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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74093-238-1
»Was meinst du, kannst du dir vorstellen, auf Dauer hier zu wohnen?« Ilka saß hinter Conrad im Gras, legte die Arme um ihn und schaute über seine Schulter hinweg ins Tal hinunter.
»Ich kann es mir sogar sehr gut vorstellen. Meine Großeltern und mein Lieblingscousin leben hier.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Ilka und setzte sich neben ihn, damit sie ihn ansehen konnte.
»Ja, was ist mit dir?«, entgegnete er lächelnd.
»Willst du mich ärgern?«, neckte sie ihn und zupfte an seinem Haar.
Vor vier Wochen hatten sie ihre Verlobung gefeiert. Zuerst waren sie mit einem Ruderboot auf den Sternwolkensee hinausgefahren, hatten sich ewige Treue geschworen und sich die schmalen aus Platin gefertigten Ringe angesteckt, danach gab es ein Fest im Biergarten der Brauerei Schwartz. Ilka, die Bergführerin aus Bergmoosbach, und Conrad, der junge Hydrogeologe aus München, hatten sich vor einem halben Jahr auf der Geburtstagsfeier von Achim Baumeister, Conrads Cousin, kennengelernt. Seitdem hatten sie sich fast an jedem Wochenende gesehen. Als Conrad den Auftrag der Gemeinde erhielt, die Wasserqualität der Quellen in den Bergen zu untersuchen, quartierte er sich im Haus seiner Großeltern am Sternwolkensee ein, traf sich jeden Tag mit Ilka und kam genau wie sie zu dem Schluss, dass sie nicht mehr ohne einander sein konnten.
»Es ist wirklich schön hier«, sagte Conrad und blickte auf das Dorf mit seinen samtig grünen Hügeln. Der See mit dem weißen Sandstrand, der Bach, der an den Rapsfeldern vorbei seinen Weg ins Nachbartal fand, das prächtige Rathaus mit dem goldenen Wetterhahn auf dem Turm, der Marktplatz mit den hübsch restaurierten Häusern. »Aber du bist der schönste Anblick«, erklärte er mit einem liebevollen Lächeln und nahm Ilka in den Arm.
»Schön genug, um mit mir hier zu leben?«
»Ich weiß, dass du hier glücklich bist, und deshalb werde ich hier auch glücklich sein.«
»Das heißt, wir werden hier wohnen?«, fragte sie und spielte mit ihrem blonden Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.
»Ich freue mich darauf«, sagte er und küsste sie zärtlich.
»Nachdem das geklärt ist, sollten wir wieder an die Arbeit gehen.« Ilka stand auf, ordnete die Kapuze ihrer violetten Wetterjacke, die sie zu ihrer hellen Stoffhose und den Wanderschuhen trug, und setzte den Rucksack auf, der sie schon seit vielen Jahren auf allen Bergtouren begleitete.
»Ich beuge mich selbstverständlich deiner Anordnung. Du bist die Bergführerin, du hast das Sagen hier oben«, antwortete Conrad und erhob sich ebenfalls. Er war zwar ein recht guter Kletterer, aber im Hochgebirge hatte er stets auf die Erfahrung einheimischer Bergführer vertraut. Dieses Mal war es Ilka, die ihn begleitete, was aus der Arbeit ein echtes Vergnügen machte.
»Wenn wir noch ein Stück höher gehen, wird es gleich kühler werden. Du solltest deine Jacke anziehen«, bat sie ihn.
»In Ordnung.« Conrad zog die gelbe Daunenjacke über den leichten grauen Pullover, den er zu seiner Jeans trug, und band die Schnürsenkel seiner Wanderschuhe ein wenig fester, was ihm während eines Anstiegs ein sichereres Gefühl gab.
Ihr Ziel war der Bergsee, der im Quellgebiet lag, das Bergmoosbach und die Nachbargemeinden mit Trinkwasser versorgte.
»So lange ich denken kann, haben die Leute das Wasser aus dem See getrunken. Er wird direkt aus der Quelle gespeist, die hier oben aus einer Höhle sprudelt. Bisher hat es nie Beanstandungen gegeben und die wird es auch dieses Mal nicht geben«, versicherte Ilka Conrad, während sie den schmalen Pfad hinaufstiegen.
»Er sieht beinahe unberührt aus«, stellte Conrad beeindruckt fest, als sie den See schließlich erreichten.
Er lag oberhalb der Baumgrenze eingebettet zwischen kahlen Felsen, die wie Zinnen in den blauen Himmel ragten.
»Ich war gerade in die Schule gekommen, als ich das erste Mal mit meinem Vater hier oben war. Ich nannte den See den Smaragd, der vom Himmel gefallen ist«, erzählte Ilka, als sie sich auf einen Felsvorsprung setzte.
»Eine romantische Beschreibung«, sagte Conrad und schaute auf das smaragdgrüne Wasser.
»Stimmt, du würdest die Farbe sicher unter anderem dem Planktongehalt des Wassers und dem Lichteinfall der Sonne zuschreiben.«
»Wenn ich irgendwann an diesen Tag zurückdenke, dann werde ich mich an einen himmlischen Smaragd erinnern«, versprach er ihr und küsste sie zärtlich auf die Wange.
»Conrad, sieh dir das an.«
»Merkwürdig«, sagte er leise, als er Ilkas Blick folgte.
Vor ihnen im Wasser trieben mehrere tote Fische.
»Es könnte durchaus eine natürliche Ursache haben.« Ilka war aufgestanden und lief ein paar Schritte am See entlang.
»Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht, nicht bei dieser Vielzahl der Fische«, entgegnete Conrad, der seinen Blick über den See schweifen ließ und noch weitere verendete Tiere entdeckte. Er nahm den kleinen Laborkoffer aus seinem Rucksack, mit dem er eine erste Messung vor Ort vornehmen konnte, und hockte sich ans Ufer des Sees. Behutsam klappte er den Koffer auf und nahm eines der Glasröhrchen heraus, das zu seiner Ausrüstung gehörte.
»Was hast du entdeckt?«, fragte Ilka erschrocken.
Conrad starrte ungläubig auf die Anzeige seines Messgerätes, nachdem er die Probe, die er aus dem See entnommen hatte, untersucht hatte. »Pestizide, und zwar in hoher Konzentration.«
»Aber wie kann das sein? Hier oben gibt es doch keine Landwirtschaft und auch sonst nichts.«
»Auch vor Gebirgsseen macht die Umweltverschmutzung nicht Halt. Alles, was wir in die Luft pusten, fällt irgendwann auch wieder auf uns herunter. In einer derart hohen Konzentration habe ich es allerdings bisher nicht beobachtet.«
»Das heißt, das Wasser des Sees ist vergiftet?«
»Ich würde niemandem raten, es zu trinken.«
»Dann sollten wir die Leute warnen.«
»Auf jeden Fall.« Conrad reichte ihr eines der selbstklebenden Hinweisschilder, die er immer bei sich hatte und die er an Wasserstellen anbrachte, die eine Gefährdung für Mensch und Tier darstellten.
»Wir müssen die Gemeinde informieren. Es liegt in ihrer Verantwortung, wie sie das Verbot durchsetzen und wie sie es wieder aufheben«, sagte Conrad, während Ilka das Schild über den Wegweiser klebte, der nur ein paar Meter vom Ufer des Sees entfernt stand.
»Der Bach, der durch Bergmoosbach fließt, ist auch ein Teil dieses Wassersystems. Der See und der Bach werden aus denselben unterirdischen Quellen gespeist.«
»Ich weiß, deshalb müssen wir auch Proben aus dem Bach entnehmen und zwar aus verschiedenen Abschnitten. Auch wenn wir nichts finden, werden wir die Proben im Labor zur Sicherheit noch einmal analysieren lassen.«
»Ich dachte, wir machen einen gemütlichen Ausflug, stattdessen haben wir jetzt eine Art Notfall.« Ilka schaute gebannt zu, wie Conrad noch weitere Proben aus dem See entnahm und sie in seinem Koffer verstaute.
»Ich hoffe, wir können den Notfall noch vermeiden. Wir sollten deshalb schnell handeln«, sagte Conrad und verschloss den Koffer.
»Was kann ich tun?«
»Sobald wir wieder in Bergmoosbach sind, nimmst du die Wasserproben und bringst sie ins Labor. Ich werde mit Sebastian Seefeld sprechen, um ihn vorzuwarnen, sollten Patienten mit vergiftungsähnlichen Symptomen in seiner Praxis auftauchen.«
»Sollten wir nicht dafür sorgen, dass die Bergmoosbacher kein Wasser aus der Leitung mehr trinken, bis das Ergebnis aus dem Labor vorliegt?«
»Das werde ich mit Sebastian besprechen.«
»Gut, dann gehen wir zurück ins Tal«, erklärte Ilka und setzte ihren Rucksack wieder auf, als auch Conrad seinen aufsetzte und den schwarzen Koffer für die Wasserproben in die Hand nahm. »Wir sind doch schon seit vier Wochen hier in der Gegend unterwegs, bisher war doch alles in Ordnung. Und ausgerechnet hier oben in der Abgeschiedenheit finden wir etwas.«
»So sieht es aus.«
»Könnte es ein Messfehler sein?«
»Das Messgerät mag vielleicht etwas übersehen, aber dass es etwas anzeigt, was nicht vorhanden ist, das ist höchst unwahrscheinlich. Trotzdem besteht noch kein Grund zur Panik. Bisher scheint doch im Dorf alles in Ordnung zu sein, und wir werden dafür sorgen, dass es so bleibt. Und jetzt schenk mir ein Lächeln«, bat Conrad.
»Du meinst, wir haben alles im Griff?«
»Ja, haben wir«, antwortete er und küsste sie zärtlich auf den Mund.
Ein paar Meter unterhalb des Sees sprudelte eine Quelle aus dem Boden, das Wasser sammelte sich in einem felsigen Becken und schoss dann in einem schmalen Bett in Richtung Tal. Erst nachdem der Bach sich über einen Wasserfall in die Tiefe stürzte, wurde das Bett, das er im Laufe der Jahre in die Felsen gegraben hatte, breiter. Das Wasser schien kristallklar und roch nach Sonne und Felsen. Ilka konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es auf einmal nicht mehr genießbar für die Wanderer sein sollte, die sich seit ewigen Zeiten, damit erfrischten.
Nachdem sie die Brücke unterhalb des Wasserfalls über die Klamm überquert hatten, stiegen sie einen gewundenen Pfad hinunter, liefen durch die Klamm und entnahmen auch dort eine Wasserprobe, bevor der Bach das hüglige Tal erreichte. Obwohl Conrad vor einigen Tagen die Brunnen, die das Wasser im Dorf verteilten, schon einmal untersucht hatte, holte er sich dort noch weitere Proben. Auch wenn sein Messgerät zunächst keine Verunreinigung des Baches und der Brunnen nachwies, blieb er bei seinem Vorhaben, die Proben im Labor gründlich untersuchen zu lassen.
»Soll ich die Proben einer bestimmten Person übergeben?«, wollte Ilka wissen, als sie den Parkplatz am Waldrand erreichten, von dem aus sie am Vormittag aufgebrochen waren.
»Sag am Empfang einfach Bescheid, um was es geht. Ich habe nicht so oft mit diesem Labor zu tun.«
»Alles klar, dann viel Glück bei deiner Mission. Sebastian wird dich mit Sicherheit unterstützen, wenn du ihn davon überzeugst, dass die Bergmoosbacher erst einmal auf das Wasser aus der Leitung verzichten sollen.«
»Er wird das Risiko sicher richtig einschätzen.«
»Davon gehe ich aus. Bis nachher.« Ilka steckte die Proben, die Conrad ihr gab, in ihren Rucksack und stieg in den betagten Kleinbus, mit dem sie hin und wieder ihre Wandergruppen zu entfernt gelegenen Anstiegen kutschierte.
Conrad wartete, bis sie auf die Landstraße eingebogen war, und lief dann in Richtung Dorf zum Haus der Seefelds.
Ilka kannte Sebastian Seefeld von ihren gemeinsamen Einsätzen bei der Bergwacht. Sie hatte ihn zu ihrer Verlobungsfeier eingeladen, und Conrad fand ihn auf Anhieb sympathisch. Als er hörte, dass Sebastian viele Jahre in Kanada gelebt hatte, erzählte er ihm von seinen Wanderungen in den Rocky Mountains, und da auch Sebastian diese Berge gut kannte, hatten sie viel Gesprächsstoff.
*
Das Haus des Landarztes lag auf einem sanft ansteigenden begrünten Hügel. Es hatte lindgrüne Fensterläden, und eine geschwungene Treppe führte durch den blühenden Steingarten zur Terrasse hinauf. Ein weißer Kiesweg verband die Terrasse mit dem Hof. Dort erhob sich eine prächtige alte Ulme, die mit ihren belaubten Ästen den Eingang der Praxis, die in einem Flachbau untergebracht war, beinahe verdeckte. Inzwischen war es kurz nach drei. Die Nachmittagssprechstunde hatte gerade angefangen.
»Guten Tag, Frau Fechner«, begrüßte Conrad Sebastians Sprechstundenhilfe, die Ilka ihm vor ein paar Tagen vorgestellt hatte, als sie ihr in der Bäckerei begegneten.
»Geh, was treibt Sie denn zu uns? Krank sehen Sie nicht aus«, stellte Gerti Fechner mit dem Blick der erfahrenen Sprechstundenhilfe fest. Seit beinahe fünfunddreißig Jahren sorgte sie nun schon für einen reibungslosen Ablauf in der Praxis Seefeld. Seitdem hatte sie so viele Patienten kommen und gehen gesehen, dass sie sich schon die eine oder andere Einschätzung zutraute.
»Ich bin auch nicht wegen mir hier, aber ich müsste trotzdem dringend mit Doktor Seefeld sprechen.« Conrad blieb vor dem Tresen in der weiten Empfangsdiele stehen.
»Wie dringend?«, erkundigte sich Gerti.
»Es geht um die Gesundheit des Dorfes.«
»Geh, jetzt übertreiben Sie aber ein bissel. Oder?«
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Conrad und sah die kleine pummelige Frau in dem weißen Kittel direkt an.
»Es bahnt sich doch keine Katastrophe an?«, fragte Gerti leise und fuhr sich durch ihr dunkles kurzes Haar, während sie Conrad skeptisch anschaute.
»Ich bin hier, um sie zu verhindern.«
»Das klingt jetzt aber schon dramatisch.«
»Noch müssen Sie sich keine Sorgen machen.« Conrad war sicher, dass Sebastian Gerti über den Stand der Dinge aufklären würde, sobald er mit ihm gesprochen hatte. Aber er wollte es ihm überlassen, wann er wem etwas mitteilte.
»Wenn’s so pressiert, dann gehen Sie gleich zu ihm, damit die Sache in Ordnung kommt«, sagte Gerti, als eine rundliche Blondine das Sprechzimmer verließ. Sie war stark geschminkt, trug ein eng anliegendes orangefarbenes Kleid und hatte Mühe, die Balance zu halten, die die hohen Absätze ihrer schwarzen Wildlederpumps ihr abverlangten.
»Wir sehen uns in vier Wochen wieder, Frau Windfang«, verabschiedete sich Sebastian von Simone Windfang, die den Kosmetiksalon im Hotel Sonnenblick leitete.
»Vielen Dank, Doktor Seefeld, ich werde mich genau an Ihre Anweisungen halten. Hallo«, wandte sie sich mit leuchtenden Augen Conrad zu, der ihr auf dem Weg zum Ausgang begegnete.
»Hallo«, antwortete Conrad freundlich und lief eilig weiter. »Grüß dich, Sebastian, Gerti war so nett, mich vorzulassen. Ich muss etwas mit dir besprechen«, richtete er sich an den jungen Arzt, der in der geöffneten Tür stand.
»Komm rein«, sagte Sebastian und trat zur Seite.
»Wer ist der junge Mann?«, wollte Simone von Gerti wissen, nachdem sich die Tür des Sprechzimmers hinter Conrad geschlossen hatte.
»Über ihn musst du dir keine Gedanken machen.«
»Das kannst du ruhig mir überlassen, über wen ich mir Gedanken mache«, entgegnete Simone schnippisch, als Gerti ihr das Rezept für die Salbe zur Behandlung ihrer kürzlich aufgetretenen Kontaktallergie über den Tresen reichte.
»Wirst du Sebastian etwa untreu?«, fragte Gerti schmunzelnd.
»Geh, Sebastian, der ist doch unerreichbar, außer vielleicht für Anna oder Miriam«, seufzte Simone.
»Mei, die schöne Hebamme und die ebenso schöne, aber biestige Erbin des Sägewerks, das ist schon eine arge Konkurrenz«, erwiderte Gerti lachend. »Leider muss ich dir sagen, dass dieses neue Objekt deiner Begierde auch bereits vergeben ist«, fügte sie mit gespieltem Bedauern hinzu.
»Aha, an wen?«
»Er ist mit Ilka verlobt«, verriet ihr Gerti, als Simone das Rezept in ihre Handtasche packte und mit sehnsuchtsvollen Augen auf die Tür des Sprechzimmers schaute.
»Ilka? Die ist doch noch ein halbes Kind«, erklärte Simone stirnrunzelnd, während sie die Seidenhandschuhe anzog, um die roten Flecken an ihren Händen zu verbergen.
»Sie ist Mitte zwanzig. Aber ja, im Vergleich zu uns ist sie ein Kind.«
»Zu uns? Ich bin vor ein paar Wochen 39 geworden«, echauffierte sich Simone.
»39? Aha, zum wievielten Mal?«
»Du bist heute aber wieder sehr witzig. Einen schönen Tag noch«, sagte Simone und verließ schmollend die Praxis.
Was ist denn nur passiert, dass er unbedingt mit Sebastian sprechen muss?, fragte sich Gerti und schaute auf die geschlossene Tür des Sprechzimmers.
Conrad betrachtete die Vitrine aus gemasertem honigfarbenem Holz, die einmal Sebastians Großeltern gehörte. Sie stand nun an der Wand neben dem Schreibtisch. Hinter den Glastüren des Aufsatzes bewahrten sie die alten Medizinbücher auf, die Benedikt im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Die Vitrine verlieh dem ansonsten mit modernen weißen Möbeln eingerichteten Raum Wärme. Conrad hatte Sebastian von den verendeten Fischen und den Ergebnissen seiner Wasseranalyse vor Ort erzählt. Er wartete nun darauf, was er vorschlagen würde.
»Du hast recht, solange wir nicht absolut sicher sind, dass die Brunnen keine Gefahr bedeuten, sollten wir die Leute auffordern, auf Leitungswasser zu verzichten«, schloss sich Sebastian Conrads Einschätzung an.
»Wir sollten den Bürgermeister informieren.«
»Das machen wir sofort. Er ist gerade hier. Warte, ich bin gleich zurück.« Sebastian verließ das Sprechzimmer und ging in den Behandlungsraum neben dem kleinen Labor.
Xaver Talhuber lag in Shorts und T-Shirt auf einer bequemen Liege und hatte die Augen geschlossen. Im rechten Knie des großen stattlichen Mannes steckten kleine Nadeln. Der Bürgermeister von Bergmoosbach litt seit einiger Zeit unter Schmerzen im Knie, und Sebastian bestellte ihn zweimal pro Woche zur Akupunktur in die Praxis. Die Behandlung schien ihm gut zu bekommen.
»Dann wollen wir Sie mal wieder befreien«, sagte Sebastian, als Xaver die Augen aufschlug.
»Ich spür die kleinen Dinger gar nicht«, sagte Xaver und verschränkte ganz entspannt die Arme im Nacken, als Sebastian die Nadeln vorsichtig herauszog.
»Und wie ist es mit den Schmerzen in Ihrem Knie?«, erkundigte sich Sebastian. Ein chinesischer Internist, mit dem er in Toronto im Krankenhaus zusammengearbeitet hatte, war ein anerkannter Spezialist in Sachen Akupunktur und hatte ihn gelehrt, sie erfolgreich anzuwenden.
»Es geht mir nach jeder Behandlung besser. Heute Morgen bin ich einfach aufgestanden, ohne mir erst zu überlegen, wie ich möglichst schmerzfrei aus dem Bett komme. Ich hab’s ja erst nicht glauben wollen, dass es funktioniert, aber meine Helga hat gemeint, ich soll es versuchen.«
»Dann gehe ich davon aus, dass wir die Behandlung fortsetzen.«
»Auf jeden Fall, ich komm freilich wieder«, sagte Xaver, nachdem Sebastian die letzte Nadel entfernt hatte.
»Herr Talhuber, wir müssen etwas besprechen, bevor Sie gehen. Ilka und ihr Verlobter haben Wasserproben aus dem Bergsee entnommen. Er ist gerade bei mir.«
»Gibt es ein Problem?« Xaver setzte sich auf, nahm seine Hose von dem Stuhl neben der Liege und schlüpfte hinein.
»Ich warte im Sprechzimmer auf Sie.«
»Ich bin gleich da«, sagte Xaver. Er zog zuerst seine Schuhe an und danach die Trachtenjacke aus hellem Leinen, ohne die er nie aus dem Haus ging. »Also, was ist los?«, wollte er wissen, als er kurz darauf das Sprechzimmer betrat und sich auf den freien Stuhl neben Conrad setzte.
»Ich habe Pestizide im Bergsee nachgewiesen«, sagte Conrad und teilte ihm seinen Bedenken mit, was die Trinkwasserversorgung in Bergmoosbach betraf.
»Im Bach und den Brunnen konnten sie also nichts nachweisen«, hakte Xaver noch einmal nach.
»Nicht mit den mir zur Verfügung stehenden Messgeräten. Da ich eine beginnende Verunreinigung aber nicht ausschließen kann, sollten wir die Analyse des Labors abwarten.«
»Zurzeit besteht aber keine direkte Gefahr, wenn wir das Trinkwasser weiter verwenden?«
»Nein, erst einmal nicht. Ich bitte Sie trotzdem, die Analyse des Labors abzuwarten.«
»Wie lange kann das dauern?«
»Morgen Vormittag können wir vielleicht schon mit einem Ergebnis rechnen.«
»Was könnte die Verunreinigung verursacht haben? Könnte sie umweltbedingt sein?«
»Das wäre möglich.«
»Was tun wir, um das herauszufinden?«
»Wir müssen das Quellgebiet ständig überwachen. Wir sollten aber auch die andere Möglichkeit nicht ausschließen.«
»Du denkst an illegale Müllentsorgung?«, fragte Sebastian.
»Geh, doch nicht bei uns und schon gar nicht dort oben am See. Es führt doch keine Straße hinauf. Wie sollte das denn gehen?«, wehrte sich der Bürgermeister gegen diesen Verdacht.
»Das Zeug muss ja nicht am See vergraben sein. Das Quellgebiet dort oben ist riesig, aber trotzdem wie bei einem Spinnennetz miteinander verwoben«, erklärte Conrad dem Bürgermeister.
»Niemand hat hier etwas vergraben, das glaub ich nicht. Ich möcht auch nicht, dass die Leute über so etwas nachdenken. Sonst beschuldigen sie noch unsere Bauern, und das gibt dann böses Blut.«
»Was wollen Sie Ihnen denn sagen, um sie davon abzuhalten, das Wasser aus der Leitung zu verwenden?«, wollte Sebastian von Xaver wissen.
»Wir nennen es eine bisher ungeklärte Ursache, bis uns die aktuelle Analyse des Labors vorliegt.«
»Ihre Entscheidung, Herr Talhuber. Ich werde natürlich weitere Proben aus dem Bergsee entnehmen und auch aus einigen Zuläufen. Dann werden wir vielleicht herausfinden, aus welcher Richtung die Verunreinigung kommt.«
»So machen wir es, und danach bewerten wir die Lage erneut.« Xaver war mit Conrads Vorschlag sofort einverstanden. So gewann er Zeit, um über die Maßnahmen nachzudenken, die er möglicherweise zum Schutz der Bevölkerung noch einleiten musste. »Was ist mit Duschen und Waschen?«, fragte er Conrad.
»Ich denke, das ist in Ordnung, solange niemand das Wasser trinkt.«
»Sie sind derselben Meinung, Doktor Seefeld?«, wandte sich der Bürgermeister an Sebastian.
»Ich stimme Conrad in allem zu.«
»Also gut, dann werde ich die Landfrauen aktivieren.«
»Wäre das Radio nicht wichtiger?«, fragte Conrad.
»Keine Sorge, sobald die beiden Vorsitzenden des Landfrauenvereins informiert sind, verbreiten sie die Nachricht über ihr Netzwerk. Ein Anruf stößt den nächsten an. Es dauert keine halbe Stunde, dann weiß das ganze Dorf Bescheid«, versicherte ihm Sebastian.
»Interessantes Warnsystem.«
»Ein effektives dazu, weil jeder, der sich am Telefon nicht meldet, persönlich aufgesucht wird. Bei uns wird niemand vergessen«, erklärte Xaver, und Conrad sah ihm an, dass er stolz auf dieses gut funktionierende menschliche Miteinander war. »Sie geben mir Bescheid, sobald Sie ein Ergebnis haben?«, wandte er sich an Conrad.
»Ja, selbstverständlich. Ich werde jetzt in die Nachbargemeinde fahren und auch dort die Bäche kontrollieren. Morgen werde ich noch einmal hinauf zum Bergsee gehen, um weitere Proben zu entnehmen«, sagte Conrad und verabschiedete sich von Sebastian und dem Bürgermeister.
»Sollte jemand mit unklaren Vergiftungssymptomen zu mir kommen, setze ich mich mit dir in Verbindung.«
»Danke für deine Unterstützung.« Conrad wusste, wenn er Sebastian Seefeld auf seiner Seite hatte, würden die Bergmoosbacher diese Vorsichtsmaßnahme, die ihrer Gesundheit diente, ohne Murren akzeptieren.
»Ich mach mich dann auch auf den Weg, damit die Sache ins Laufen kommt«, sagte der Bürgermeister, nachdem Conrad gegangen war.
»Wir hören voneinander, Herr Talhuber«, entgegnete Sebastian und hielt Xaver die Tür auf. »Gerti, kommst du bitte kurz zu mir?«, bat er seine Sprechstundenhilfe.
»Bin schon unterwegs.« Gerti kam sofort hinter ihrem Tresen hervor und marschierte durch den Gang. »Geht es um die geheime Besprechung eben?«, wollte sie wissen, nachdem sie an Sebastian vorbei ins Zimmer gehuscht war und er die Tür geschlossen hatte.
»Möglicherweise ist etwas mit unserem Trinkwasser nicht in Ordnung«, klärte Sebastian sie auf.
»Geh, wie schlimm ist es?«
»Noch besteht kein Grund zur ernsthafter Sorge«, sagte er und erzählte ihr von der Vorsichtsmaßnahme, die der Bürgermeister, Conrad und er gerade beschlossen hatten.
»Mei, illegale Müllentsorgung, hier bei uns«, zeigte sich Gerti entsetzt, nachdem Sebastian sie eingeweiht hatte.
»Es ist nur eine Möglichkeit, keine Gewissheit. Ich wollte nur, dass du es weißt, falls jemand mit Symptomen zu uns kommt, die auf eine Vergiftung hindeuten. Ansonsten behältst du das bitte für dich.«
»Freilich, ich werde die Leute nicht in Panik versetzen, und die würde rasch um sich greifen, sollte jemand von Giftmüll sprechen, der unser Wasser verseucht.«
»Gut, dann wäre das geklärt, und jetzt gibst du mir noch ein paar Minuten, ich möchte noch ein paar Anrufe erledigen, bevor wir die Sprechstunde fortsetzen.«
»Soll ich den Patienten im Wartezimmer von der Vorsichtsmaßnahme erzählen?«
»Sie werden dich mit Fragen bestürmen.«
»Schon, aber ich habe keine Antworten«, erklärte Gerti schmunzelnd und ließ Sebastian allein.
Sebastian wollte zumindest seine Familie persönlich warnen. Er rief zuerst Traudel an, die drüben im Haus gerade Wasser für Kartoffeln aufsetzen wollte.
»Kein Wasser aus der Leitung und auch nicht aus dem Brunnen im Garten?«, vergewisserte sich die gute Seele der Seefelds, nachdem Sebastian ihr gesagt hatte, worum es ging.
»Wir haben doch genügend Mineralwasser vorrätig, um ein bis zwei Tage zurechtzukommen?«, fragte Sebastian.
»Freilich, ist genug da. Aber ich werde Emilia und deinen Vater bitten, mit mir zum Einkaufen zu fahren. Ein paar Kästen Wasser mehr auf Vorrat zu haben, kann nicht schaden. Ich geb die Nachricht an alle weiter, die wir treffen.«
»Ja, mach das, und Emilia soll bitte auf dem Mittnerhof Bescheid geben.«
»Wir kümmern uns darum. Was ist mit Anna?«
»Das übernehme ich. Bis später.« Sebastian beendete das Gespräch, zückte sein Handy und rief Annas Nummer auf. Er wollte sie bitten, die Schwangeren und die jungen Mütter, die sie als Hebamme betreute, über die Situation mit dem Trinkwasser zu informieren. »Hallo, Anna, ich hatte gerade Besuch von Conrad«, sagte er, als sie sich meldete, und dann erzählte er ihr, was gerade in seinem Sprechzimmer beschlossen wurde.
*
Das Labor in der Kreisstadt war in einem modernen Gebäude mit bodentiefen Fenstern am Ortseingang untergebracht. Das junge Mädchen, das in dem weitläufigen Empfangsraum hinter dem Tresen saß, hatte Ilka gebeten, in der Sitzecke Platz zu nehmen, bis die zuständige Laborantin Zeit für sie hatte. Während sie geschäftig telefonierte, sah sie Ilka immer wieder mit einem freundlichen Lächeln an, so als wollte sie sich vergewissern, dass sie noch da war.
Nach einer Viertelstunde stieg eine attraktive junge Frau im weißen Kittel aus dem Lift neben dem Tresen und kam auf Ilka zu. »Bella Imhof«, stellte sie sich vor und reichte Ilka die Hand.
»Ilka Bering, ich habe einige Wasserproben aus Bergmoosbach. Die aus dem Bergsee enthalten Pestizidrückstände. Das genaue Ergebnis der Messung vor Ort hat Herr Lichtner, der die Proben entnommen hat, dazu gelegt. Eine Überprüfung der Proben aus den Brunnen und des Baches möchten Sie bitte vorranging behandeln, damit wir das Wasser wieder freigeben können.« Ilka reichte Bella Imhof das Kästchen mit den Proben, das Conrad ihr mitgegeben hatte.
»Sie kommen von Conrad Lichtner?«, fragte Bella und sah Ilka mit ihren leuchtend blauen Augen abwartend an.
»Sie kennen ihn?«
»Sogar sehr gut. Wir haben uns allerdings schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Ich habe zwei Jahre in Dänemark gelebt und bin erst seit drei Wochen wieder hier. Wohnt Conrad in der Nähe oder ist er nur beruflich in den Bergen unterwegs?«
»Die Gemeinde Bergmoosbach hat ihn beauftragt, das Quellgebiet zu untersuchen. Er wohnt noch in München.« Ilka fragte sich, wie nah sich diese Bella und Conrad wohl gestanden hatten. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er sie jemals erwähnt hatte.
»Geht es ihm gut?«, fragte Bella.
»Ja, ich denke schon.«
»Ist er inzwischen verheiratet?«
»Nein, ist er nicht, aber verlobt.«
»Mit Ihnen?« Bella betrachtete Ilka mit einem freundlichen Lächeln.
»Ja, mit mir«, antwortete Ilka selbstbewusst.
»Wir hatten auch einmal vor, uns zu verloben, aber irgendwie sind wir dann doch davon abgekommen«, erzählte Bella und lächelte in sich hinein, so als würde sie sich gerade an etwas Schönes erinnern.
»Ich muss dann auch wieder los, Frau Imhof. Conrad hat seine Handynummer und eine Festnetznummer aufgeschrieben, damit Sie ihn auf jeden Fall erreichen können.«
»Ich melde mich, sobald ich etwas weiß. Grüßen Sie Conrad recht herzlich von mir.«
»Ja, das mache ich, auf Wiedersehen«, verabschiedete sich Ilka und gab vor, es eilig zu haben. Diese Bella hatte Conrad offensichtlich einmal viel bedeutet, und sie fragte sich jetzt erst recht, warum er nie von ihr gesprochen hatte. Sie war gespannt, wie er auf die Grüße von ihr reagieren würde.
Conrads Warnung hat sich wohl schon verbreitet, dachte sie, als sie wieder in Bergmoosbach ankam. Vor Fannys Lebensmittelladen drängten sich die Leute, um Saft und Limonade zu kaufen. Überall wurden Wasserkästen aus parkenden Autos in die Häuser geschleppt, und im Hof der Brauerei standen die Dorfbewohner Schlange, die sich dort mit Getränken versorgen wollten.
Das Haus mit dem großen Garten, das Ilka im letzten Jahr von ihrer Großmutter geerbt hatte, lag nicht weit von der Brauerei entfernt am Waldrand. Es hatte einen hellen Anstrich, sonnengelbe Fensterläden und einen Balkon aus dunklem Kiefernholz. Im Erdgeschoss gab es vier Zimmer, und den Dachboden konnte sie ausbauen, wenn sie irgendwann mehr Platz brauchte. Sollte Conrad es wahrmachen und ganz zu ihr ziehen, würden sie gemeinsam über den Ausbau nachdenken.
Conrad saß auf einer Decke auf dem Rasen, als sie in den Garten kam. Er hatte seinen Laptop auf den Knien und arbeitete an einem Diagramm. »Damit uns kein Wert verloren geht«, sagte er, als Ilka ihn mit einem Kuss auf die Wange begrüßte und sich neben ihn setzte.
»So wie dir die Erinnerung an Bella verloren gegangen ist?«
»Was?« Conrad schaute überrascht auf.
»Bella Imhof, ich habe die Wasserproben gerade an sie übergeben. Ich soll dich von ihr grüßen.«
»Ich wusste gar nicht, dass sie wieder hier ist.«
»Warum hast du mir nie von ihr erzählt?«
»Es hat sich nicht ergeben.«
»Bitte, Conrad, wir habe doch schon über unsere Vergangenheit gesprochen«, protestierte Ilka gegen diese Antwort.
»Irgendwann hätte ich dir schon von ihr erzählt.«
»Wolltest du dich noch mit anderen Frauen verloben? Ich meine, außer mit Bella und mir?«
»Siehst du, das wollte ich vermeiden. Jetzt hinterfragst du meine ehrlichen Absichten.«
»Das muss ich doch auch, wenn du dich mit jeder Frau verloben willst.«
»Ich habe mich aber vor dir nicht verlobt, auch nicht mit Bella.«
»Warum nicht mit Bella?«
»Weil uns glücklicherweise rechtzeitig klar wurde, dass wir nicht wirklich zueinander passen. Sie hat zum Beispiel nicht viel übrig für die Berge. Sie ist dann auch nach Dänemark gegangen, als ihr über eine gute Freundin eine Stelle in einem Labor in Kopenhagen angeboten wurde.«
»Offensichtlich findet sie unsere Berge doch nicht ganz so schrecklich, sonst wäre sie jetzt nicht hier.« Ilka war mit Conrads Antworten nicht so recht zufrieden.
»Ich habe keine Ahnung, warum sie wieder hier ist. Verrätst du mir, was ich tun kann, um dich davon zu überzeugen, dass du die Frau bist, die ich liebe?« Conrad klappte seinen Laptop zu, stellte ihn zur Seite und sah Ilka abwartend an.
»Ich weiß nicht, was du tun kannst«, sagte sie und fing seinen Blick auf.
»Es wäre wohl besser gewesen, ich wäre selbst ins Labor gefahren.«
»Weil du sie gern wiedersehen möchtest, verstehe.«
»Nein, um zu vermeiden, dass jetzt so merkwürdige Gedanken durch dein hübsches Köpfchen geistern«, antwortete er lachend und umfasste ihre Hände. »Habe ich dir irgendeinen Anlass gegeben, dass du an meinen Gefühlen für dich zweifeln müsstest?«
»Nein, das hast du nicht getan«, gab Ilka zu. »Tut mir leid, ich weiß gar nicht, was mit mir los ist. Ich bin doch sonst nicht so empfindlich«, entschuldigte sie sich.
»Dann ist alles wieder gut?«
»Ja, ist es«, versicherte sie ihm, weil sie sich auf einmal selbst nicht mehr verstand.
»Komm her«, sagte er und nahm sie zärtlich in seine Arme.
In diesem Moment fühlte sich Ilka wieder ganz leicht. Wie ein Kind, das getröstet werden möchte, kuschelte sie sich an Conrad und schaute auf den Kiefernwald, der sich hinter dem Garten mit seinen bunten Blumenbeeten und Obststräuchern erhob.
Was Conrad und sie betraf, war alles gut, sie musste sich keine Gedanken über ihre Beziehung machen.
»Das ist Sebastian.« Conrad schaute auf das Display seines Handys, das neben ihm auf der Decke lag und laut surrte. »Hallo, Sebastian«, meldete er sich. »Alles klar, ich bin sofort bei dir.«
»Was ist los?«, wollte Ilka wissen, nachdem er das Gespräch beendet hatte.
»Offensichtlich reagieren einige Bergmoosbacher ängstlicher als erwartet auf die Trinkwassersperre. Er meint, dass es helfen wird, wenn ich als Experte etwas dazu sage.«
»Sollen wir eine Bürgerversammlung einberufen?«
»Die Bürger haben sich bereits versammelt und zwar im Hof der Seefelds.«
»Ich komme mit«, sagte Ilka, als Conrad sich zum Gehen bereit machte.
*
»Du meine Güte, das ist heftig.« Ilka wollte ihren Augen nicht trauen, als sie auf der Straße vor dem Haus der Seefelds aus Conrads Geländewagen stiegen. Im Hof und in der Auffahrt zur Praxis drängten sich aufgeregte Dorfbewohner.
»Leute, jetzt beruhigt euch doch mal. Ich sehe hier niemanden, der an einer akuten Vergiftung leidet.« Ein gut aussehender älterer Herr mit sportlicher Figur und silbergrauem Haar stand auf der Bank, die den Stamm der Ulme einfasste, und versuchte, die Dorfbewohner zu beruhigen.
»Aber die Hedwig und ich fühlen uns seit ein paar Tagen nicht gut, Doktor Seefeld«, erklärte eine korpulente Frau, die genau wie die ebenso korpulente Frau neben ihr ein hellblaues Dirndl und ein graues Lodenhütchen trug.
»So ist es«, stimmte Hedwig Lohmeier ihrer Zwillingsschwester Heidi zu und sah Sebastians Vater vorwurfsvoll an.
»Hautausschlag, Übelkeit, Kopfschmerzen, habt ihr das?«, erkundigte sich die Frau mit den grauen Löckchen und den fröhlichen dunklen Augen, die in der Haustür der Seefelds stand.
»Uns ist eben unwohl, und da helfen deine Kräuter sicher nicht«, wandte sich Hedwig Lohmeier an Traudel, die in ihrem Garten auch Heilkräuter anbaute.
»Niemand muss sich Sorgen machen. Die Warnung, das Trinkwasser erst einmal nicht zu verwenden, ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.« Conrad hatte sich durch die Menge gedrängt und war neben Benedikt auf die Bank gestiegen. »Es gibt bisher absolut keine bedenklichen Werte. Sobald das Labor die von mir gemessenen Werte bestätigt, wird die Warnung aufgehoben«, versicherte er den Bergmoosbachern.
»Aber ganz sicher sind Sie wohl nicht, dass das Wasser in Ordnung ist, sonst hätten Sie uns ja nicht gewarnt.« Die hagere Frau in dem grauen Dirndl sah Conrad herausfordernd an.
»Frau Draxler, ich bleibe dabei, dass es bisher keine bedenklichen Werte gibt«, beruhigte Conrad die zweite Vorsitzende des Landfrauenvereins.
»Talhuber spricht von einer ungeklärten Ursache. Wann wissen wir mehr?«, fragte Therese Kornhuber, die erste Vorsitzende.
»Wir müssen die Analyse abwarten. Herr Talhuber wird Sie über den Verlauf der Untersuchung informieren«, versicherte Conrad der stattlichen Frau in dem grünen Dirndl.
»Es gibt Menschen, die reagieren aber äußerst sensibel auf solche Verunreinigungen. Meine Schwester und ich gehören zu diesen Menschen«, meldete sich Heidi Lohmeier wieder zu Wort.
»Wer sich nicht wohlfühlt, wird behandelt, das ist doch keine Frage. Wer also tatsächlich davon ausgeht, dass er sich etwas eingefangen hat, der kann zur Sondersprechstunde kommen, die ich jetzt einrichte. Gebt uns eine Viertelstunde zur Vorbereitung, dann könnt ihr euch bei Gerti anmelden. – Erzählen Sie ihnen irgendetwas, was sie beruhigt«, raunte Benedikt Conrad zu und stieg von der Bank herunter.
»Auf unsere Seefelds ist halt immer Verlass, sie lassen uns nicht im Stich«, erklärte Heidi Lohmeier zufrieden und erntete zustimmendes Gemurmel.
»Hören Sie, das Wasser, das Sie bisher getrunken haben, gehört zu den reinsten unseres Landes. Selbst mit einer geringfügigen Verunreinigung stellt es keine Gefahr für Ihre Gesundheit dar«, versicherte Conrad den Bergmoosbachern erneut.
»Er hat recht, ihr werdet jetzt nicht reihenweise umfallen. Das ist ausgeschlossen«, schaltete sich nun auch Ilka ein.
»Ihr wollt uns doch nur beruhigen. Wahrscheinlich heißt es morgen schon, dass wir mit unserem Wasser nicht einmal mehr duschen können«, bekundete Elvira Draxler ihr Misstrauen.
»Das ist Unsinn. Ich werde euch beweisen, dass es bisher keinen Grund zur Sorge gibt.« Ilka hatte gerade eines der Glasröhrchen in ihrer Jackentasche ertastet, das eine Wasserprobe aus dem Bach enthielt, die sie auf einem kurzen Abschnitt versehentlich doppelt entnommen hatten. »Seht her.« Sie schraubte das Röhrchen auf und trank das Wasser. »Würde ich das tun, wenn ich eine Vergiftung befürchten müsste?«
»Es gibt auch Spätfolgen«, gab Therese Kornhuber zu bedenken.
»Denken Sie, ich hätte es zugelassen, dass sie das trinkt, wenn es so wäre?«, fragte Conrad, obwohl er es nicht wirklich für gut befand, dass Ilka das gerade getan hatte.
»Dann ist es wirklich nur eine Vorsichtsmaßnahme?«, vergewisserte sich Therese.
»Richtig, und sie betrifft die Zukunft. Da die Ursache für die Verunreinigung ungeklärt ist, wissen wir nicht, ob sie vielleicht morgen zunimmt. Aber bisher besteht absolut keine Gefahr.«
Offensichtlich hatte Ilkas Einsatz die Bergmoosbacher zum Nachdenken gebracht. Nach zehn Minuten hatten die meisten den Heimweg angetreten. Nur die Überängstlichen waren geblieben und nahmen Benedikts Sprechstunde wahr. Auch Heidi und Hedwig Lohmeier, die sich schon seit Tagen nicht wohlfühlten, wie sie behaupteten, gingen zu ihm.
Nachdem der Hof sich geleert hatte, lud Traudel Ilka und Conrad zu Kaffee und Kuchen ein. Sie saßen an dem großen Esstisch in der hellen Landhausküche, und Traudel ließ sich von Conrad noch einmal bestätigen, dass das Trinkwasser in Bergmoosbach tatsächlich ausgezeichnet war.
»Hallo, ihr beiden, ihr sorgt ja für ganz schön viel Aufregung«, sagte Emilia, die am späten Nachmittag von einem Besuch auf dem Mittnerhof zurückkam.
Nolan, der das Mädchen begleitet hatte, hockte sich vor die Spüle und schaute sehnsüchtig auf den Wasserhahn. Als Traudel aufstand und den Rest aus einer Flasche Mineralwasser in den sauberen Metallnapf füllte, der neben der Terrassentür stand, sah der Berner Sennenhund sie erstaunt an.
»Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte Traudel lächelnd, als Emilia sie ebenso erstaunt ansah.
»Die Kühe und die Ziegen auf dem Mittnerhof trinken aber das Wasser aus dem Brunnen auf ihrer Weide.«
»Solange die Gemeinde nur eine Warnung ausspricht und kein Verbot, kann sie die Landwirte nicht zwingen, ihr Vieh mit anderem Wasser zu versorgen.«
»Aber dann ist die Milch doch verseucht.« Emilia zog die weiße Strickjacke aus, die sie zu Jeans und gelbem T-Shirt trug, und warf sie in einem eleganten Bogen auf das Sofa im Wohnzimmer. Danach setzte sie sich zu den Erwachsenen an den Tisch und nahm sich ein Stück von dem Schokoladenrührkuchen, den Traudel erst am Vormittag gebacken hatte.
»Im Moment ist es noch nicht wirklich gefährlich, ich werde die Brunnen auch gleich morgen früh wieder überprüfen, und sobald das Labor ein Ergebnis hat, werden wir die Lage neu beurteilen«, beruhigte Conrad Sebastians Tochter.
»Hallo, Papa«, begrüßte Emilia ihren Vater, der aus der Praxis kam und in die Küche schaute. »Bleibt es dabei, dass du mit mir und Doro zum Gestüt Sonnenbach fährst? Ich habe dir schon ein Pferd für unseren Ausritt reservieren lassen.«
»Tut mir leid, Spatz, das müssen wir verschieben. Dein Großvater hat eine Sondersprechstunde für die besorgten Bürger beschlossen, und ich kann ihn damit nicht allein lassen.«
»Wenn Sie etwas über die Beschaffenheit des Wassers wissen wollen, dann sollten sie mit Conrad sprechen. Oder willst du nicht mit ihnen sprechen?«, wandte sie sich an den jungen Geologen.
»Doch, schon, aber es gibt wohl einige, die meinen, dass sie bereits durch das Wasser erkrankt sind, und die wollen mit ihrem Arzt sprechen.«
»Was hast du denn gefunden? Irgendeinen Anhaltspunkt wird es doch geben?«
»Es geht um Pestizide, Emilia. Herr Talhuber möchte aber nicht, dass das bekannt wird, bevor die endgültige Wasseranalyse vorliegt«, klärte Sebastian Emilia auf.
»Welche Pestizide?«
»Vermutlich Rückstände von Unkrautvernichtungsmitteln«, sagte Conrad.
»Aber da oben gibt es doch keine Landwirtschaft. Woher kann denn das kommen? Wow, illegale Abfallentsorgung«, beantwortete Emilia ihre Frage gleich selbst, als Conrad nicht gleich reagierte und zuerst Sebastian anschaute, so als wollte er ihm die Antwort überlassen. »Gibt es schon irgendeinen Hinweis, wo das Zeug lagern könnte?«
»Nein, noch nicht, möglicherweise gibt es ja auch eine andere Erklärung. Deshalb behalte dein Wissen für dich«, bat Sebastian seine Tochter.
»Aber ich finde es nicht richtig, dass ihr den Leuten die Wahrheit verschweigt. Es betrifft sie doch schließlich alle.«
»Das stimmt, aber Herr Talhuber befürchtet, dass die Landwirte unter Verdacht geraten, und das will er vermeiden. Stell dir vor, sie würden vielleicht auf die Idee kommen, Anton Mittner hätte dieses Zeug im See entsorgt.«
»So etwas würden die Mittners nie tun, Papa.«
»Ich weiß, aber wenn Menschen sich bedroht fühlen, reagieren sie nicht mehr logisch.«