwerke, aber keine Bilder geschaffen wurden. Ob ein monochromes Gemälde ein Bild sein kann, ist hoch problematisch, auch wenn man sich sicher ist, daß es ein Kunstwerk ist oder sein kann. Doch kaum jemand will den Begriff des Bildes so erweitern, daß jede monochrome Fläche ein Bild ist. Folglich muß derjenige, welcher monochrome Malereien als Bilder ansprechen möchte, erklären, warum eine monochrom bemalte Leinwand mit Kunststatus ein Bild ist, während eine genauso aussehende monochrome Fläche ohne Kunststatus kein Bild sein soll. Dies führt zu der Frage, ob für den Bildstatus einer Sache ein bestimmter Kontext entscheidend ist. Kann derselbe Gegenstand an dem einen Ort ein Bild, an dem anderen aber kein Bild sein? Wie immer man sich zu diesem Problem stellen mag, kein empirischer Befund wird bei der Begründung dieser Entscheidung helfen. Einzig die Schlüssigkeit einer Argumentation über den Sinn des Bildbegriffs entscheidet darüber, ob die genannten Objekte Bilder sind. Schier grenzenlos werden die Probleme, welche Gegenstände als Bild angesprochen werden können, wenn man sich fragt, ob die Erforschung von Bildern die Erforschung von Bildern impliziert, die überhaupt keine materielle Existenz haben, wie zum Beispiel mentale Bilder, Halluzinationen und anschauliche Vorstellungen. Zumindest ist es sowohl in philosophischen und psychologischen Studien wie auch im Alltag verbreitet, von geistigen Bildern zu sprechen. Wenn diese Rede berechtigt ist, dann muß das mentale Bild selbstverständlich zum Themenbereich der Bildwissenschaft gehören, sofern diese wirklich bereit ist, alle Formen der Bildlichkeit zu erforschen. Das gleiche Problem stellt sich bei der Erforschung sprachlicher Bilder, wie zum Beispiel das tropische Reden in Metaphern. Die diesbezüglichen Arbeiten der Literatur- und Sprachwissenschaften würden zur praktizierten Bildwissenschaft im Sinne einer Arbeit an einer Werkgruppe, wenn man bereit ist, Metaphern als Bilder zu akzeptieren, das heißt die Rede von der bildlichen Rede nicht als metaphorische Rede versteht. Kurzum: Wer über alle Bilder wissenschaftlich arbeiten möchte, wer wissen möchte, welche Erscheinungsformen das Medium der Bildlichkeit zuläßt, der kann dies nicht, ohne den Begriff des Bildes zu reflektieren, denn er muß sich entscheiden, welche der gerade genannten Fälle er mit in seine 16Untersuchungen aufnimmt. Da diese Reflexion auf den Begriff des Bildes gar nicht anders als philosophisch geschehen kann, kommt man zu dem Ergebnis, daß die Philosophie des Bildes ein Teil der Bildwissenschaft ist, oder umgekehrt, daß die Bildwissenschaft einer Philosophie des Bildes bedarf.
Nach Aristoteles lassen sich Begriffe durch den nächsthöheren Oberbegriff und ein spezifisches Unterscheidungsmerkmal bestimmen. Obwohl dieser traditionelle Gedanke vom genus proximum und der differentia spezifica nicht dem neusten Stand einer modernen Definitionstheorie entspricht, läßt er sich dennoch ausgesprochen gut verwenden, um mittels ihm innerhalb der gegenwärtigen Philosophie des Bildes die dominanten Richtungen idealtypisch zu beschreiben. Denn es ist ja keineswegs so, daß zu jedem Ding immer nur ein genus proximum gegeben sein muß; für jedes Ding lassen sich mehrere Gattungen finden. Oft ist strittig, um was für ein allgemeines Phänomen es sich bei einem konkreten Ding handelt – und genau dies scheint sich in der gegenwärtigen Bildphilosophie zu bestätigen und innerhalb dieser zu verschiedenen Richtungen zu führen. Die konkurrierenden Arten der Bildphilosophie unterscheiden sich jedenfalls nicht zuletzt dadurch, daß sie Bilder jeweils als Gegenstände verschiedener Gattungen behandeln. Man kann auch sagen: Über das genus proximum des Bildes gehen die Meinungen in der gegenwärtigen Philosophie des Bildes deutlich auseinander. Zumindest lassen sich als etablierte Richtungen ein anthropologischer, semiotischer und wahrnehmungstheoretischer Ansatz innerhalb der Bildphilosophie differenzieren, wenn man die Hauptthesen dieser Ansätze in einer ›aristotelisierenden‹ Form parallelisiert:[1]
Für den anthropologischen Ansatz sind Bilder zuerst einmal Artefakte des Menschen; die Gattung der vom Menschen hergestellten Dinge ist das genus proximum. Doch offensichtlich sind nicht alle Artefakte immer Bilder. Unter den vielen Artefakten sind Bilder besondere Dinge, denn zu ihrer Herstellung bedarf der Mensch spezifisch menschlicher Fähigkeiten, weshalb die Bildwissenschaft als 18Kunde vom Menschen verstanden und betrieben werden sollte. Der semiotische Ansatz stellt hingegen den Bildbegriff unter einen anderen Oberbegriff: Bilder sind zuerst einmal notwendigerweise Zeichen. Aber wiederum gilt, daß sie unter den vielen Zeichen eine besondere Art des Zeichens bilden, weshalb aus dieser Sicht die innersemiotische Besonderheit des Bildes das genuine Forschungsinteresse der Philosophie des Bildes sein sollte. Demgegenüber baut der wahrnehmungstheoretische Ansatz auf dem Gedanken auf, daß alle Bilder zuerst einmal sichtbare Gegenstände sind. Auch hier verlangt das notwendige Merkmal des Bildes nach einer Ergänzung durch ein hinreichendes Merkmal. Unter den vielen sichtbaren Gegenständen sind die Bilder in ihrer Sichtbarkeit von allen anderen sichtbaren Dingen unterscheidbar. Deshalb gilt es aus der Sicht des wahrnehmungstheoretischen Ansatzes, daß eine Philosophie des Bildes die Sichtbarkeit des Bildes beschreibt.
Einen paradigmatischen Eindruck von dem besonderen Anliegen und den Stärken des anthropologischen Ansatzes innerhalb der Philosophie des Bildes läßt sich durch Hans Jonas’ mittlerweile klassischen Aufsatz Die Freiheit des Bildens: Homo pictor und die differentia des Menschen von 1961 gewinnen. Jonas baut seine Argumentation auf dem Gedanken auf, daß ein Bild ein Artefakt ist, welches ausschließlich Menschen herzustellen in der Lage sind. Sollte ein Bild gefunden werden, darf mit Sicherheit davon ausgegangen werden, daß dieses von Menschen hergestellt wurde. Nun mag das Bild nicht das einzige Produkt sein, dessen Herstellung man ausschließlich Menschen zutraut; das ist aber auch nicht das Argument von Jonas. Die besondere philosophische Relevanz der menschlichen Fähigkeit zur Bildproduktion wird erst dann ersichtlich, wenn man den Blick von den konkreten Bildern weg und hin zu den prinzipiellen »Bedingungen der Möglichkeit des Bildmachens«[2] lenkt. Man kann etwas überspitzt sagen: Jonas wendet sich dem Bild nicht zu, weil er sich für Bilder irgendeiner Art interessiert, sondern weil 19er wissen möchte: »Welche Eigenschaften sind in einem Subjekte erfordert für das Machen oder Auffassen von Bildern?«[3] Doch selbst diese Frage gibt nicht das eigentliche Interesse wieder. Auch für die Eigenschaften im Subjekt, die eine Bildproduktion ermöglichen, interessiert sich der anthropologische Ansatz nach Jonas nicht etwa deshalb, weil dies die Eigenschaften sind, die eine Bildproduktion ermöglichen. Der Grund ist vielmehr, daß diese Eigenschaften mit anderen Eigenschaften identifiziert werden. Jonas spricht den subjektiven Voraussetzungen zur Ermöglichung von Bildproduktionen eine anthropologische Bedeutung zu – und genau in dieser Hinsicht ist er bis heute prototypisch für den anthropologischen Ansatz innerhalb der Bildwissenschaft: Die Bedingungen der Möglichkeit von Bildproduktion sind identisch mit den Bedingungen der Möglichkeit des bewußten, menschlichen Daseins. Man hat folgenden Argumentationsschritt: Bilder werden zuerst daraufhin untersucht, welche transzendentalen Voraussetzungen zur Nutzung des Bildmediums notwendig sind. Wenn diese an den Bildern erkannt worden sind, dann hat man hierin nichts anderes als die anthropologischen Voraussetzungen für das menschliche In-der-Welt-Sein gefunden.
Die Bedingungen der Möglichkeit zur Bildproduktion jeglicher Art sieht Jonas in der Fähigkeit des Menschen zur Vorstellungsbildung. Nur ein Subjekt mit Vorstellungen kann auch Darstellungen erzeugen; zum Herstellen eines Bildes bedarf es der Fähigkeit zur mentalen Bildlichkeit: der Einbildungskraft. Zweifelsohne handelt es sich hierbei – und dies sieht Jonas durchaus – nur um eine notwendige und keineswegs hinreichende Bedingung: »Bilder müssen schließlich hergestellt, nicht nur konzipiert werden. Ihr äußeres Dasein als Ergebnis menschlicher Tätigkeit offenbart daher auch einen physischen Aspekt der Macht, die im Bildvermögen wirksam ist: die Art Gewalt, die der Mensch über seinen Körper hat.«[4] Hier kann man Jonas nur beipflichten: Auch ein handwerkliches Können ist zur Bildproduktion notwendig: »nur so kann die Vorstellung zur Darstellung fortschreiten«.[5] Doch entscheidend bleibt die Voraussetzung, die dem handwerklichen Können vorausgehen muß und die Basis bildet, ohne die kein handwerkliches Können greifen 20könnte. Denn genau diese notwendige Voraussetzung läßt sich als die grundlegende Fähigkeit zur Abstraktion und Vorstellungsbildung interpretieren, als die Fähigkeit, sich von der eigenen wahrnehmbaren Daseinssituation eine Vorstellung bilden zu können. Sobald sich ein Bewußtsein von Welt und Dasein bildet, muß der Mensch von der Welt zurücktreten, das heißt die Welt als etwas wahrnehmen, was der Wahrnehmende selbst nicht ist: »Das Sehen bereits enthielt ein Zurücktreten von der Andringlichkeit der Umwelt und verschaffte die Freiheit distanzierten Überblickes. Ein Zurücktreten zweiter Ordnung liegt vor, wenn Erscheinung als Erscheinung ergriffen«[6] wird. Es ist gerade diese These vom Zurücktreten durch Bewußtsein, die keineswegs spezifisch für die Bildphilosophie von Hans Jonas ist, sondern sich eher wie ein roter Faden durch anthropologisch argumentierende Bildtheorien zieht, daß heißt durch Bildtheorien, die dem Bild die Rolle zusprechen, die Bedingungen des menschlichen Daseins oder gar des Bewußtseins zu zeigen – zumindest findet sich diese Grundannahme auch bei Vilém Flusser und bei Jean-Paul Sartre, und zwar in einer Weise, die sich gut mit Jonas’ Argumentation vergleichen läßt.
Ähnlich wie Hans Jonas baut auch Vilém Flusser seine Bildtheorie auf der Überzeugung auf, daß die spezifisch menschliche Tätigkeit nicht das Sprechen, sondern die Fähigkeit zur Bildproduktion ist. Man kann sogar sagen, daß in diesem Zusammenhang Flusser erstaunlich gleichlautend wie Jonas spricht: »Zuerst sei die erste bildermachende Geste betrachtet. Als Beispiel dafür kann das Bild des Ponys an der Höhlenwand von Peche-Merle dienen. Wenn man versucht, die Geste solch eines frühen Bildermachers nachzuvollziehen, dann wird man etwa das Folgende sagen: Er ist von einem Pony zurückgetreten, hat es sich angeschaut, hat dann das derart flüchtig Ersehene an der Felswand festgehalten. […] Die grundsätzliche Frage ist, wohin man vom Pony zurücktritt. Man könnte meinen, es genüge, einige Schritte zurück vom Pony zu machen und in einen etwas davon entfernteren Ort (zum Beispiel auf einen Hügel) zu treten. Wir wissen jedoch aus Erfahrung, daß diese Schilderung nicht völlig zutrifft. Um sich ein Bild vom Pony zu machen, muß man sich zugleich auch irgendwie in sich selbst zurückziehen. Dieser seltsame Un-ort, in den man dabei tritt und aus dem hinaus man sich 21Bilder macht, ist in dieser Tradition mit Namen wie ›Subjektivität‹ oder ›Existenz‹ bezeichnet worden. Etwa so: ›Einbildungskraft‹ ist die eigenartige Fähigkeit, von der gegenständlichen Welt in die eigene Subjektivität zurückzutreten.«[7] Es ist genau diese Bedeutung der Einbildungskraft (man spricht auch von Vorstellungskraft oder Imagination), welche vor Jonas und Flusser kaum jemand anderes genauer als Jean-Paul Sartre in seiner großen Studie Das Imaginäre von 1940 herausgearbeitet hat. Aus dieser Perspektive kommt dem phänomenologischen Denken Sartres eine entscheidende Vorreiterrolle für den anthropologischen Ansatz zu. Denn es ist Sartre, der die Frage, was »die Bedingungen der Möglichkeit eines Bewußtseins im allgemeinen«[8] sind, in einer Philosophie des Bildes stellt: »Die Vorstellungskraft ist keine empirische und zusätzliche Fähigkeit des Bewußtseins, sie ist das ganze Bewußtsein, insoweit es seine Freiheit realisiert; jede konkrete und reale Situation des Bewußtseins in der Welt geht mit Imaginärem schwanger, insofern sie sich immer als ein Überschreiten des Realen darbietet.«[9] Auch Sartre arbeitet ähnlich wie Jonas und Flusser mit einer Distanzierungsmetapher: »Damit ein Bewußtsein vorstellen kann, muß es sich der Welt durch sein Wesen selbst entziehen, von sich aus einen Abstand zur Welt einnehmen können.«[10] Dem »Abstand zur Welt« entspricht bei Jonas und Flusser das Zurücktreten: »das Reale also auf Distanz halten«.[11] Wer von der Welt nicht zurücktreten kann, ist für Sartre wie eine Sache »im Seienden unablösbar festgeleimt«;[12] wer dieses bildliche Zurücktreten nicht kann, kann nicht in der Weise eines Menschen in der Welt sein, sondern hat nur »Ein-Weltstück-Sein«:[13] »Wenn überhaupt ein Bewußtsein denkbar wäre, das nicht vorstellte, müßte man es verstehen als im Seienden unablösbar festgeleimt und ohne Möglichkeit, etwas anderes als das Seiende zu erfassen.«[14] Kurzum: »Es ist ebenso absurd, ein Bewußtsein zu denken, das nicht 22vorstellte, wie ein Bewußtsein, das nicht das cogito vollziehen könnte.«[15]
Die Beispiele von Jonas, Flusser und Sartre stehen zwar nicht in gleicher Weise, aber doch gleichermaßen für den zentralen Grundgedanken einer jeden anthropologischen Bildtheorie: Die bildliche Vorstellung ist nicht nur die Bedingung einer bestimmten Tätigkeit von Menschen, eben der Bildproduktion, sondern in der Fähigkeit der Bildproduktion gilt es eine Bedingung der Möglichkeit von Bewußtsein und menschlichem Dasein zu sehen. Systematisch läßt sich dieser Schlüsselgedanke auch anders formulieren: Die Rede von inneren und äußeren Bildern, von Bildern im Geiste und Bildern an der Wand ist keine Äquivokation. In inneren und äußeren Bildern ist gleichermaßen ein Bewußtsein von etwas, das nicht anwesend ist, angesprochen. Wer sich einen Film anschaut, hat als Betrachter ein Bewußtsein von einer nicht anwesenden Wirklichkeit, so wie derjenige, der sich eine Situation in der Vorstellung ausmalt. Aus diesem Grund können Bilder an der Wand für den anthropologischen Ansatz nicht von den Bildern im Geiste getrennt betrachtet werden – dies ist zumindest die Konsequenz, welche insbesondere Hans Belting zum Hauptgedanken seiner Bild-Anthropologie von 2001 erhebt: »Der Bildbegriff, wenn man ihn an seiner Wurzel packt, rechtfertigt sich letztlich nur als ein anthropologischer Begriff. Er läßt sich nicht von dem Doppelsinn trennen, den wir ihm geben, wenn wir ebenso von mentalen Bildern sprechen wie von den Artefakten der künstlerischen und technischen Bildproduktion. Die Interaktion zwischen Imagination und Bild-Technologie ist daher von Hause aus ein anthropologisches Thema.«[16] Damit hat Belting in der Tat eine weitere spezifische These für den anthropologischen Ansatz entfaltet: Er zeigt in sehr überzeugender Weise, daß sich der anthropologische Standpunkt programmatisch gegen eine Unterscheidung der Gruppe von Bildern in »die mentalen und die physischen Bilder«[17] wenden muß. Dieser »Dualismus«[18] von zwei grundlegenden Bildarten sei nur eine künstliche Konstruktion, die sich im Umgang mit Bildern nicht aufrecht halten läßt, da beide Formen der 23Bildlichkeit »vieldeutig aufeinander bezogen«[19] sind. Womit Belting meint: Keine Betrachtung eines äußeren Bildes kommt ohne die Mitwirkung von »Erinnerung und Vorstellung«[20] aus. Doch Belting geht noch weiter: In seiner Auslegung dieses Gedankens tritt er dafür ein, daß der eigentliche »Ort der Bilder« keineswegs – wie man vielleicht meinen könnte – das Museum, die Wand oder das Kino, sondern einzig und allein eben »der Mensch«[21] sei. Aus keinem anderen Grund gilt es, die Wissenschaft, welche sich bisher mit Bildern befaßt hat, nämlich die Kunstgeschichte, durch Anthropologie abzulösen. Das Bild wird weder erforscht, weil es ein Kunstwerk ist, noch weil es ein Bild ist, sondern weil es hilft, Fragen zu beantworten, die eigentlich in eine ganz andere Wissenschaft gehören, nämlich in die Anthropologie: »Die Anthropologie beerbt damit die Enquete jener Kunstgeschichte, die das 19. Jahrhundert im Gefühl eines Verlusts geschichtlicher und künstlerischer Kontinuität erfunden hatte.«[22]
Der anthropologische Ansatz in der Philosophie des Bildes, der derzeit durch Belting seine profilierteste Ausgestaltung erhält, ist nicht unkritisiert geblieben. Zweifelsohne will – nach Sartre – kaum jemand an der These der gegenseitigen Abhängigkeit der mentalen und materiellen Bilder zweifeln. Wer will ernsthaft behaupten, daß bei der Betrachtung und Produktion von Bildern die Imagination des Betrachters und das Bild als physisches Objekt nicht »vieldeutig aufeinander bezogen« sind? Doch die Frage ist, welche Perspektive sich aus diesem Umstand für eine allgemeine Bildwissenschaft ergibt. Wie kann man die anthropologische Bedeutung des Bildes bildwissenschaftlich nutzen? Es ist insbesondere Beltings Schlußfolgerung, daß die Bildwissenschaft aus diesem Grund nur als Anthropologie betrieben werden kann, deren Schlüssigkeit noch einer Begründung bedarf. Zumindest hat Tilman Reitz in dem Aufsatz Der Mensch im Bild. Konservative Alternativen zur Kunstgeschichte von 2003 zu bedenken gegeben, wie sich aus dem grundsätzlich verständlichen Anliegen des anthropologischen Ansatzes ein ausgesprochen undifferenzierter Bildbegriff geradezu entwickeln muß – nämlich ein Bildbegriff, der vor lauter Analogien die Differenzen 24[23][24]