Nr. 2838
Leticrons Säule
Das Rätsel der dys-chronen Drift – ein ungewöhnliches Team auf dem Archivplaneten
Leo Lukas
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.
Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.
Womit selbst das Tribunal nicht rechnen konnte, ist ein Zeitriss, der Jahrmillionen entfernte Zeiträume der Milchstraße zusammenführt – und eine Pervertierung der Zeit selbst, eine schleichende systemische Veränderung. Die Ordischen Stelen bemerken es als Erste und bitten die Kaiserin von Olymp um Hilfe. Diese sucht Hinweise bei LETICRONS SÄULE ...
Aichatou Zakara – Die Zeitforscherin sieht Theorien in der Praxis.
Eluontarar Gabink – Die Galkidin macht Geschenke und wird selbst reich belohnt.
Indrè Capablanca-Argyris – Die Kaiserin von Olymp ist im Auftrag der Ordischen Stelen unterwegs.
Lordadmiral Monkey – Der Lordadmiral der USO macht sich verdächtig.
Niemandgram Toposhyn – Der Hofnarr von Olymp kann Monkey nicht ausstehen.
»Wenn, wovon wir ausgehen, die Vergangenheit die Zukunft bestimmt – warum sollte dies nicht auch umgekehrt möglich sein?
Alles im Kosmos beruht auf Wechselwirkung. Jeder Mensch übt eine Anziehungskraft auf den Planeten aus, auf dem er steht, und sei sie noch so gering. Das kleinste Blatt beeinflusst den Wind, der es vor sich hertreibt.
Also, wieso sollte, was für den Raum gilt, nicht ebenso für die Zeit gelten?
Denkt darüber nach, meine Damen und Herren! Aber nicht zu intensiv, sonst bekommt ihr Kopfweh.«
Geoffrey Abel Waringer, Einführungsvorlesung zur Theoretischen Hyperphysik, ca. 412 NGZ
Prolog
Die Ruhe vor dem Sturm
Diese Welt wird immer verrückter.
Nicht, dass sie jemals eine Welt wie jede andere gewesen wäre. Falls irgendwo das Bild von der »erdrückenden Last der Geschichte« zutrifft, dann auf diesem Planeten.
Bösere Zungen als deine nennen Kaldik auch den »Müllhaufen der Milchstraße«. Offiziell verwahrst du dich gegen die abwertende Bezeichnung. Insgeheim musst du zugeben, dass etwas dran ist.
Nur im übertragenen Sinn, versteht sich: Über zu viel Abfall oder Unordnung in den öffentlichen Bereichen darf nun wirklich niemand klagen.
Eine höhere, allgemein leistbare Lebensqualität wird man im weiteren Umkreis kaum finden. Das gilt auch für exterritoriale Enklaven wie die kleine Kolonie deines Volkes.
Sonst hättest du dich wohl nicht ausgerechnet auf Kaldik zur Ruhe gesetzt, nach fast siebzig Dienstjahren in der »Sicherheitsbranche«. Sieben Jahrzehnte, in denen du eher selten Däumchen gedreht und oft genug Kopf und Nacken für deine jeweiligen Auftraggeber, meist Mehandor-Patriarchen, riskiert hast.
Wer würde dir verübeln, dass du es im letzten Lebensdrittel gemütlicher haben willst? Dass du die paar guten Jahre, die dir bleiben, ehe der körperliche und geistige Verfall einsetzt, abseits vom Getümmel verbringen willst?
Du hast mit Bedacht gewählt.
Eine Region, die deines Wissens nie zu den heiß umkämpften Brennpunkten der Galaxis gehört hat. Ein relativ spärlich besiedelter Raumsektor, obwohl verschont von Hypersturm-Riffen oder sonstigen kosmischen Widrigkeiten.
Langweilig?
Ja, langweilig wäre diese Gegend und das System der roten Sonne Peyphrad sowieso.
Gäbe es da nicht mit Kaldik die größte, älteste, historische Schrotthalde der bekannten Milchstraße ...
*
Jeder, der sich als Söldner verdingt, entwickelt irgendwann ein Lieblingsfreizeitvergnügen.
Man braucht einen Ausgleich zur permanenten Paranoia und häufigen Todesangst, zum unaufhörlichen, in Fleisch und Blut übergegangenen Drill. Und zwar völlig egal, ob man die Befehle ausführt oder selber brüllt.
Für dich war das die Beschäftigung mit der ruhmreichen Geschichte deines Volkes. Wann immer sich die Gelegenheit bot, triebst du dich auf Sammlermärkten herum, um Trophäen zu ergattern.
Billige Souvenirs ... Oder echte, viele Hundert Jahre alte Artefakte.
Mehr als einmal bist du auf Fälschungen hereingefallen. Aber davon hast du dich nicht beirren lassen. Aus jedem Fehler kann man lernen.
Dazulernen – ja, das wolltest du. Und willst es immer noch.
Über dein vererbtes Handwerk hinaus. Dass du sämtliche schmutzigen Tricks deines Gewerbes beherrschst, hat dich längst nicht mehr befriedigt.
Du wolltest mehr. Mehr wissen. Mehr ... sehen, erfahren, quasi mit eigenen Händen berühren.
Insofern führte letztlich kein Weg an Kaldik vorbei. Denn dieser Planet beherbergt ein ganz besonderes Vermächtnis.
Leticrons Säule.
*
Sie zu bewachen, hast du dir als Altersaufgabe erkoren.
Kritiker könnten einwerfen: wie originell! Nachdem du die meiste Zeit deines Lebens damit vergeudet hast, riesige Handelskarawanen oder möglichst unauffällige Geheimtransporte zu beschützen, riegelst du nun als Rentner ein Denkmal gegen fremde Störenfriede ab?
Sie haben recht. Aber auch wieder nicht.
Die geheimnisvolle Hinterlassenschaft des Volkshelden durch einen Sicherheitskordon abzuschotten, der nach allen Regeln der Kunst undurchdringlich ist, war das Werk weniger Wochen. Gelernt ist nun mal gelernt.
Klar, nach wie vor investierst du fast täglich einige Stunden, um die diversen Vorkehrungen auf ihre ungebrochene Tauglichkeit zu überprüfen. Sowie, wichtiger noch, um deine Mitstreiter anzuspornen, in ihrer Aufmerksamkeit nicht nachzulassen.
Mit der übrigen Zeit weißt du gleichwohl etwas Besseres anzufangen. Du forschst; mal aufs Geratewohl, mal ganz gezielt. Triffst dich mit Gleichgesinnten, welcher Abstammung auch immer.
Zu behaupten, die gesamte Bevölkerung des Planeten bestünde aus Hobbyhistorikern, wäre übertrieben. Eine derartige Monokultur existiert nirgends.
Auch auf Ara-Welten, zum Beispiel, üben ja längst nicht alle Bewohner eine medizinische Profession aus. Aber ... viele.
Ähnlich verhält es sich mit der bunten, multikulturellen Gesellschaft von Kaldik. Gar nicht wenige Leute gehen Berufen oder Neigungen nach, die nicht einmal am Rande mit Geschichtswissenschaft zu tun haben. Allerdings sind sie in der Minderheit.
Weder du noch sonst jemand könnte exakt sagen, wie viele Museen, Archive, Antiquariate und so weiter es auf dem zweiten Planeten der roten Sonne Peyphrad gibt. Jedenfalls ist die Zahl mindestens siebenstellig.
Einige Institute werden von offiziellen Vertretern diverser galaktischer Völker verwaltet. Die allermeisten Sammlungen aber betreiben Privatpersonen.
Zwischen ihnen herrscht reger Austausch, überwiegend kollegialer Natur. Freilich kommt es ab und an vor, dass Spezialisten desselben Fachgebiets zu unlauteren Mitteln greifen, um an ein besonders begehrtes Objekt zu gelangen.
Richtig knifflige Situationen entstehen manchmal, wenn bekannt wird, dass ein prominenter Sammler nicht mehr lange zu leben habe. Dann umkreisen die schärfsten Konkurrenten seinen Besitz wie die sprichwörtlichen Aasgeier.
Sie versuchen, sich an potenzielle Erben heranzumachen und sich bei ihnen einzuschmeicheln. Während der Erblasser noch in den letzten Zügen liegt, bieten sie bereits an, das von ihm über Jahrzehnte angehäufte, »unbrauchbare Gerümpel« vollkommen gratis zu entsorgen.
Aus reiner Pietät, natürlich ...
Dich tangiert das kaum. Zum Glück hast du mit solchen Leichenfledderern nicht viel zu schaffen. Aber ihre Tätigkeit trägt dazu bei, dass es nahezu unmöglich ist, mehr als einen groben Überblick zu bewahren.
Die Einzigen, die ein umfassendes, vollständiges Verzeichnis des weit verzweigten, insgesamt gigantischen, keineswegs einheitlichen Datendepots von Kaldik erstellen und auf aktuellem Stand halten könnten, sind die Galkiden. Schließlich gehört das Peyphradsystem zu deren Einflusssphäre.
Leider. Galkiden und Erinnerungskultur – das passt in etwa so gut zusammen, wie wenn Ertruser eine Kette vegetarischer Restaurants betrieben.
*
Trotzdem hast du noch nie bereut, nach Kaldik übersiedelt zu sein.
Das raue Klima sagt dir zu. Auch die ebenso ungeschliffenen wie herzlichen Umgangsformen an den meisten interkulturellen Treffpunkten gefallen dir. Du warst nie ein Freund übertrieben »diplomatischer« Feinsinnigkeiten.
Der allgemeine Hang zu leicht chaotischen Zuständen stört dich nicht, trotz deines militärischen Hintergrunds. Wird es dir zu viel, ziehst du dich einfach für eine längere Weile in eure Kolonie zurück, wo Zucht und Ordnung regieren.
Auch außerhalb der Kolonie erweist man dir Respekt. Einesteils, weil sich niemand, der halbwegs bei Verstand ist, mit dem hiesigen Oberhaupt der Überschweren anlegt. Andernteils, weil du dir im Lauf der Zeit einen guten Ruf als Historiker erarbeitet hast.
Du giltst als führender Experte für alles, was mit der Geschichte deines Volkes zusammenhängt. Und das ist nicht wenig – schließlich war Leticron, der große Pariczaner, während der Herrschaft des Konzils der Sieben Erster Hetran der Milchstraße.
Trauerst du dieser glorreichen Epoche nach? Ja und nein.
Selbstverständlich erfüllt dich Stolz darauf, dass die gesamte Galaxis 121 Standardjahre lang vom Corun of Paricza regiert wurde. Mit stahlharter Hand – Historiker anderer Völker sprechen deshalb von »Leticrons Schreckensherrschaft«.
Das ist wohl übertrieben und tendenziös, wie jede Geschichtsschreibung. Nachdem Terraner und Arkoniden wieder an die Macht gekommen waren, taten sie ihr Möglichstes, Leticron zum gnadenlosen, in der Spätphase halb wahnsinnigen Tyrannen zu verzerren.
Oh, du bist überzeugt, dass manche Anschuldigungen sogar auf Tatsachen beruhen. Man wird weder Corun noch Erster Hetran, wenn man sich von allzu vielen Skrupeln beirren lässt.
Daher zweifelst du ebenfalls an der Zuverlässigkeit der eigenen Quellen. Sie neigen merklich zum Beschönigen und dazu, alle Schuld an negativen Entwicklungen dem Laren Hotrenor-Taak oder anderen Vertretern der Konzilsvölker zuzuschieben.
Soll man Leticron also aus der Distanz der gut eineinhalb Jahrtausende verdammen oder ihn zum missverstandenen Wohltäter hochstilisieren? Oder liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen?
Genau diese Frage fasziniert dich. Sie spornt dich zu deinen Nachforschungen an. Ihretwegen bist du auf Kaldik – und vor allem wegen Leticrons Säule.
Von dem eigenartigen Artefakt hattest du entscheidende Antworten erwartet. Jedoch wurdest du bisher enttäuscht.
Denn die Säule schweigt. Sie behält ihre Geheimnisse für sich, spricht nicht zu dir, so wenig wie zu jedem anderen.
So trägst du eben stattdessen, geduldig und mit Freude an Sorgfalt und Gründlichkeit, an Details zusammen, was dir in die Finger fällt. Mosaiksteinchen, die du gerade in den Überlieferungen der vielen »kleinen«, relativ unbedeutenden Völker findest, deren Hinterlassenschaften auf Kaldik gehortet werden.
Alles in allem bist du recht zufrieden. Du leidest keinen Mangel, kannst deine Bedürfnisse, auch die etwas, nun ja: spezielleren, problemlos befriedigen. Mehr hättest du dir für deinen »Unruhestand« gar nicht erhofft.
Lebst du also glücklich und leichtherzig? Eigentlich schon.
*
Wären da nicht gewisse Phänomene, die sich in letzter Zeit zu verstärken scheinen ...
Diese Welt, dein Alterssitz, wird nämlich immer verrückter. Und das ist nicht im übertragenen Sinn gemeint. Nein, du bist ernstlich besorgt.
Etwas drängt sich in die Realität und versucht sie zu beeinflussen, zu verschieben. Noch sind die Anzeichen spärlich und, jeweils für sich genommen, keineswegs bedrohlich.
Aber du spürst, mit dem Sinn des erfahrenen, durch manches Strahlengewitter gegangenen Soldaten, dass es dabei nicht bleiben wird. Deine zahlreichen Narben jucken wie lange nicht mehr.
Es ist die Ruhe vor einem Sturm, dessen bist du dir fast sicher. Gefahren kommen auf dich und diesen Planeten zu: Veränderungen, die überaus bedenkliche Ausmaße annehmen könnten.
Da du keine Ahnung hast, welcher Natur sie sein werden, und dich also nicht darauf vorbereiten kannst, lenkst du dich ab. Auf die oft erprobte, traditionelle Weise.
Du gehst dich prügeln.
Fronten zwischen Freunden
Ein Ruck ging durch den Raum.
Es war beinahe, als hätten sich die Schwerkraftverhältnisse plötzlich gewandelt. Als bildete sich um den Neuankömmling, sobald er das Besprechungszimmer betreten hatte, eine Art Gravitationssenke.
Aichatou Zakara versuchte, nicht hinzustarren. Aber es fiel ihr schwer, den Blick abzuwenden. Sie bemerkte, dass sie den Atem angehalten hatte und ihr Mund halb offen stand.
Besonders intelligent sah sie momentan wohl nicht gerade aus.
Der hünenhafte, etwa zwei Meter große, extrem breitschultrige Mann trug einen Kampfanzug. Den Helm hatte er weggeklappt. Sein massiger, olivfarbener Schädel war bis auf die schwarzen Augenbrauen haarlos.
Aus den Augenhöhlen ragten anthrazitfarbene, an klobige, mechanische Kamera-Objektive erinnernde Implantate. Aichatou vermeinte, sie leise klicken zu hören; vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein.
Der Gesichtsausdruck des Mannes war ... neutral, irgendwie puppenhaft. Unmöglich zu interpretieren. Sowohl Brutalität als auch Zärtlichkeit schimmerten durch, und noch ein halbes Dutzend anderer Emotionen.
Oder gar keine, dachte Aichatou. Hat so jemand überhaupt Gefühle?
Gleich darauf schämte sie sich für den Gedanken. Sie wusste wie alle anderen im Raum, mit wem sie es zu tun hatten – und dass er kein Cyborg war, sondern ein Mensch, genau genommen ein Umweltangepasster vom Planeten Oxtorne.
Jemand räusperte sich: Telo Buurnam, der Chef der Bordsicherheit, ein gebürtiger Plophoser. Er war zusammen mit dem Hünen durch das Schleusenschott getreten und wirkte neben diesem klein und schmächtig, wie ein Halbwüchsiger. »H-hm. Lordadmiral Monkey«, stellte er überflüssigerweise vor.
»Ich danke dir, dass du mich im Beiboothangar abgeholt und hierher geleitet hast, Oberleutnant Buurnam.« Die Stimme klang verhalten und doch voll und war ebenso schwer zu deuten wie die Mimik.
Schwang Hochachtung für den Offizier mit, fragte sich Aichatou, oder unpersönliche Verbindlichkeit – oder etwa leiser Spott? Bestimmt hätte der USO-Chef den Weg von der Peripherie des Kugelraumers bis zum Konferenzzimmer neben der Zentrale auch allein gefunden. Er hielt sich gewiss nicht zum ersten Mal an Bord eines Schweren Kampfkreuzers der 350-Meter-PLUTO-Klasse auf.
»Ein Gebot der Höflichkeit.« Argyrisa Indrè Capablanca erhob sich und deutete eine Verneigung an. »Sei gegrüßt, Lordadmiral, und willkommen an meinem Tisch. Nimm bei uns Platz!«
Nachdem Monkey den Gruß erwidert hatte, sagte er in neutralem Tonfall: »Ich bleibe lieber stehen.«
»Falls du unseren Stühlen misstrauen solltest«, sagte Vincent Lovelace, der Kommandant der ONTIOCH ANAHEIM, »kann ich dich beruhigen. Sie halten dein Gewicht aus.«
Oxtorner waren wegen ihrer Kompaktkonstitution viel schwerer als Normalterraner. Im Schnitt wogen sie rund 700 Kilogramm.
»Das bezweifle ich nicht. Du bist der Schiffskommandant?«
Lovelace, den die Rangabzeichen der Bordkombi als Oberst auswiesen, bejahte und nannte seinen Namen. Dann strich er sich langsam über den weißen Backenbart, nahm die etwas altmodisch anmutete Multifunktionsbrille ab und legte sie vor sich auf die Tischplatte. Er blinzelte. »Was führt dich zu uns?«
»Dazu komme ich gleich. – Stört es euch etwa, wenn ich stehe?«
»Nein«, sagte die Argyrisa. »Tu, wie dir beliebt.«
»Mit dem SERUN zu sitzen, erschiene mir unpassend. Ich möchte den Anzug jedoch anbehalten, bis wir uns einig geworden sind.«
Aichatou bekam eine Gänsehaut. Spätestens in diesen Sekunden verstand sie, warum Monkey der Ruf vorauseilte, nicht unbedingt der angenehmste Zeitgenosse zu sein.
Es lag weder daran, was er sagte, noch wie. Tonfall und Körperhaltung erweckten vordergründig keinen angespannten oder aggressiven Eindruck.
Dieser Mann ruhte in sich und war sichtlich bemüht, die Distanz zu wahren. Und doch drängte sich Aichatou der Vergleich mit einer Bombe auf, die jederzeit hochgehen konnte.
Das ist er: eine gesicherte, vielmehr noch nicht entsicherte, absolut tödliche Waffe.
*
Aichatou Zakara fragte sich, ob ihre Einschätzung durch Vorurteile getrübt wurde.
Ein Grundwissen über die Vergangenheit und Charakteristika der wenigen Zellaktivatorträger gehörte zur Allgemeinbildung. Von Monkey war daher bekannt, dass sein Name kein Pseudonym war.
Vielmehr hatte seinen Eltern schlicht der Klang des Wortes gefallen. Was die Vokabel in einer altterranischen Sprache bedeutete, hatte er erst viel später erfahren und sich damit abgefunden.
Weitere Informationen über seine Familie, Kindheit und Jugend lagen Aichatou nicht vor. Aber wie jedermann, der die Geschichte der Liga Freier Terraner und ihrer Assoziierten studiert hatte, wusste sie, dass Monkey in der berüchtigten »Abteilung Null« des Terranischen Liga-Dienstes zum Killer ausgebildet worden war.
Noch bevor er als solcher zum Einsatz gekommen wäre, erlitt er einen schweren Unfall, bei dem er beide Augen verlor. Diese durch biologisch gleichwertige Replikate zu ersetzen, war aufgrund des extrem widerstandsfähigen oxtornischen Metabolismus nicht möglich.
Deshalb bekam Monkey künstliche Sehorgane. Es handelte sich um auf Swoofon hergestellte Spezialimplantate aus Super-Atronital-Compositum, einer äußerst zähen, synthoplastexotischen Verbundlegierung. Neben der Normalsicht gestatteten die Kunstaugen ein Umschalten auf Teleskop-, Mikroskop- oder Infrarot-Modus.
Angeschlossen an die Objektive war ein Speichermodul. Dessen Kapazität betrug etwa zweitausend Tage. Monkey konnte somit bereits gesehene Ereignisse aus diesem Zeitraum bei Bedarf erneut abrufen und betrachten.
Auch deswegen vermutete Aichatou, dass der Mann, der seit nun schon mehr als zwei Jahrhunderten der USO als Lordadmiral vorstand, kein sonderlich reges Liebesleben hatte ...
Sie schauderte, peinlich berührt, weil ihre Gedanken dermaßen abgeglitten waren. Verständlich, dass Monkeys wuchtige Präsenz die Phantasie anregte – aber in diese Richtung?
Ts, ts, ts.
*
Pflichtbewusst konzentrierte Aichatou sich wieder auf das Geschehen im Konferenzraum.
»Worüber«, fragte ihre Kaiserin den Oxtorner gerade, »sollen wir uns einigen?«
»Ich möchte euch zu eurem Ziel begleiten.«
»Nach Kaldik, zur Archivwelt?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich denke, dass ich dort von Nutzen sein könnte.«
Abermals kräuselte sich Aichatous Hautoberfläche an beiden Unterarmen. Noch nie hatte sie jemanden kennengelernt, dessen scheinbar simple Aussagen so viele Nebenbedeutungen suggerierten.
In diesem Fall: Ohne mich wärt ihr aufgeschmissen.
»Der Terranische Resident, Arun Joschannan, hat mir angekündigt, dass er uns jemanden zur Verstärkung schicken möchte ...«
»Damit meinte er mich.«
»Das dachte ich mir bereits.«
»Allerdings konnte er mich nicht entsenden, sondern nur bitten. Die USO ist eine eigenständige Organisation.«
»Natürlich. Und, nebenbei bemerkt, nach wie vor vom Atopischen Tribunal verboten.«
Monkey stand unbeweglich wie eine Statue, rührte keinen Finger, zuckte mit keiner Wimper. Schwieg – und brachte dennoch, oder gerade dadurch, zum Ausdruck, was er von diesem Verbot hielt.
Sowieso verfestigte sich in Aichatou die Erkenntnis, dass die bisherigen Wortwechsel weit mehr als bloß oberflächliches Geplänkel darstellten. Zwischen den Zeilen ging es um nicht weniger als um das Festlegen einer Rangordnung.
Beide, die Herrscherin von Olymp wie auch der Lordadmiral der USO, waren Autoritäten; aber auf eine jeweils völlig andere Art und Weise.
Indrè Capablanca, die Argyrisa, eine grazile, berückend schöne Frau, repräsentierte als Gattin des Kaisers Martynas Deborin-Argyris allerhöchste Eleganz, bis hin zu fast schon wieder lächerlichem Pomp. Dass sich hinter dem stets perfekt geschminkten Gesicht ein scharfer Intellekt verbarg, und dass sogar das an vielen Stellen transparente, zierliche, wie aus Eisblumen gefertigte Gewand in Wahrheit ein psionisch begabter Symbiont war – darüber wussten nur Angehörige des innersten Zirkels von Olymp Bescheid. Auch Aichatou war erst vor Kurzem eingeweiht worden.
Auf der anderen Seite des Tisches stand, unverrückbar wie ein Felsblock, der Furcht einflößende Mann, der sich Monkey nannte, »Affe«. Selbstverständlich konnte er sich maskieren, falls dies nötig war. Aber wenn er, wie soeben, als er selbst in Erscheinung trat, verkörperte er ohne jegliche Verstellung, was er war: geballtes, komprimiertes, mörderisches Potenzial.
Aichatou Zakaras Verdacht bestätigte sich, als die Argyrisa leichthin fragte: »Und wie stellst du dir deine Rolle bei der kommenden Unternehmung vor?«
»Ich beanspruche das Kommando. Sowohl über den Schlachtkreuzer als auch beim bevorstehenden Landungseinsatz.«
Indrè Capablanca lachte glockenhell und nur ganz leicht gekünstelt. »Träum weiter, mein Freund!«
*
Die ONTIOCH ANAHEIM befand sich in Warteposition, keine hundert Lichtjahre vom System der Sonne Peyphrad entfernt.
Der Flug vom siebten Planeten des Ardinsystems, einem Gasriesen, in dessen Orbit die mysteriöse Tonne hing, war erfreulich ereignislos verlaufen. Bei einem durchschnittlichen Überlichtfaktor von 2,4 Millionen hatte er neun Standardtage gedauert.
Vor etwa einer halben Stunde war nahebei ein Schiff aus dem Linearraum gefallen, ein Leichter Kreuzer der terranischen DIANA-Klasse. Trotz der per Rafferfunk übermittelten Kennung als RUBBER CORTEEN hatte Kommandant Vincent Lovelace dieses Schiff nicht in den offiziellen Registern der LFT gefunden.
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