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Über Prostituierte glaubt jeder Bescheid zu wissen: Huren verkaufen ihre Seele. Die meisten werden zum »Anschaffen« gezwungen. Mafiose Strukturen bestimmen das Geschäft.

Mit solchen und anderen Klischees räumt die Sexarbeiterin Undine de Rivière auf. Sie gibt einen unerwartet differenzierten Einblick in die Welt zwischen BDSM-Studio, Laufhaus und Gangbang-Party und lässt Kolleginnen, Freier, Betreiber und Experten zu Wort kommen – offen und ehrlich. Ein Insiderbericht, wie es hinter den Kulissen eines Wirtschaftszweigs zugeht, über den meist nur Halbwissen und Pauschalurteile verbreitet werden – ein starker Appell für die Entkriminalisierung einer umstrittenen Berufsgruppe.

»Die meisten Kolleginnen, die ich kennengelernt habe, sind selbstbewusste Frauen, die sehr genau wissen, was sie wollen.«

Undine de Rivière

Undine de Rivière

MEIN
HUREN-MANIFEST

Inside Sex-Business

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Originalausgabe 06/2018

Copyright © 2018 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,
unter Verwendung eines Fotos von © Philipp Oelwein

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-21794-5
V001

www.heyne.de

Inhalt

»Da muss man doch was tun!«

Die Geschichte der U.

»Sie arbeiten also als Domina?«

»Aber warum machen Sie das denn bloß?«

(K)ein Job wie jeder andere – mein Alltag als Sexarbeiterin

Die Reaktionen der anderen

Huren-Politik

Medienrummel – durchaus erwünscht

Wer Erfolg hat, macht sich Feinde

Zuhälterei, Zwangsprostitution, Menschenhandel?

Raus aus der kriminellen Ecke

Entkriminalisierung

Legalisierung heißt nicht »Legalize it«

Sexarbeit ist Arbeit

Neuseeland als gutes Beispiel?

Schluss mit der Diskriminierung

Puff, Studio oder Strich? Wo man uns findet

Der Tod der Peepshow

Voll die Orgie – Reizthema Gangbang-Partys

Undercover im Billigpuff

Große Vielfalt – die Kunden

»Gern bereit, für Können zu bezahlen« – der professionelle Kunde

»Ich will schon mehr sein als nur ein Gast!« – der emotionale Kunde

Dein Freier, das unbekannte Wesen

Nein heißt Nein

Maicon: »Ich buchte die klassische Zwanzig-Minuten-Nummer.«

Manuel: »Knutschen, Blasen, Ficken, Quatschen.«

Markus: »Mein jährliches Paysex-Budget liegt bei dreitausend bis viertausend Euro.«

Andrea: »Ich hatte devote Fantasien.«

Täter-Opfer-Klischees – was sagen die Freier?

Die Kolleginnen

Hannah: »Ohne meine Arbeit wäre mein Leben viel ärmer und grauer.«

Marleen: »Grenzen sind individuell.«

Juliana: »Ich wollte meinem Kind eine gute Zukunft ermöglichen.«

Cornelia: »Für mich gibt es keinen Boss und keine Zuhälter mehr.«

Ina: »Ich habe das Recht, selbst über mein Leben zu entscheiden.«

Mavis: »Für meine Eltern war es ein Schock.«

Keine Lust auf Puffmutter

Lara und Klaus: »Und dann begann der Ärger.«

Die Rechtslage in Deutschland

Sondergesetze

Neue Gesetzesvorhaben

Es geht noch schlimmer – das »Prostituiertenschutzgesetz«

Zwangsregistrierung und Hurenausweise

Gesundheitliche Pflichtberatung und Kondomzwang

Erlaubnispflicht für »Prostitutionsgewerbe«

Übernachtungsverbot

Verbot von Flatrate-Bordellen und Gangbang-Partys

Freierbestrafung bei »Zwangsprostitution«

Ein klarer Fall für die Rundablage

Eine echte Alternative? Sexarbeit als Ausbildungsberuf

Als »Jungdomina« im SM-Studio

Deep Throat und Emotionsarbeit: Sexworker-Kompetenzen

Aus- und Weiterbildung für Profis

Huren und Feminismus

Alice Schwarzer und die EMMA – ein deutscher Skandal

Weibliche Sexworker und männliche Kunden

Sexarbeit als Teil der »Männerwelt«

Das leidige Thema »Zwangsprostitution«

Sexarbeit und Kapitalismus

Pro Sexwork und Feministin – kein Widerspruch

Fragt uns doch mal! Forschung zum Thema Sexarbeit

Ziele, Wünsche und Fallstricke

Alle Fragen offen?

Christiane Howe – der Empowerment-Ansatz

Ausblick …

Nachwort

Anhang

Danke

Anmerkungen

Hilfreiche Adressen

Die wichtigsten Gesetze – und wo man sie findet

Glossar

»Da muss man doch was tun!«

»Ich sehe kein grundsätzliches Problem in Flatrate-Clubs, ich habe auch selbst schon bei Gangbang-Partys mitgemacht.«

»Gäng … was?«

»Gangbang.«

»Gang … bang?«

»Genau, Gangbang!«

»Gang … Bang …«

Ich trinke Tee mit einer distinguierten, gebildeten Dame Mitte sechzig in einem opulent eingerichteten Café an der Hamburger Binnenalster. Gerade machen wir Sprachübungen zu Sexarbeits-Fachvokabular. Mein Gegenüber setzt sich seit vielen Jahren weltweit gegen Menschenrechtsverletzungen ein und hat dafür viele Auszeichnungen bekommen. Und die Dame fordert nun in diesem Sinne: »Prostitution abschaffen!«

Gangbang ist Gruppensex mit mehr Männern als Frauen. Solche Orgien werden sowohl von Privatleuten organisiert – häufig in Swingerclubs – als auch in Bordellen oder Hotelsuiten von Sexarbeiter_innen für zahlende Kunden angeboten. Um Letzteres geht es hier.

Manchmal frage ich mich, ob es nicht ein bisschen demütigend ist für die Jungs, in einer Schlange zu stehen, und mit dem eigenen Gemächt in der Hand zu warten, bis sie dran sind, während ich mich in einer bequemen Liebesschaukel rekle und lasziv den nächsten heranwinke. Aber die Männer, die solche Veranstaltungen besuchen, erregt bereits die Atmosphäre, das Zuschauen vor dem eigenen Akt. Das ist ihr Vorspiel. Verweildauer in mir bis zum Orgasmus: meist zwei bis fünf Minuten. Erst in der Summe komme auch ich manchmal auf meine Kosten – zum Glück ist Vergnügen bei der Arbeit nicht verboten. Wer es gar nicht abwarten kann, darf rechts oder links neben mich treten und bekommt eine Handentspannung. Ich bin da multitaskingfähig. Wer mich bedrängt, Dinge fordert, die ich nicht will, oder unfreundlich ist, wird von seinen Geschlechtsgenossen zurechtgewiesen, meist lange bevor ich überdeutlich werden muss oder einer der anwesenden Veranstalter einschreitet. Es herrscht eine gewisse Sozialkontrolle auf solchen Partys – schlechte Laune verdirbt schließlich allen den Spaß.

Wenn’s mir reicht, vielleicht nach fünf oder zehn Mal Verkehr, mache ich eine Pause, gehe duschen, trinke eine Cola und unterhalte mich ein bisschen. Dann geht es wieder ab auf die Spielwiese. Das Ganze ist eine Form des Flatrate-Sex: Die Euros fließen pauschal für die Anwesenheitszeit, sowohl von den Besuchern an den Veranstalter als auch vom Veranstalter an mich. Soll mir recht sein, ich verliere im Flow sowieso den Überblick und zähle nicht allzu genau mit.

Für jemanden, der kein Problem mit schnellem Sex mit wildfremden Menschen hat, bedeutet so ein Nachmittag angenehm verdientes Geld. Für jemanden, der dem Geschlechtsverkehr eine deutlich größere Bedeutung zuschreibt als einer Rückenmassage oder der die eigenen emotionalen Grenzen nicht wahren kann, muss es der Horror sein.

Ich bin mir nicht sicher, ob meine Gesprächspartnerin im Café an der Alster das alles so genau wissen will, und es liegt mir fern, ihr Schamgefühl zu verletzen. Aber eigentlich sollte sie es wissen wollen – schließlich behauptet sie, sich für die Belange von Prostituierten einzusetzen. Und die sind heutzutage angeblich alle ganz anders drauf als ich, werden entweder von Menschenhändlern verkauft und zum bezahlten Missbrauch freigegeben, oder sie lassen sich täglich vergewaltigen, auf Druck ihrer Familien, oder um nicht zu verhungern. Ich bin die Ausnahme, um die es in der ganzen Diskussion gar nicht geht. Sollen wir paar selbstbestimmte deutsche Huren doch machen, was wir wollen – aber die vielen armen jungen Mädchen aus Osteuropa … Das darf man doch nicht verharmlosen! Da muss man doch was tun!

Ja, da muss man was tun. Wenn ich einer Kollegin gegenübersitze, die sich in ihrer Situation gefangen fühlt, die nicht Nein sagen kann, weder zu ihrer Familie, die sie als Geldautomaten versteht, noch zu übergriffigen Kunden, die möglichst viel für ihre dreißig Euro herausschlagen wollen, dann blutet mir das Herz. Und ich würde mir auch Sorgen um meine emotionale Gesundheit machen, ließe mich das kalt. Ich spreche mit ihr über mögliche Alternativen innerhalb der Sexarbeit, über andere Arbeitsorte mit angenehmerem Publikum, über Techniken zur Abgrenzung und Gesprächsführung, über Professionalisierung, Spezialisierung, Stammkundenbindung. Manchmal halte ich eine Frau auch für völlig ungeeignet, irgendeinen Job zu machen, in dem sie unmittelbar drängenden Emotionen und Bedürfnissen ihrer Klient_innen ausgesetzt ist. Sie würde auch als Altenpflegerin, Krankenschwester oder im Callcenter einer Beschwerdestelle kaputtgehen. Und wer Sex für etwas Heiliges hält, das nur in einer Beziehung oder zum Kindermachen vollzogen werden soll, der wird in der Sexarbeit sicher nicht glücklich werden.

Ich wünsche mir, dass diese Menschen Alternativen in anderen Berufen finden, und vermittle Kontakte zu Fachberatungsstellen, die individuelle Umstiegsangebote erarbeiten können.

Nur eins will ich ganz sicher nicht: Diesen Leuten die Sexarbeit verbieten. Wenn ich jemanden zwangszuretten versuche, ihn nicht mehr als handelndes Subjekt wahrnehme, sondern ihn vor seinen eigenen Entscheidungen schützen will, bin ich nicht besser als all die anderen, die Druck auf ihn ausüben. Keine aktiv tätige Kollegin und kein aktiv tätiger Kollege, egal wie schlecht es ihnen geht, hat je zu mir gesagt: »Kriminalisiert mich, kriminalisiert meine Kunden, und bitte macht doch noch ein paar Polizeirazzien mehr, dann geht’s mir bestimmt bald besser!« Kriminalisierung und Arbeitsverbote, egal ob sie als »Schutz« daherkommen oder nicht, sind keine bloßen Unannehmlichkeiten, sondern führen zu knallharten Geld- oder Haftstrafen für die Betroffenen. Die wenigen Sexworker, die selbst eine strengere, diskriminierende Regulierung der Branche fordern, tun das meist aus der Überlegung heraus, dass es der Konkurrenz hoffentlich mehr schaden würde als ihnen selbst.

Auch außerhalb der Branche unterstelle ich in der seit vielen Jahren geführten Debatte um die »Eindämmung« oder »Abschaffung« der Sexarbeit einer nicht unerheblichen Zahl von Agitator_innen, dass sie ihre persönlichen, moralischen oder ideologischen Befindlichkeiten unter dem Deckmantel der Betroffenheit durchsetzen wollen. Während noch in weiten Teilen des zwanzigsten Jahrhunderts die Gesellschaft ganz offen vor unserer normabweichenden und Angst machenden Unsittlichkeit geschützt werden musste, hat sich der Zeitgeist zumindest hierzulande glücklicherweise gewandelt: Dass die Freiheit eines Menschen erst dort beschnitten werden darf, wo sie einen anderen greifbar beeinträchtigt, gilt inzwischen auch weitgehend für Minderheiten, und das Strafrecht wird in Deutschland zumindest nicht mehr allzu offen zur Regulierung der Moral eingesetzt. Daher wurde die Argumentation der Prostitutionsgegner_innen subtiler: Statt gefährlich geisteskrank sind wir nun nur noch naiv und manipuliert, statt die Gesellschaft vor uns zu schützen, müssen nun wir selbst geschützt werden. Das aber gern mit denselben Methoden wie damals: Sondergesetze im Strafrecht, möglichst umfassende polizeiliche Kontrolle, Kasernierung in staatlich überwachten Bordellen … Und vor allem sollen die gemeinen Bürger mittels Sperrbezirken, Straßenstrich- und Werbeverboten am besten gar nicht mit unserer Existenz konfrontiert werden.

Aus vielen Gesprächen weiß ich aber auch, dass es gar nicht so wenige Menschen gibt, die es im Grunde wirklich gut mit uns meinen. Die mit Bildern von weinenden jungen Mädchen konfrontiert werden und glauben, wenn ihnen erzählt wird, dass eine Sexarbeiterin so und nicht anders aussieht. Die glauben, dass Zwang, Gewalt und Not zum »System Prostitution« dazugehören und dass der »Verkauf des Körpers« untrennbar mit einer Verletzung der Seele einhergeht. Diese Leute sind dann ganz überrascht, wenn vor der Tür von Veranstaltungen der »Rettungsindustrie« echte, lebende Huren mit Flyern und Transparenten demonstrieren und sich die Bevormundung verbitten, die drinnen als Heilmittel zelebriert wird. »Aber wir wollen euch doch nur helfen … wie jetzt, das wollt ihr gar nicht?«

Wem die Belange von Sexarbeiter_innen wirklich am Herzen liegen, der muss über blinden »Da muss man doch was tun!«-Aktionismus hinauskommen, hinschauen und zuhören. Und zwar auch Menschen wie mir, den angeblich so seltenen »privilegierten Ausnahmen«, die ihren Job professionell und mit gegenseitigem Respekt von und für ihre Kunden ausüben, manchmal seit vielen Jahren.

Wer unser Erleben und die Vielfalt unserer Erfahrungen als irrelevant vom Tisch wischt, verpasst die Chance, wahrzunehmen, wie die Herausforderungen der Branche erfolgreich gelöst werden können. Wir widerlegen die bequeme These, dass Sex gegen Geld an sich das Problem sei. Erst dann kann die kollektive Empörung über das Schicksal der Betroffenen von Gewalt und Armut (die es ja durchaus gibt!) in Strategien fließen, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen aller Sexarbeiter_innen wirklich zu verbessern. Das wäre allemal sinnvoller als eine weitere Zementierung der gesellschaftlichen Diskriminierung und Stigmatisierung.