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Gerhard Matzig

Einfach nur dagegen

Wie wir unseren Kindern
die Zukunft verbauen

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Originalausgabe

Copyright © 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Satz: Uhl+Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-06211-8
V002

www.goldmann-verlag.de

Für meine Kinder, für Marie, Mauritz und Leonard, denen ich vor allem eines wünsche: das Glück, eine Zukunft zu haben. Aber eigentlich sollte das kein Glück sein, sondern ein Recht.

Facebook?

»Ich bekam eines als Geschenk, aus Weißgold.«

Karl Lagerfeld, vermutlich um die 80, Modeschöpfer

Nach dem Phänomen »Facebook« befragt, sagte Lagerfeld im November 2010 in einem Interview mit dem »Luxury Channel«, dass er dieses Ding, dieses Facebook, als makelloses Produkt sehr schätze, besonders jenes aus Weißgold, das man ihm geschenkt habe. Vermutlich verwechselte Lagerfeld das Netzwerk Facebook mit einem iPod, einem Smartphone oder etwas Ähnlichem. Das Internet hält der Modeschöpfer für eine »Welle, die bald verschwinden wird«. Denn: »Vom Walkman spricht auch niemand mehr.«

Auto?

»Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung.«

Kaiser Wilhelm II. (1859–1941)

1. Eine Art Vorwort

Träume, heißt es, kann man nicht vermessen, wiegen oder präzise bestimmen. Sie haben kein Gewicht oder Volumen. Das Lineal versagt, die Waage auch. Angeblich.

Dieser Traum aber hat ein Gewicht, eine Dichte, eine Größe. Er war planbar, er war machbar. Er ist Geschichte.

Hier sind ein paar Daten, die helfen, diesen ganz besonderen Traum zu beschreiben: Er umfasst 415 Kilometer, 500000 Knoten, zwölf Pylone, 36 Masten und zehn Luftstützen. Er bedeckt 74800 Quadratmeter und besteht aus einem Netz, dessen Maschen exakt 75 mal 75 Zentimeter groß sind. Das Netz trägt Acrylplatten, die vier Millimeter dick sind.

Einen Namen hat dieser Traum auch – und dazu einen festen Platz in den Geschichtsbüchern der Welt. Der Traum ist das »Wunder von München«, das Zeltdach der Olympischen Spiele von 1972: ein einzigartiges Bauwerk, das in aller Welt bekannt ist.

Der Antike entwuchsen der Koloss von Rhodos, die Pyramiden von Gizeh und die hängenden Gärten der Semiramis zu Babylon. Es sind einige der alten sieben Weltwunder. Man kennt auch die »Neuen sieben Weltwunder«, darunter das Taj Mahal oder die Chinesische Mauer. Und es gibt, wir sind nun fast in der Gegenwart, die weltberühmten Architekturspektakel der Moderne wie etwa das Empire State Building in New York oder die Golden Gate Bridge in San Francisco. Man kennt all diese Gebäude und Bauwerke als Kühnheiten vergangener Epochen und ferner Länder.

Sie gehören zum Fundus der Architekturgeschichte – aber sie sind noch viel mehr als das. Sie sind die Sehnsuchtsorte der Menschheit, die sich immer der Architektur bedient, wenn es darum geht, den eigenen Träumen, Hoffnungen und Utopien eine Form zu geben.

Die scheinbar schwerelose, schwebend in den Himmel aufragende Dachlandschaft des Münchner Olympiastadions birgt die vielleicht größte Utopie, die Deutschland je hatte. Nun sind wir in der Gegenwart, in unserer Zeit. Das Dach beschirmt die Hoffnungen einer ganzen Generation. Die Sehnsucht eines endlich wieder freien und friedfertigen Landes, das nach zwei verschuldeten und verlorenen Kriegen der gesamten Welt nicht nur ein Bauwerk, sondern auch ein Symbol schenken wollte. Und sich selbst wollte Deutschland einen Ort der Selbstvergewisserung schaffen. Nicht, um dem einfältigen »Wir sind wieder wer« der wirtschaftswunderlichen Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zu huldigen, sondern eher, um zu sagen: Wir wollen euch wieder etwas bedeuten, wir wollen uns etwas bedeuten.

Dieses »etwas« aber: Das verkörperte die Zukunft.

Das Stadion der Völker unter dem großen Dach inmitten einer bewegt modulierten, sanft sich hebenden und senkenden, nahezu wogenden Landschaft – das war ein Ort der Zukunft. Das Olympiastadion ist ein gebauter, ein Leben gewordener Traum.

Trotz des »München-Massakers« vom 5. September 1972, als um 4 Uhr 10 am Morgen palästinensische Terroristen die israelische Mannschaft überfielen und schließlich ermordeten, sind die Spiele von München nicht als blutige, sondern als »heitere Spiele« dem Weltgedächtnis eingeschrieben. Das ist im Grunde ungeheuerlich, aber schon das lässt begreifen, wie stark die Bildmächtigkeit der Olympialandschaft Münchens ist. Die Sehnsucht ist hier stärker als die Realität. Der Traum ist realer als die Wirklichkeit.

Das war einmal.

Heute, vier Jahrzehnte nach den Spielen, im Jahr 2011, würde man das Olympiastadion nicht mehr bauen. Es wäre unmöglich. Es wäre zu teuer. Es wäre zu lächerlich. Es wäre zu modern.

Würde heute jemand den Versuch unternehmen, so etwas wie den Bau der Olympialandschaft von 1972 gegen alle scheinbare Vernunft durchzusetzen, würde sich stattdessen eine Bürgerinitiative gründen, getragen von »Wutbürgern«, wie sie im Deutschland des Jahres 2011 an der Macht sind. Deren Bedenken, deren »Montags-Demos«, deren Unterschriftenlisten, vor allem aber deren Wut über alles, was ihnen nicht geheuer und im Zweifel als Produkt ökonomischer Geltungssucht sowie politischen Machtstrebens erscheint: Das alles würde dazu führen, dass vom Traum einer Gesellschaft nur der Münchner Schuttberg, auf dem das Olympiagelände damals gebaut wurde, übrig bliebe. Der Schuttberg ist ein Ort des Krieges, angefüllt mit den Scherben und Ruinen der Vergangenheit. Heute würde diese Vergangenheit über die Zukunft triumphieren.

Frei Otto, der bedeutende Ingenieur und Architekt aus Stuttgart, hat einmal erzählt, dass er, sobald es ihn nach München verschlägt, ein Taxi besteige, um sich zum Olympiastadion chauffieren zu lassen. Dort bestaunt er dann das von ihm und anderen ersonnene Bauwerk. Nicht nur, weil es so schön ist, sondern auch deshalb: weil es immer noch steht. Damals, als der Architektenwettbewerb zur Olympiaanlage entschieden wurde, den ein kleines, kaum bekanntes Büro (das von Günter Behnisch) für sich entscheiden konnte, wusste niemand, ob man die Zeltdachlandschaft würde bauen können, wie lange das dauern würde, wie haltbar das Ganze wäre und wie viel es schließlich kosten würde. Anders gesagt: Alle Fragen waren offen. Man hat trotzdem gebaut in der Vergangenheit.

In der Gegenwart Deutschlands protestierten dagegen ein paar Bauern und Wiesenbesitzer in Garmisch-Partenkirchen sehr erfolgreich gegen die erneute Bewerbung um die Olympischen Winterspiele 2018, die auch in München und in den bayerischen Bergen hätten stattfinden können. Die Wiesen auf den Skihängen wollten sie dafür nicht zur Verfügung stellen. Als sich am 6. Juli 2011 das Olympische Komitee mit großer Mehrheit für die Konkurrenzbewerbung, also für die südkoreanische Stadt Pyeongchang entschied, brachten die Fernsehnachrichten Bilder trauriger Münchner und der enttäuschten Menschen im bayerischen Oberland. Die lachenden Gegner der Bewerbung – mindestens ein Viertel der deutschen Bevölkerung hatte sich bis zuletzt gegen ein deutsches Olympia 2018 ausgesprochen – waren nicht zu sehen. Es gab und gibt sie aber. Jene Garmischer Bauern dürften zu Symbolfiguren der Niederlage geworden sein, die viele als Sieg feiern.

Die komplexen Gründe für die Entscheidung gegen München sind hier nicht so wichtig. Unter vielen Aspekten mag die große, eindeutige Begeisterung Südkoreas, das sich bereits zum dritten Mal beworben hatte, im Vergleich zur mauen Stimmung in Deutschland eine Nebenrolle gespielt haben. Entscheidend waren andere Motive. Wichtig ist, aus welchem Geist heraus sich München bewarb. Und wie sich Deutschland damit fühlte und fühlt.

2018: Das wären Spiele in München gewesen, zum zweiten Mal nach 1972. Doch dieses Mal waren im Gegensatz zum 72er-Experiment alle Fragen beantwortet. Man brauchte weniger Entschlossenheit, weniger Tatkraft und weniger Visionen als 1972. Führte das aber dazu, dass sich Deutschland auf diese Spiele eher noch mehr freute als damals? Dass es diese Spiele umso entschlossener austragen wollte? Dass es sich der Welt abermals empfehlen mochte, dass es abermals ein Ort der Begegnung, der Selbstvergegenwärtigung und vielleicht sogar der Zukunft hätte sein wollen? Indem es etwa die ökologischsten Spiele aller Zeiten angestrebt hätte? Oder die freiesten? Die schönsten?

Mitnichten.

Deutschland stand und steht dieser Bewerbung zwar mehrheitlich knapp positiv, insgesamt aber ohne große Freude, ohne Elan und ohne Verlangen gegenüber. Es war eine müde Bewerbung mit etwas Gegenwind und viel Flaute. In Garmisch-Partenkirchen musste es sogar einen Bürgerentscheid geben, mit denkbar knappem Ausgang zugunsten der Spiele. Das Land spielte nicht mit. Vor allem in Garmisch-Partenkirchen und München war das zu spüren. Schon seit längerer Zeit. Auch ohne die Enttäuschung vom 6. Juli 2011: Deutschland fühlt sich seit einigen Jahren wie auf einer Party, die man möglichst früh wieder verlassen möchte, weil man ohnehin nicht so genau weiß, warum man sie besucht. Es ist ein graues Land. Nicht einmal die Entscheidung gegen die deutsche Bewerbung führte, trotz der vielen traurigen Gesichter im Fernsehen, zu einem Stimmungsumschwung im Nachhinein. Vielleicht nicht nur deshalb, weil Deutschland ein so guter Verlierer ist, sondern auch deshalb, weil es gar nicht erst gewinnen wollte. Sollen doch die anderen Spiele austragen. Wir werden ja von unserer Wut, unserem Protest, unserem Verdruss beseelt – darauf fokussieren wir unsere Kräfte, daraus schöpfen wir unsere (negative) Energie.

Deutschland 2011: das ist ein Land, das sich entweder aggressiv oder depressiv anfühlt: Ob sich die Wut nun gegen Olympia 2018, das Bahnprojekt Stuttgart 21 richtet oder gegen die Teuerungen der Elbphilharmonie in Hamburg; ob sich die Wut gegen den Ausbau von Straßen, Flughäfen, Tunnels, S-Bahnen oder gegen die Errichtung von Wasserkraftwerken, Solarstromanlagen oder Windrädern richtet: Fast überall in Deutschland herrscht Verdrossenheit. Manchmal geht es gegen »die da oben«, ohne dass man wüsste, wo genau oben und unten sind; manchmal geht es gegen »die Industrie«, ohne dass man wüsste, wer oder was das genau sein könnte; manchmal geht es gegen das Internet, gegen die Globalisierung, gegen die Überfremdung unseres Landes oder gegen die Beschleunigung unseres Lebens.

Und manchmal ist in Deutschland, in diesem satten, alten und verdrossenen Land, ein solcher Hass auf die Zukunft zu spüren, dass man meint, ihn mit Händen greifen zu können. Ein Hass ist das, der lähmt und der müde macht. Deutschland ist heute ein Ort der Angst, nicht der Zukunftslust, ein Ort der Nörgelei, nicht der Zuversicht. Ein Ort, an dem sich auf ebenso paradoxe wie erschreckende Weise ein selbstgerechtes Gefühl moralischer Überlegenheit mit einer ausgeprägten nationalen wie individuellen Egozentrik in Denken und Handeln paart.

Dieses Buch ist eine Erinnerung an die Zukunft – und steht für die Hoffnung auf eine neue Moderne, auf einen neuen Utopismus. Vielleicht sogar für ein Land, das sich einmal mehr erfindet.

Die einst so kühne Dachlandschaft in München liegt mehr als 9000 Kilometer entfernt von den im Frühjahr 2011 zerstörten Reaktoren in Fukushima. Zwischen der deutschen Euphorie von einst und dem japanischen Atomunglück von heute liegen aber nicht nur Kilometer, sondern auch vier Jahrzehnte, in denen viele Hoffnungen einer technikbegeisterten Nachkriegsära enttäuscht worden sind.

Die Welt heute ist nicht mehr die Welt von 1972. Die TV-Serien heißen nicht mehr »Daktari« oder »Flipper«, die angesagtesten Getränke nicht mehr »Afri-Cola« – und Pril-Blumen gibt es nur noch als ironisch gemeinte Retromode. Die Autos tragen nicht mehr die Namen der deutschen Italiensehnsucht, sie heißen nicht mehr »Capri« oder »Ascona«, sondern »E-Mini« oder »Twingo eco«. Verschwunden sind die Plateausohlen, die Schlaghosen, Abba und die Happenings. Und auch wenn viele dieser Phänomene wie lebende Untote dazu verdammt sind, immer wieder bemüht und zitiert zu werden: Für die Aufbruchsstimmung und Fortschrittsbegeisterung jener Zeit gilt das nicht. Diese sind definitiv begraben. Vergessen.

Hunderte von Umweltkrisen haben sich in den letzten Jahrzehnten ereignet, die »Grenzen des Wachstums« wurden erreicht. Es ist die Zeit des Umdenkens und der Beginn einer neuen Ära. Dieses Buch ist ein Porträt unserer Zeit und der Versuch einer Bilanz. Es bilanziert eine erstaunliche Epoche der Abkehr von der Moderne, einer Abkehr, die nicht die Chancen der Zukunft, sondern nur die Gefahren der Gegenwart sehen möchte. Seit mindestens einem Jahrzehnt wird hierzulande die Moderne mit Wonne zu Grabe getragen, die Ressentiments gegen alles Zukünftige häufen sich auf den unterschiedlichsten Feldern der Gesellschaft. Es ist eine Glaubens-, Sinn- und Wertekrise, die in dem Supergau von Fukushima einen so gespenstischen wie glaubhaften Höhepunkt erfährt: Die Atomkraft, einst die Zukunftstechnologie schlechthin, erweist sich nach Tschernobyl zum zweiten Mal innerhalb von nur einem Vierteljahrhundert als unbeherrschbar und nicht zukunftsfähig.

Nach Fukushima könnte man mehr denn je versucht sein, sich endgültig abzuwenden von all den scheinbar so haltlosen Versprechungen der Zukunft, von der Technik, von Ökonomie und Politik. Man könnte nun sein Heil suchen in einem neuen Biedermeier, im Abbremsen und Festhalten an der vertrauten Welt des Heute oder gar des Gestern – nach so vielen Jahren der Raserei in ein ungewisses Morgen.

Nichts wäre fataler als das.

Fukushima mag der Ausdruck einer veränderten Lage sein, aber die Probleme sind die gleichen. Das Neobiedermeier ist keine Antwort, keine Lösung. Im Gegenteil.

Wer diese Ära des Wendepunkts gestalten möchte, wer die gewaltigen Probleme der Gegenwart und der Zukunft lösen will, weil nichts Geringeres als das schiere Überleben der Gattung Mensch und womöglich unseres Planeten auf dem Spiel steht, der braucht mehr als Protest, Bedenken und Hysterie; der braucht mehr als Aggression und Depression; mehr als Wut braucht er vor allem. Er braucht Hoffnung, Zuversicht und die Bereitschaft zum Wagnis, zum Risiko. Und er braucht Mut: Den Mut, die Zukunft zu gestalten, statt sie zu verweigern. Er braucht vielleicht nicht die Pril-Blumen und architektonisch gewagte Netzkonstruktionen. Aber etwas von jenem Geist der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, der uns mittlerweile so altmodisch vorkommt, braucht er gewiss.

Wir brauchen Begeisterung und Euphorie. Wir benötigen Innovation, Erfindungsreichtum, Phantasie und ein Selbstbewusstsein, das sich unterscheidet von der erbärmlichen, moralinsauren Polit-Eigenbrötelei, die epidemisch um sich greift und den Wutbürger gebiert, jenes neuartige politische Un-Wesen, das unter dem Deckmantel gesellschaftlichen Engagements nach dem Sankt-Florians-Prinzip jegliche gemeinschaftlich begründeten Eingriffe und Veränderungen in seinem direkten Umfeld und in seiner Lebenswelt kategorisch ablehnt. Wir dürsten aber nicht nach Protest aus Eigennutz, sondern nach Ideen und Einfällen. Nach Lösungen. Einfach nur dagegen zu sein, gegen Olympia, Technologie, Infrastruktur, gegen Bahnhöfe und Windräder und Schulreformen, gegen Zukunftsmodelle und die Sehnsucht nach Erneuerung – einfach nur dagegen zu sein, das ist einfach viel zu einfach in einer überalterten Gesellschaft. Das heißt, die Probleme der Zukunft den Nachgeborenen zu überlassen, während sich eine depressiv verstimmte, ängstliche Gesellschaft voller Empörungsrituale von den Lösungen der Zukunft abwendet, um sich in Nostalgie und Innerlichkeit zu flüchten.

»Alte Männer«, sagte George Bernard Shaw, der die alten Frauen wohl mitbedacht hat und 1950 als bald hundertjähriger, dafür sehr hellsichtiger Mann gestorben ist, »sind gefährlich. Ihnen ist die Zukunft egal.«

Die Gefahren einer immer senileren Protestgesellschaft, die schon aus Bequemlichkeit dazu neigt, mit den alten Verhältnissen auch die alten Besitzstände zu wahren, liegen nicht in der Zukunft, sondern darin, die Zukunft zu verneinen.

Dieses Buch ist auch das Ergebnis einer langen Reise. Als Reporter und Kritiker war ich für die »Süddeutsche Zeitung« über Jahre hin immer wieder dort, wo die Wutgesellschaft ihre Wurzeln hat: beim Protest in Stuttgart, bei Versammlungen in München, im Berliner Reichstag, wo sich die aktuelle Moderne-Aversion schon vor zwanzig Jahren rund um die Kuppel-Debatte andeutete. Ich war in Dresden, um Menschen zu treffen, die sich den Baggern an der Elbe in den Weg stellten. Ich war in Braunschweig, wo man in einem rekonstruierten Schloss, das eigentlich ein Kaufhaus ist, Büstenhalter im Dreierpack verkauft – und dies dann für eine intelligente städtebauliche Antwort auf die architektonischen Sünden des 20. Jahrhunderts hält. Und ich war in Garmisch, wo mir Bauern, die gegen die Olympiabewerbung 2018 protestierten, mit der Mistgabel in der Hand versicherten, sie würden es »denen da oben« noch so richtig zeigen.

Ich habe in diesen Jahren viele Menschen getroffen, die mir von der Wut erzählt haben, die sie erfüllt. Oft auch von den Ängsten, die dahinterstecken. Gewiss: Man kann diese Menschen und ihre Anliegen kaum vergleichen. Und manche glauben auch, dass man ihnen nach Fukushima besser gar nicht mehr widersprechen sollte.

Ich glaube das nicht. Man kann vergleichen, um herauszufinden, was in der Mitte der Gesellschaft passiert. Indem man Äpfel und Birnen vergleicht, findet man heraus, was sie unterscheidet. Aber auch, was sie gemeinsam haben. Und man kann auch der grassierenden Wut widersprechen. Vielleicht muss man das sogar tun.

Ich, der Ende der siebziger Jahre als 16-Jähriger in einer zu Recht vergessenen Band namens »Unkraut« in Jugendzentren und auf wahrlich bizarren, aber auch großartig hoffnungsvollen Open-Air-Festivals in der deutschen Provinz gegen Atomkraftwerke angespielt habe, mit der Gitarre und exakt vier Akkorden sowie mit dem Atomkraft-nein-danke!-Button am lila Batik-T-Shirt, ich rechne mich zur Basis der grünen Bewegung. Das Abschalten der Reaktoren halte ich für völlig richtig, für zukunftsweisend. Aber das bedeutet nicht, dass es mich nicht gleichwohl befremdet, ja erschreckt, wie Andersdenkende derzeit desavouiert, wenn nicht gar niedergebrüllt werden. Zum Beispiel dann, wenn sie versuchen, die schrecklichen Bilder aus Fukushima abzuwägen. Wenn sie trotz der Todesopfer und der zerstörten menschlichen Existenzen, trotz all der verseuchten Quadratkilometer, wenn sie angesichts des schieren Horrors also gleichwohl versuchen, die Macht der realen Bilder abzuwägen gegen die Überlegung, was der Atomausstieg für den Klimawandel bedeuten könnte. Wenn sie also nüchtern darüber nachdenken, ob durch den mutmaßlichen Anstieg des Meeresspiegels sowie durch die Ausweitung der Wüsten nicht noch viel mehr Menschen Schaden nehmen könnten, weil sie ihre Heimat verlieren, tropischen Wirbelstürmen zum Opfer fallen, Flutkatastrophen und Ernteausfälle erleben könnten. Wenn sie das aber tun, dann schlägt ihnen nicht selten der blanke Hass entgegen. Wer regelmäßig die User-Kommentare im Netz zu derartigen Überlegungen, Blogs oder Leitartikeln liest, der weiß, wovon die Rede ist.

Ein Hass ist das, der sich einer manchmal schon fast grölenden Mehrheit sicher sein kann. Es ist, als habe das Wort »alternativlos« vor kurzem die Seiten gewechselt.

Auch über Alternativen zu dem hurtig verkündeten und ungeniert populistisch motivierten Atomausstieg hätte man nachdenken können, vielleicht sogar müssen. In Deutschland haben die Grünen stattdessen allen Ernstes monatelang darüber diskutiert, ob man einem Atomausstieg auch dann zustimmen darf, wenn er von der falschen Partei verkündet wird. Echtes gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein sieht anders aus.

Die Wut hält uns auf. Die Wut wird die Probleme, denen sie zu Leibe rücken möchte, erst eskalieren lassen. Die Wut schafft eine neue Gesellschaft des Nichtzuhörens, der Trillerpfeifen und der Intoleranz. Der Bauleiter von Stuttgart 21 fühlte sich bedroht, ein Polizist wurde vor dem Bauzaun halb totgeprügelt. Die Wut lebt von irrationalen Ängsten. Die Wut will, dass wir ins 19. Jahrhundert flüchten, statt in die Zukunft aufzubrechen. Deshalb kann man, deshalb muss man der Wut widersprechen. Ich glaube, dass wir vor Herausforderungen stehen, die nur mit einem neuen Mut bewältigt werden können. Der Fortschrittsglaube des 20. Jahrhunderts mag erst jene Probleme hervorgerufen haben, vor denen die nächsten Generationen stehen. Die rückwärtsgewandte Fortschrittsfeindlichkeit unserer Zeit wird uns aber daran hindern, diese Probleme zu lösen.

Eines haben wir jedenfalls nicht: viel Zeit.