Es beginnt mit einer Postkarte: Sie habe in ihrer Wohnung versehentlich ein Fenster offen gelassen, schreibt Magda an ihre Hausmeistersfrau Maria in der Stadt. Magda schreibt es von einer Mittelmeerinsel, auf die sie sich nach diversen Schicksalsschlägen zurückgezogen hat. Das Fenster wird geschlossen – ein Briefwechsel beginnt, in dem sich die beiden so unterschiedlichen Frauen einander immer mehr annähern und schließlich Freundinnen werden. Sie erzählen ihre Lebensgeschichten. Kränkungen, Lebensleiden oder Liebesverluste werden noch einmal durchlebt, lang unterdrückte Tränen endlich geweint. Die schlichte, warmherzige Maria entdeckt die Macht der Wörter und das Vergnügen, sich schreibend mitzuteilen. Mit neuem Selbstbewusstsein nimmt sie ihr Schicksal in die Hand, während Magda neuen Mut schöpft und zurück ins Leben kehrt.
Ein gefühlvolles, lebendiges, mitreißendes Buch voller Hoffnung und Sehnsucht.
Erika Pluhar, 1939 in Wien geboren, war nach ihrer Ausbildung am Max-Reinhardt-Seminar lange Jahre Schauspielerin am Burgtheater Wien. Sie hat Filme gedreht und ist auch als Sängerin erfolgreich, textet und interpretiert Lieder. Bislang veröffentlichte sie mehrere Romane, Gedicht-, Lieder und Erzählungsbände. 2009 erhielt sie den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln.
Im insel taschenbuch liegen außerdem vor: Spätes Tagebuch. Roman (it 4091), PaarWeise. Geschichten und Betrachtungen zur Zweisamkeit (it 4183); Im Schatten der Zeit. Roman (it 4247).
Reich der Verluste
Roman
Insel Verlag
eBook Insel Verlag Berlin 2014
Hinweise zur Textgrundlage
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4282.
Copyright © 2005 by Erika Pluhar
Copyright Deutsche Erstausgabe © 2005 DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln
Copyright dieser Ausgabe © Insel Verlag Berlin 2014
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Umschlagfoto: Evelin Frerk
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
eISBN 978‐3‐458‐73379‐9
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Sie lag auf dem Rücken, die Beine und Hände ausgestreckt. Es war ihr, als läge sie in einem ausgesparten Raum, den die Welt unberührt ließ. Nichts mehr drang zu ihr her, kein Hauch, nicht einmal ein so ferner, wie er von der Schwinge eines Vogels hoch im Raum ausgeht. Todesstille umschloß sie. Der Verlust von Leben.
Verlust, dachte sie. Seltsam, daß darin das Wort Lust steckt. Kommt doch von verlieren, und verlieren ist keineswegs lustig. Oder hat Lust etwas mit verlieren zu tun? Bereitet uns nur Lust, was dazu da ist, wieder verloren zu werden? Ist das Verlieren die Grundlage jeder Lust? Auch der Lebenslust? Weiß der Teufel.
11. Mai
Liebe Frau Schübler,
auf dieser Postkarte sehen Sie die Insel. Ich hab mit der Füllfeder einen Punkt gemacht, wo der kleine Hafen liegt und das Dorf. – Eine Bitte! Mir ist eingefallen, daß ich in der Abstellkammer das Klappfenster offengelassen habe. Da ich ja noch Monate wegbleibe, wäre sicher von Vorteil, man würde es schließen. Könnten Sie das tun, wenn Sie bei mir oben das nächste Mal gießen? Dank im voraus!
Ich hoffe, es geht Ihnen gut, und niemand im Haus macht Scherereien. Herzlich grüßt Sie
Ihre Magda Bernsteiner
17. Mai
Liebe Frau Bernsteiner!
Eigentlich wollte ich Sie anrufen, aber ich weiß keine Nummer. Um zu sagen, daß Sie eine gute Idee gehabt haben. Es war nämlich eine Taube in der Abstellkammer, die hat sich verirrt, und ein großer Wirbel mit ihr. Lukas hat mir geholfen, sie wieder hinauszukriegen, und ich habe alles geputzt.
Jetzt ist das Fenster zu.
Die Insel sieht schön aus. Ich habe leider im Moment nur diese Karte mit den Margeriten, wollte Ihnen aber rasch schreiben, Adresse weiß ich ja. Erholen Sie sich gut!
Das wünscht Ihnen mit den besten Grüßen Ihre
Maria Schübler
25. Mai
Meine liebe Maria Schübler,
da bin ich Ihnen aber von Herzen dankbar, und dem Lukas auch. Und natürlich auch mir selbst, weil ich gottlob diesen Einfall hatte! Stellen Sie sich vor, die Taube wäre unentdeckt geblieben, hätte nicht mehr hinausgefunden und in meiner Kammer ihren Tod gefunden … Nein, stellen Sie sich das lieber nicht vor. Vor allem nicht, wie meine Wohnung schließlich gerochen hätte …
Es sind herrliche Tage hier, das Meer ist manchmal wirklich so blau wie auf dieser Karte. Wie ist denn das Wetter daheim? Hoffentlich schlecht! Das erhöht nämlich immer den Genuß, wenn man weit weg ist und sich an einem Ort befindet, wo unermüdlich die Sonne scheint!
Grüße von Magda B.
31. Mai
Liebe Frau Bernsteiner! Ich wünsche Ihnen viel Genuß, Sie können ihn brauchen, aber es tut mir leid, wir haben auch einen sehr schönen Mai. Die Kastanien hinter dem Haus blühen wie verrückt. Wenn ich Zeit habe, setze ich mich unter den Bäumen auf eine Parkbank. So, wie Sie das oft tun.
Die Sonne soll sehr unermüdlich auf Sie scheinen!
Ihre Maria Schübler
5. Juni
Liebe Maria,
dieser Brief erreicht Sie über mein Büro, eines der Mädchen kommt bei Ihnen vorbei, wundern Sie sich bitte nicht. Ich habe ihn gefaxt, die Post geht ja so schwerfällig hin und her. Wenn Sie mir antworten wollen, bringen Sie doch einfach Ihren Brief in die Humboldtgasse 8 (gleich bei uns, rechts um die Ecke, Firma Ölig-Versand) zu Herrn Peter Kreuz, der faxt ihn mir dann hierher ans Postamt der Insel. Da haben sie ein Faxgerät, ich habe es durch Zufall entdeckt, als ich was aufgegeben habe.
Heute regnet es. Ich sitze im Zimmer, vor der geöffneten Balkontüre. Das Meer ist grau, die Schaumkronen jedoch blendend weiß, als würden sie von irgendwoher beleuchtet. Und das, obwohl die Wolken tief hängen und der Tag sehr düster ist.
Vielleicht wundern Sie sich, liebe Maria Schübler, daß ich Sie Maria nenne und Ihnen jetzt einen Brief schreibe. Es geschieht, weil ich Vertrauen zu Ihnen habe und mich an einen vertrauenswürdigen Menschen wenden muß. Sonst sterbe ich hier. Ich sage Ihnen das in aller Offenheit und hoffe, daß Sie sich davon nicht belästigt fühlen. Sollte mein Schreiben Sie irritieren, dann antworten Sie mir einfach nicht, ja?
Tatsache ist, daß mir alle Menschen abhanden gekommen sind, denen ich sonst schreiben könnte. Sie wissen, glaube ich, daß es mir sehr schlecht gegangen ist, eine Zeitlang. Ich wollte mich hier erholen. Jetzt weiß ich, daß ich hier mein Ende finden werde. Nicht unbedingt den Tod, aber das Ende aller Hoffnung. Ich habe die Zukunft hinter mir gelassen, verstehen Sie?
Ob ich diesen Brief wirklich faxen lasse? Herr Kreuz ist sehr diskret, er würde ihn ungelesen in ein Kuvert stecken und Ihnen bringen lassen. Aber ich habe Sorge, Sie zu verwirren. Außer, daß Sie wöchentlich bei mir saubermachen und meine Pflanzen gießen, wenn ich weg bin, hat uns bisher nur verbunden, daß wir freundlich zueinander waren. Obwohl das, an der Unfreundlichkeit der Welt gemessen, sehr viel ist. Sie kennen mich nicht, und ich kenne Sie nicht. Aber daß Ihnen aufgefallen ist, wie oft ich unter den Kastanienbäumen gesessen bin, in letzter Zeit, läßt mich irgendwie annehmen, daß Ihnen auch mein Zustand aufgefallen ist. Und daß Sie eine Taube davor bewahrt haben, in meiner Abstellkammer zu verrecken –
Und daß Sie ein Gesicht haben, an das ich mich gerade jetzt sehr genau erinnere – energisch und sanftmütig zugleich – Sie haben meist leicht gerötete Wangen, vielleicht, weil Sie viel körperlich arbeiten –
Liebe Frau Schübler, sollte Ihnen lästig sein, das zu lesen, dann werfen Sie den Brief weg. Daß ich jetzt durch den Regen zum Postamt wandern werde, eine gute Stunde lang, tue ich nur, um Zeit zu vernichten. Die Zeit liegt so unbeweglich um mich, daß ich fast an ihr ersticke. Verzeihen Sie mir.
Magda
6. Juni
Liebe Frau Magda Bernsteiner.
Sie machen einem aber Sorgen. Gestern gegen Abend hat mir ein Fräulein den Brief gebracht, ich wollte gleich antworten, aber der Lukas wollte nach dem Abendessen unbedingt ins Kino. Heute bringe ich den Brief gleich zum Fax in Ihre Firma. Was ist denn los mit Ihnen? Bevor Sie dort sterben, kommen Sie lieber rasch wieder zurück. Und es waren doch immer wieder viele Freunde bei Ihnen zu Besuch, ich weiß es vom Wegräumen, wo sind denn die auf einmal alle? Daß Sie so gar niemand haben? Aber wenn es Ihnen einfällt, schreiben Sie immer mir. Ich bin nicht geschickt im Antworten, aber lesen kann ich gut. Auch unter den Zeilen, wie man so sagt. Ihnen geht es nicht gut, und dazu der Regen, glaub ich. Das ist nicht gut an einem Meer, wenn man allein ist. Ich hoffe, Sie schreiben mir bald wieder. Herzliche Grüße
Ihre Maria
(bitte sagen Sie unbedingt Maria zu mir!)
8. Juni
Liebe Maria,
ich habe fest angenommen, daß Sie mir nicht antworten werden. Ehrlich gesagt habe ich mich geschämt, nachdem mein Brief gesendet wurde und ich danach das Original nochmals gelesen habe. Gestern haben die vom Postamt bei meinem Zimmerwirt angerufen, daß für mich ein Fax bei ihnen läge, und heute habe ich es mir geholt. Es regnet nicht mehr, mir war sogar sehr heiß beim Wandern. Ich habe hier kein Auto und mache alle Wege zu Fuß.
Ich bin sehr dankbar, daß ich Ihnen schreiben darf.
Ja, es gab reichlich Menschen in meinem Leben, aber da ist etwas bei mir ausgebrochen, das sie alle vertrieben hat. Ich glaube, es lag daran, daß ich begonnen habe, Menschen zu suchen. Man darf Menschen nicht suchen. Nur finden. Und dann kam da noch meine Krankheit, vor der jeder – oder fast jeder – zurückschreckt. Keine Sorge, Maria, ich habe nicht Krebs. Nichts, das für meinen Körper lebensbedrohend wäre. Aber ich wurde gemütskrank. Ihnen gegenüber verwende ich lieber diesen einfachen Ausdruck, denn ich möchte Ihnen nicht erzählen, was Depressionen sind, es deprimiert mich zu sehr.
Während ich den letzten Satz geschrieben habe, mußte ich lachen. Ich sitze unter einem Olivenbaum, neben mir eine Steinbrüstung, dahinter das Meer, und lache laut vor mich hin. Sie sehen also – es ist nicht so, daß ich das Lachen verlernt hätte. Oder das Schöne um mich herum nicht wahrnehmen könnte. Oder auf Menschen, denen ich flüchtig begegne, einen düsteren oder kranken Eindruck mache. Aber ich kann nicht leben.
Wieder habe ich das Gefühl, daß ich Ihnen nicht schreiben soll, daß ich Sie mit solchen Mitteilungen überfordere. Deshalb werde ich jetzt, ehe ich weiter an Sie schreibe, diesen Brief losschicken und Sie nochmals fragen, ob es Ihnen nicht zu blöd ist. Und was sagt sich denn Lukas, wenn er das mitbekommt? Ich möchte vor allem keinen Menschen belästigen. Wie kommen Sie dazu, daß ich Sie mir quasi zur Briefpartnerin erwählt habe.
Bitte antworten Sie mir ehrlich, ich brauche das. Meine Unsicherheit ist so groß geworden. Nie bin ich mir sicher, ob Menschen nicht annehmen, ich würde mich auf sie stürzen, wenn ich nichts anderes zu tun glaube, als menschliche Nähe zu beanspruchen.
»Beanspruchen« ist auch so ein Wort, und es ist mir jetzt entwischt. Auf etwas Anspruch haben. Das bezweifle ich eben. Daß ich auf etwas Anspruch haben dürfte. Auch nicht auf Ihre Nettigkeit. Ich glaube, das war jetzt mein letzter Brief an Sie. Trotzdem schicke ich den noch ab. Sie sehen, in allem bin ich inkonsequent und ungenau.
Vergessen Sie mich lieber.
Magda
9. Juni
Liebe Frau Magda.
Daß eine so gescheite Frau wie Sie sich so viele dumme Gedanken macht, hätte ich nie geglaubt. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, weil ich das so hingeschrieben habe. Aber es ist meine Meinung, tut mir leid. Ich bin geehrt von Ihren Briefen, verstehen Sie? Mein Mann Lukas ist ja einigermaßen in Ordnung, bis auf ein paar Sachen, aber er ist dumm. Sie wissen, was ich meine, weil Sie ihn kennen. Ich habe auch nur die Hauptschule besucht und bin ungebildet. Aber ich wollte schon immer was lernen, was nicht Putzen und Waschen und Bügeln ist. Wenn Sie sich mit mir unterhalten haben, habe ich mich deshalb gefreut. Weil ich mich so gefühlt habe, als würde ich etwas lernen können dabei. Verstehen Sie mich? Jetzt habe ich gut das Wort »beanspruchen« gelernt. Tun Sie das bitte. Mich beanspruchen. Was der Lukas dazu sagt, ist unwichtig, weil er eh nie was sagt. Was Gescheites, meine ich.
Es ist so traurig, daß Ihr Gemüt krank ist. Man muß es doch wieder reparieren können, oder? Vielleicht, wenn Sie mir erzählen, warum? Denn ich bin kein Doktor, nur eine menschliche Nähe, wie Sie geschrieben haben. Ihre Briefe stürzen sich nicht auf mich, ich geh immer zum Herrn Kreuz fragen, ob einer gekommen ist. Am Wochenende legt er mir die Kuverts zum Portier, hat er gesagt, und ich kann immer kommen zum Faxen. Wenn Sie glauben, daß ich eine Briefpartnerin bin, bin ich stolz. Ich war in meinem Leben noch nie eine Briefpartnerin, von niemandem. Und jetzt von jemand so Gescheitem, wo ich doch so schlecht schreibe! Aber ich schreibe Ihnen gerne. Ich habe mir einen Schreibblock gekauft dafür.
Ich hoffe, Sie wandern bald zu dem Postamt, damit Sie das lesen. Auf Ihre Antwort freut sich Ihre
Maria
11. Juni
Liebe Maria,
der Postbote bringt mir jetzt schon Ihre Briefblätter! Ich bin vor dem Haus gesessen und er hat damit aus dem Autofenster gewunken, als er gefahren gekommen ist. Ich danke Ihnen sehr. Und da Sie mich so reizend dazu ermutigt haben, bin ich also so frei, in Ihnen für eine Weile meine Briefpartnerin zu sehen. Ich betone nochmals, daß das aber ja nicht zu einer Belästigung werden darf! Käme es soweit, müßten Sie es mir sofort mitteilen, darum bitte ich Sie von Herzen.
Heute hängen die Wolken wie große weiße Blumen im blauen Himmel und rühren sich kaum von der Stelle. Da es so windstill ist, wirft das Meer keine Wellen auf, sondern wiegt sich nur leise dem Ufer zu. Es ist sehr heiß heute, für einen Junitag. Ich sitze im Schatten und habe eine Sonnenbrille auf, weil das Licht so blendet. Auch ich, liebe Maria, habe mir einen Briefblock gekauft, und ganz viele dünne Filzstifte, damit sie mir ja nicht plötzlich ausgehen. Sie sehen, ich habe viel vor.
Ich möchte Ihnen sehr viel erzählen von mir. Da ich mein Leben lang geschwiegen habe, wenn es um mich ging, ist das für mich ein ziemlich schwieriges Vorhaben. Aber ich kann mir ja Zeit lassen, da wir beide nichts beschlossen haben, außer Briefe zu beantworten. Wie ich Ihnen schon sagte, ich habe zuviel Zeit. Wenn man auf nichts mehr zugeht, scheint auch die Zeit nicht mehr zu vergehen. Ich fühle mich wie eine dieser Wolken, die vor mir so unendlich langsam über das Meer geweht werden, daß man meinen könnte, sie wären am Himmel festgebunden.
Der Unterschied ist, daß ich eher in einer Hölle festgebunden bin. Diese Hölle ist mein Ich, dem ich nicht entrinnen kann, das mich so qualvoll schwer ausfüllt, daß es mich wie ein Sack Steine immer wieder ins Dunkle hinunterzieht, sobald ich ein klein wenig Anhöhe und Licht erklommen zu haben meinte.
Ich glaube, daß ich schon unglücklich zur Welt kam.
Jedenfalls umschloß mich das Leid meiner Mutter bereits als Fötus, das Fruchtwasser, in dem ich schwamm, schmeckte nach ihren ungeweinten Tränen. Ich weiß das, ohne je mit ihr darüber gesprochen zu haben, ich weiß es einfach, so, als könnte ich mich genau daran erinnern. Und dieses Wissen, diese Erinnerung reicht noch weiter zurück. Gegen ihren Widerstand, gegen ihren Aufschrei wurde ich im Leib meiner Mutter gezeugt, das Glied meines Vaters drang in sie ein wie ein Schwert, sein Samen nistete sich ein als Krankheit. Sie fühlte mich in sich wachsen wie ein Geschwür. Daß sie dann doch ein Kind gebar und Mütterlichkeit entwickelte, geschah unter Zwang. Man hatte sie gegen ihren Willen mit dem Bürgermeister des kleinen Dorfes verheiratet, sie war eines von vielen Kindern einer Kleinhäuslerfamilie, und diese gute Partie durfte nicht ausgeschlagen werden. Mein Vater war ein roher Mensch. Er schlug meine Mutter. Er schlug sehr bald auch mich. Es ist so, Maria, daß ich mich auch heute noch nicht an sein Gesicht erinnern kann, ohne es zu hassen. Und wenn ich meine eigenen Augen im Spiegel sehe, haben sie Form und Farbe der seinen, diese großen Augäpfel und das helle Graugrün, kalt wie Gletschereis. Ich hasse meine Augen, wenn ich mich selbst ansehe. Und erst wenn sie sich mit Tränen füllen, kann ich ihnen verzeihen, denen meines Vaters so ähnlich zu sein. Zu oft hat er meine Mutter und mich mit Eiseskälte in den Augen gemustert, mit derselben Verachtung von Leben, wie wohl ein Schlächter das Vieh betrachtet. Ich weiß nicht, warum er meine Mutter zur Frau wollte. Vielleicht, weil er irgendeine wollte, und möglichst eine aus armen Verhältnissen, die keine Ansprüche stellt. Außerdem war meine Mutter sehr schön. Ja, sie war ein ungewöhnlich schönes Mädchen, gemessen an den dörflichen Maßstäben. Damals gab es noch diese Dörfer, die, von der Zivilisation nur schwach beatmet, in nahezu archaischer Weise sich selbst überlassen blieben. Später hat sich das rasch verändert, Zeit und Welt haben auch die entlegensten Winkel unseres Landes erobert, aber meine Mutter mußte noch eine Kindheit und Jugend durchleben, die von Gesetzen bestimmt war, die in ihrer Allmacht und Tyrannei denen eines abgesonderten Wüstenstammes nicht unähnlich waren. Oder vielleicht noch um vieles einengender waren, weil die Enge der Bergtäler sie bestimmte, wo der Blick des Menschen gegen Hänge prallt und nicht frei bis zu den Horizonten ausschweifen kann. Frauen galten im Dorf einzig als Arbeitskräfte, wenn sie nicht gerade Kinder gebaren. Als Kind schon rackerte meine Mutter auf den Feldern, man ließ sie zur Erntezeit nicht zur Schule gehen. Daß sie dennoch lesen und schreiben lernte und nach Büchern Ausschau hielt, galt als zum Himmel schreiende Untugend, die ihr schnell ausgetrieben werden sollte. Gottlob warf der unverheiratete und wohlhabende Bürgermeister sehr bald sein Auge auf sie, die Hochzeit wurde bestellt, als sie noch keine achtzehn war, und somit schien für die Eltern die Zeit der Flausen beendet. Man schickte ein schönes, noch unverletztes, lernbegieriges Mädchen davon, ohne ihm irgend etwas erklärt, es auf irgend etwas vorbereitet zu haben. Meine Mutter gehorchte, weil sie nichts anderes kannte, als zu gehorchen. Sie zog das Hochzeitskleid an und staunte in das Fressen und Grölen und Stampfen eines Festes hinaus, das ihr zu gelten und sie dennoch nicht zu meinen schien. Später legte sie sich in der Stube auf ein Bett, weil das so sein mußte. Der Ehemann brach in sie ein, nach neun Monaten brach ich aus ihr heraus, und eine zerbrochene Frau zog mich groß.
Ach du meine Güte. Ich habe so lange geschrieben, daß mittlerweile die Sonne sinkt. Der Horizont ist feuerrot, und dieses glühende Licht hat mich darauf aufmerksam gemacht, endlich mit dem Schreiben aufzuhören. Auch möchte ich Ihnen den Brief heute noch zusenden. Als würde ich gern alles rasch loswerden, was ich Ihnen berichte. Mein Bericht ist nicht sehr erheiternd, ich weiß. Mir ist, als würfe ich Ihnen eine Last zu, die ich nicht mehr tragen kann. Können Sie es, Maria? Ertragen, was und wie ich Ihnen schreibe? Bitte ehrlich sein!
Ein eiliger Gruß.
Magda
12. Juni
Liebe Frau Magda. Ich bin ganz ehrlich und antworte Ihnen gleich heute. Gestern bin ich den ganzen Abend über Ihrem Brief gesessen, ich wollte ihn genau verstehen, weil Sie die Worte manchmal so schreiben, wie ich es nie gelernt habe. Und Sie machen so feine, lange Sätze, daß ich geglaubt habe, ich lese in einem Buch. Und dann habe ich geweint. Und dann den Lukas angebrüllt wie schon lange nicht mehr, weil er mich ausgelacht hat. Wer weint denn über einen Brief, hat er gesagt, doch nur ein Trottel! – Bin ich halt ein Trottel, habe ich dann gesagt, wie ich nicht mehr gebrüllt habe, nur laß du mich jetzt bitte in Ruhe, weil du verstehst das nicht. Und das stimmt, glauben Sie mir.
Ach Frau Magda, das hätte ich nie gedacht, daß Ihre Mutter noch so hart hat leben müssen. Ich habe immer geglaubt, Sie kommen aus einem vornehmen Haus, so wie Sie sprechen und schreiben, und wie Sie angezogen sind, und Ihre Wohnung. So viele Bücher haben Sie. Am Anfang habe ich manchmal gestöhnt, ich gebe es zu, weil das Abstauben viel Arbeit macht. Sie haben immer gesagt, ich muß die Bücher gar nicht so oft abstauben, einmal im Jahr genügt. Aber mit der Zeit habe ich Freude daran gehabt, die Bücher abzustauben, weil ich sie mir dabei angeschaut habe, und auch immer öfter hineingeschaut und ein paar Zeilen gelesen. Manchmal hätte ich Lust gehabt, gleich das ganze Buch zu lesen, aber ich hab ja weitermachen müssen. Keine Angst, Frau Magda, ich habe Ihnen die Zeit am Bücherregal nie verrechnet, das war ja schließlich meine Zeit. Ich hoffe, Sie sind mir jetzt nicht böse, daß ich in Ihre Bücher hineingeschaut habe und Ihnen das nicht gesagt habe. Aber eigentlich glaube ich nicht, daß Sie mir deshalb böse sind. Ich wollte auch über ganz was anderes schreiben. Erstens, daß ich gut ertragen kann, was Sie mir schreiben. Ich habe genug Kraft zum Tragen, und das nicht nur, wenn ich Ihre Oleanderbäume vom Balkon in den Keller trage, wo Sie dann immer sagen: Frau Schübler, das sollten Sie nicht tun, es ist zu schwer für Sie. Sie wissen doch, jeden Herbst sagen Sie das, und ich lache und trage die Kübel wie nix hinunter. Also werfen Sie mir Ihre Lasten nur zu. Nur eines von allem, was Sie geschrieben haben, mag ich überhaupt nicht, ganz ehrlich gesagt. Nämlich, daß Sie Ihre eigenen Augen hassen. Wo Sie so schöne Augen haben. Die haben eine sehr schöne Farbe und sind so groß, wie Augen selten sind. Sogar der Lukas hat einmal gesagt, daß er sich in Ihre Augen verlieben könnte, wenn Sie noch jünger wären und keine alte Dame.
Eigentlich wollte ich das Letzte durchstreichen – aber Sie hätten es gemerkt, und ich möchte nicht die ganze Seite noch einmal schreiben. Außerdem haben Sie einmal zu mir gesagt, daß Älterwerden zum Leben gehört und daß man nicht lebt, wenn man davon nichts wissen will. So oder so ähnlich haben Sie es gesagt, und ich habe mir das gut gemerkt. Ich bin jetzt siebenunddreißig, und auch bei mir tut der Lukas schon manchmal so, als wäre ich ihm zu alt. In der Hinsicht sind die Männer echt blöd. Selber schaun sie aus wie ausgespuckt, mit einem Bauch oder einer Glatze, haben nur Falten im Gesicht, aber junge Mäderln wollen sie haben.
Wieder schreibe ich viel zu viel über was, was ich gar nicht schreiben wollte. Ich komme ins Schreiben bei Ihnen, Frau Magda, als würde ich mit Ihnen reden, so viel geschrieben in einem Zug hab ich noch nie. Meine Mutter war auch eine sehr arme Frau, und ich bin unehelich geboren, keine Ahnung, wer mein Vater war, und deshalb hat sie mich nur in die Hauptschule geschickt, und dann husch, husch zum Arbeiten. Wie haben Sie es denn geschafft, eine gescheite Frau zu werden? Die richtige gute Sätze schreiben kann? Auch wenn diese Sätze mich zum Weinen gebracht haben, freue ich mich auf alles, was Sie mir erzählen wollen, auch wenn es schrecklich oder traurig ist, ich freue mich, daß Sie es mir schreiben. Ich geh jetzt meinen Brief aufgeben, der Ölig-Versand hat sicher noch offen. Ihr Fax hab ich gestern später geholt, es ist wirklich beim Portier gelegen, der Herr Kreuz ist ein netter Mann, sehr zuverlässig. Herzliche Grüße von Ihrer Maria
13. Juni
Liebe Maria,
eigentlich habe ich gleich weitergeschrieben, nachdem ich Ihnen das letzte Fax zugeschickt habe. Ich war grade noch rechtzeitig beim Postamt, und dann bin ich durch den Abend zurückgewandert, durch eine wunderbare Stille. Die Sträucher und Olivenbäume haben sich nicht geregt, nur das Summen der Insekten war zu hören, und ab und zu Vogelstimmen. Die Abendsonne hier läßt alles besonders aufleuchten, den roten Horizont, das Grün der Hänge, in der Ferne das tiefblaue Meer, auf das ich zugewandert bin, und dahinter die fernen Gebirge des Festlandes, die waren in ein zartes Rosa und Violett getaucht. All das habe ich zwar sehr genau gesehen und auch wahrgenommen, ich gehe an den Schönheiten dieser Insel nicht vorbei. Aber zugleich trage ich so viel Dunkles mit mir herum, es ist in mir, es ist eine immerwährende Traurigkeit. Und in Gedanken habe ich weiter an Sie geschrieben. Als ich dann wieder in das Dorf zurückkam und von meinem Balkon aus in der Dämmerung eine Weile über den kleinen Hafen schaute, habe ich kurzentschlossen das Papier und den Stift genommen und mich in meinem Zimmer an den Tisch und unter die Lampe gesetzt. Die Nacht war warm, und Nachtschmetterlinge sind zu mir hereingeflogen, sind sogar gegen mein Gesicht geflattert, aber ich habe erst aufgehört zu schreiben, als mir die Hand weh tat. Wundern Sie sich also nicht, meine liebe Maria, wie lange der Brief ist, den Sie heute erhalten. Es ist unerträglich heiß hier für Mitte Juni, wie ist das Wetter denn bei Euch? Ich schaue hier nie ins Fernsehen, aber man hat mir gesagt (»gesagt« ist gut, wir verständigen uns meist nur mühsam, mit deutschen Brocken oder in einem schauerlichen Englisch!), daß fast überall Hitze herrscht.
Gerade fällt mir auf, wie absurd wir uns manchmal ausdrücken und es völlig selbstverständlich finden. »Ich schaue ins Fernsehen« gehört zum Beispiel dazu. Aber das nur nebenbei.
Ich werde jetzt zum Pier hinuntergehen, auf der alten Leiter, die es dort gibt, ins tiefe Wasser steigen und eine Weile schwimmen. Um gut abgekühlt zu sein, wenn ich danach durch die Backofenhitze des Nachmittags zur Post gehe, um diesen kurzen und den nächtlichen, langen Brief loszufaxen. Ich grüße Sie sehr, sehr herzlich, liebe Maria.
Magda
Abends, 11. Juni, ich kann noch nicht zu schreiben aufhören für heute, das Erinnern tobt in mir mit Bildern und Worten, als hätte ich einen Vorhang aufgerissen und könnte ihn nicht mehr schließen, um das Geschehen dahinter einfach wieder zuzudecken.
Was ich Ihnen von meiner Mutter erzählt habe, Maria, hat sie selbst mir nie in dieser Form geschildert. Sie war eine schweigsame und herbe Frau, auch in ihrem Verhalten zu mir. Aber ich bin ja ebenfalls im Milieu unseres Dorfes groß geworden, ich hatte diesen bösartigen und ungeliebten Vater, und ich liebte meine Mutter. Also konnte ich ihren Andeutungen und kurzen Bemerkungen viel mehr entnehmen, als sie ahnte. Und auch die Heftigkeit, mit der sie mich beschützte, erklärte mir so vieles. Das, wovor sie mich zu schützen suchte, waren die Angriffe, denen sie selbst ausgesetzt war und denen sie erliegen mußte. Das erste, wovon ich weiß, war der Gemüsegarten, neben dem ich mit den Hühnern spielte, während meine Mutter zwischen den Tomaten und Kürbissen herumwerkte und Stangenbohnen hochband. Ich mußte damals etwa drei Jahre alt gewesen sein. Ich erinnere mich, daß ein Huhn mir seinen harten Schnabel in den kleinen, weichen, nackten Oberarm stieß, daß ich blutete und laut zu weinen begann. Das Gesicht meiner Mutter, als sie kam, war naß vom Schweiß und weiß vor Zorn. Sie gab dem Huhn einen so harten Tritt, daß es wild gackernd davonstob. Sie hob mich nicht hoch und drückte mich nicht tröstend an ihr Herz. Sie beugte sich nur kurz zu mir herunter und sah prüfend auf meinen Arm. »Den waschen wir dann«, sagte sie, »es ist nichts, heul nicht.« Und als sie wieder im Gemüsegarten arbeitete, rief sie noch zu mir her: »Laß dir ja nicht schon von den Hühnern was gefallen! Da kommen noch andere Tiere auf dich zu!« Ja, obwohl dies die erste reale Erinnerung meines Lebens ist, weiß ich jedes Wort, das meine Mutter sagte. Immer schon habe ich mir Worte so genau gemerkt, und man konnte mich deshalb mit Worten auch mein Leben lang so leicht töten. Weil sie immer tief in mich eindrangen und ich sie nicht mehr wegwischen oder vergessen konnte. Die beste Waffe gegen mich waren stets Worte. Auch alle Schönheit, Liebe und Weisheit kann aus ihnen auf einen zukommen, ich weiß. Aber sehr selten habe ich das von Menschen erfahren, ich fand es später in den Büchern. Meine Mutter sprach nie böse mit mir, deshalb liebte ich sie ja auch. Aber sie konnte ihre Zärtlichkeit und Liebe nie zeigen, ich erinnere mich nicht, daß sie mich je umarmt hätte oder gar geküßt. Obwohl ich neben ihr im selben Bett schlief, jahrelang. Wir schliefen nebeneinander im selben Bett, in derselben dürftigen Kammer, bis ich fünfzehn war und wir das Dorf verließen. Zu der Zeit, in der meine Erinnerungen einsetzen, hatte meine Mutter das Bett ihres Mannes bereits endgültig und für immer verlassen, er trieb es dort mit den Mägden oder anderen Frauen. Sie hatte sich mit mir in das kleinste und abgelegenste Zimmer zurückgezogen und lebte im Hause ihres Mannes, des Bürgermeisters, selbst wie eine Magd. Aber eine, die er nicht mehr anrühren durfte. Einmal – ich ging schon zur Schule – kam er nachts betrunken zu uns herein und wollte uns beide mißbrauchen. Noch nie, und nie mehr danach, habe ich einen Menschen so schreien hören wie damals meine Mutter. Sie schrie mit einer Wildheit und mit einem Haß, daß dies sogar meinen Vater ernüchterte. Außerdem hatte sie ihm ein Auge blutig geschlagen, ihm in die Wange gebissen und seinen Rücken derart zerkratzt, daß er sich tagelang nicht zurücklehnen konnte, wenn er auf der Tischbank beim Essen saß. Als er von uns abgelassen und uns fluchend wieder verlassen hatte, war mir übel und ich mußte erbrechen. Meine Mutter wusch schweigend alles wieder sauber, ich hörte nur ihren Atem, der sich nicht beruhigen wollte. Sie schüttelte unser Bett wieder ordentlich auf, zog mir das Nachthemd glatt über meine dünnen Beinchen und deckte mich zu. Erst dann sah sie mich eine Weile an. »Das kommt nicht wieder vor«, sagte sie, »dafür sorge ich.« Und dann, während ihr Blick immer noch auf mir lag, fügte sie hinzu: »Aber wenn ich einmal nicht mehr dafür sorgen kann, mußt du kämpfen. Dich wehren. Lieber alles kurz und klein schlagen, als dir was gefallen lassen. Und wenn es dein eigener Vater ist – schlag ihn lieber tot. Merk dir das. Fürs ganze Leben.«
Das waren die Belehrungen, mit denen ich groß wurde. Die mir sehr bald das Leben als Kampfstätte erklärten, auf der man Tag und Nacht wachsam sein mußte. Immer auf der Hut. Ständig Angriffen ausgesetzt. Von niemandem je beschenkt. Es galt, sich in dem, was man haben wollte, festzubeißen wie ein Tier. Meine Mutter wollte haben, daß ich lernte. Daß ich regelmäßig zur Schule ging. Daß ich Bücher erhielt, die zu lesen mein Wissen erweitern würden. Das wollte sie für mich haben, und dabei ließ sie nicht locker. Sosehr sie sich bei allen anderen Unstimmigkeiten eher starr und schweigend in ihre eigenen Entscheidungen zurückzog, als meinem Vater offen zuwiderzuhandeln, in diesem Punkt schreckte sie auch vor seiner Brutalität nicht zurück, blieb sie unerbittlich und Siegerin. An einem dämmrigen Winternachmittag stand meine Mutter am Herd und buk Kartoffelbrot, ich saß bei ihr in der Küche und las. Als mein Vater hereinkam und meinen im Licht der Tischlampe über die Buchseiten geneigten Kopf erblickte, zog er mir in einem Wutanfall das Buch unter der Nase weg, fluchte und warf es ins Feuer. Meine Mutter griff ohne zu zögern und mit bloßen Händen in die Herdflammen, riß das bereits auflodernde Buch an sich und schleuderte es in seine Richtung. Er wich gerade noch aus, die brennenden Papierseiten verfehlten knapp sein Gesicht, fielen glühend zu Boden und hinterließen Brandspuren auf den Holzbohlen. Meine Mutter hatte lange Zeit danach Blasen und offene Wunden an den Händen, sie ging jedoch ihren Tätigkeiten im Haus, im Stall und auf den Feldern weiterhin nach, ohne ein einziges Mal über Schmerzen zu klagen. Die entschlossene Härte in ihren Augen, als sie meinem Vater das brennende Buch mitten ins Gesicht werfen wollte, ließ ihn zwar im Moment derart aufbrüllen, daß mir der Atem stockte, und die Mutter unflätig beschimpfen, sie verfehlte aber ihre Wirkung nicht. Von da an ließ er mich in Ruhe, überließ mich meinen Büchern und Hausaufgaben, ohne mich jemals mehr zu quälen oder zu verspotten. Meine Mutter selbst arbeitete doppelt und dreifach, um ihn dafür zu entschädigen, daß ich als Arbeitskraft ausfiel. Ich selbst wiederum versuchte ihr immer wieder behilflich zu sein, neben der Schule und dem Lesen trotzdem Zeit für Haus- und Feldarbeit zu finden, weil ihre Erschöpfung mir weh tat. Meist fiel sie abends neben mir so schnell in den Schlaf, als stürbe sie. Als sie jedoch meine eigene Übermüdung mitbekam, schrie sie mit mir herum, statt mir zu danken. »Du lernst!« schrie sie, »du schuftest dich nicht blöd, darauf bestehe ich! Du hast erst drei von den fünf Büchern gelesen, die wir übermorgen in der Kreisbibliothek wieder zurückgeben müssen! Wozu das? Wir zahlen schließlich Leihgebühr! Es genügt, daß ich für deinen Vater rackere. Du lernst, verstanden? Du wirst gescheit, und wenn ich dich dahin prügeln muß!«
Sie mußte mich dahin nicht prügeln, ich lernte ja gern und bereitwillig, ich hatte nichts dagegen, gescheit zu werden, wenn meine Mutter so sehr darauf bestand. Und ich wußte ihre Zornausbrüche auch immer richtig einzuschätzen, ich wußte, daß diese aus dem Gefühl ihrer Ohnmacht entstanden, aus dem Wunsch, mir ihr eigenes Schicksal zu ersparen, und nicht, weil sie zornig auf mich war. Aber ich hatte Sorge um sie, weil die Spuren der ständigen Überanstrengung sie mehr und mehr zeichneten. Sie war sehr mager geworden, und ihr Rücken begann sich leicht zu krümmen. Ihr Gesicht war immer noch schön, aber die Haut wurde gelblich wie verblichenes Papier, die Wangenknochen traten immer stärker hervor. Sie sah aus wie ein ausgemergeltes Pferd, dem man immer noch ansah, daß es einmal eine wunderschöne Stute gewesen war. Manchmal hätte ich sie gern gestreichelt. Aber es gab keine Zärtlichkeit zwischen meiner Mutter und mir, niemals, und deshalb hatte ich Scheu davor. Ich fürchtete fast, sie werde mich schlagen, wenn ich sie berührte. Sogar, wenn sie tief und erschöpft neben mir eingeschlafen war, achtete ihr Körper auf den nötigen Abstand zu meinem, um ja meine Haut und deren Wärme, um ja meine Gliedmaßen nicht zu fühlen. Und je älter ich wurde, um so mehr übernahm ich dieses Abstandhalten, diese Furcht vor Berührungen. Mein anfänglich wohl vorhanden gewesenes, kindliches Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Umarmung wurde wortlos, aber mit Entschiedenheit so lange ungestillt gelassen, bis ich selbst es vergaß. Es schien nicht in die Welt zu gehören, in der ich leben mußte, daß man zärtlich zueinander war. In Büchern konnte es manchmal vorkommen, aber die las ich ja auch deshalb so leidenschaftlich gern, weil sie nichts mit meiner Welt zu tun hatten und mich woanders hin entführten. Mein Leben hier bestand aus der Nähe einer Mutter, die nichts mehr an sich heranlassen wollte, keinen Körper und kein Gefühl, aus der Angst vor einem Vater, dessen Lieblosigkeit ich mir gewiß sein konnte, und aus vergeblicher Suche nach der Freundschaft Gleichaltriger bei uns im Dorf, die mich großteils verachteten, weil ich gern und regelmäßig zur Schule ging. Es war kein Wunder, Maria, daß ich mich mit fünfzehn Jahren viel zu früh und in den denkbar unpassendsten Menschen verliebte.
Maria! Jetzt eben, als ich Ihren Namen hinschrieb, wurde mir klar, welche Menge auf Anhieb zu lesen ich Ihnen zumute, wenn ich nicht endlich aufhöre. Außerdem schmerzt meine Hand. Es ist eine warme Nacht, die Sterne stehen groß und klar über mir, wenn ich auf den Balkon hinaustrete. Das habe ich vorhin getan, und tief durchgeatmet. Das Dorf schläft. Und auch ich werde jetzt schlafen gehen, plötzlich bin ich sehr müde. Gute Nacht, liebe Maria. Obwohl ich glaube, daß Sie den größten Teil Ihrer »guten Nacht« bereits hinter sich haben, Sie sagten mir einmal, daß Sie jeden Tag schon gegen sechs Uhr aufstehen würden, das wäre also in drei Stunden.
Bis morgen also.
15. Juni
Liebe Frau Magda.
Bitte entschuldigen Sie, daß ich nicht schon gestern geantwortet habe, da hab ich Ihr Fax erst nachmittags abholen können, und dann bin ich erst am Abend dazu gekommen, es zu lesen, wie immer. Sie wissen, bei wieviel Parteien im Haus ich saubermache, und dann das Haus selber mit seinen zwei Stiegenhäusern und den alten Steintreppen, die man nicht nur mit dem Fetzen waschen kann, sondern immer mit der Bürste reiben muß. Ich komm manchmal den ganzen Tag über nicht zum Schnaufen, wenn ich alles richtig machen will. Aber glauben Sie ja nicht, daß ich mich jetzt bei Ihnen beklage! Gott möge verhüten, daß ich das bei Ihnen tue. Ich wollte nur erklären, daß ich manchmal nicht so rasch sein kann, wie ich es gern wäre. Und dann war Ihr Brief wirklich sehr lang, ich habe bis Mitternacht gelesen, der Lukas hat schon geschlafen und es nicht gemerkt, sonst hätte er sicher herumgeschimpft und mich gestört. Ich bin ganz still in der Küche gesessen und habe gelesen, ich hab mir sogar eine Flasche Bier dazu gegönnt. Eigentlich war es sehr schön so. So mitten in der Nacht, wenn es keinen Lärm mehr gibt, Ihre vielen Seiten zu lesen.
Langsam wird mir klar, liebe Frau Magda, warum Sie eine gescheite Frau geworden sind. Weil Ihre Mutter dahinter war. Sie selbst war ja eine arme Frau, Ihre Mutter, sie kann einem richtig leid tun. Und da weiß ich lieber nicht, wer mein Vater war, als so einen zu haben wie den Ihren. Der war ja vielleicht ein grauslicher Kerl. Aber bei den Männern gibts ja allerhand grausliche drunter, wer weiß das nicht. Meine Mutter hat mir nix erzählt von meinem Vater, aber eine Perle war der sicher auch nicht, wenn er sie so hat stehen lassen mit einem Kind in ihrem Bauch. Er war schon auf und davon, wie ich zur Welt gekommen bin. Meine Mutter war ein Kriegskind und sehr verschreckt, ihr Leben lang. Sie hat mir einmal gesagt, wenn du als kleines Kind gleich die Bomben erlebst, dann glaubst du ein Leben lang, daß dir alles auf den Schädel fallt, dann hast du kein Vertrauen mehr in was. Deshalb hat sie auch keinen anderen Mann mehr angeschaut, ich war als Kind immer mit ihr allein. Sie hat mich sicher sehr gern gehabt, meine Mutter, vielleicht war ich sogar, wie man so sagt, ihr ein und alles. Aber ob ich was lerne oder nicht war ihr unwichtig. Leider, sage ich jetzt. Aber damals hab ich das ganz okay gefunden, lieber bald eine Stelle und was verdienen, dann kann ich mir endlich die Stöckelschuhe kaufen, die mir gefallen, und vielleicht eine kleine eigene Wohnung, hab ich mir gedacht. Bei meiner Mutter hat es nur ein Zimmer gegeben und die Küche, und ein indisches Klo – Sie wissen doch den Witz »jenseits des Ganges«, oder? Jedenfalls war ich mit meiner Mutter auch immer im selben Zimmer, und das, bis ich neunzehn war, sie hat dazu noch geschnarcht, die Arme, es war ihr selber peinlich, aber sie hat dieses Gebrechen gehabt. Meine Mutter lebt ja noch, und immer noch in dieser Wohnung, und sie sagt immer wieder, wie herrlich das ist, allein. Und so laut schnarchen können, wie man will. Sie ist überhaupt eine richtige Einsiedlerin geworden, am liebsten allein vor dem Fernseher, dann macht sie sich ein kleines Gulasch oder so was und trinkt ein Bier dazu. Sie muß jetzt nicht mehr schuften und hat eine kleine Pension, mit der kommt sie aus. Sie sagt oft: Ich bin der glücklichste Mensch jetzt im Alter. Dabei ist sie noch gar nicht so alt, ich glaube nicht sehr viel älter als Sie, Frau Magda. Aber ausschauen tut sie natürlich älter, auch weil sie sich nie was Richtiges anzieht, immer nur ihre alten Sachen, und ihr Leben lang gerackert hat, erst in einem Lebensmittelgeschäft und dann als Bedienerin. Es hat ihr ja niemand geholfen, mich großzuziehen, fast die ganze Familie ist im Krieg umgekommen, sie selber und eine Tante waren zufällig in einem anderen Luftschutzkeller und haben deshalb überlebt. Bei dieser Tante ist sie dann geblieben, die war alleinstehend und hat sich um sie gekümmert, schlecht und recht. War auch eine Frau ohne Mann und ohne Geld, und außerdem lungenkrank, sie ist früh verstorben, da war meine Mutter grade 16 Jahre alt. Und hat sich eben auch deshalb so früh mit dem Kerl eingelassen, der mein Vater war, vielleicht weil sie geglaubt hat, sie ist dann weniger allein. Was ein Irrtum war, wie man jetzt weiß.
Du meine Güte, da erzähle ich Ihnen so viel, was Sie gar nicht wissen wollten, statt Ihnen zu schreiben, wie ich mich schon jeden Tag auf Ihre Faxe freue. Es ist wie ein Buch lesen. Sie verstehen sicher, wie ich das meine, Frau Magda! Ich weiß schon, daß das Ihr Leben ist, und daß Sie vieles so schwer gelebt haben. Aber vielleicht ist jedes Leben von jedem Menschen ein Buch, wenn man es beschreibt? Auch die Bücher in Ihrer Wohnung sind oft sehr traurig, ich hab mir manchmal gedacht, warum liest sie soviel traurige Sachen? Jetzt weiß ich es besser, glaube ich.
Es ist schon mitten in der Nacht. Ich warte jetzt mit dem Lesen und Schreiben immer, bis der Lukas eingeschlafen ist, dann habe ich meine Ruhe. Aber jetzt muß ich auch ins Bett, so schnell wie möglich, sonst fangen draußen am Ende die Vögel zu singen an, dann kann ich gar nicht mehr schlafen. Es grüßt Sie recht eilig Ihre Maria
17. Juni
Liebe Maria.
Gestern bin ich nicht zum Postamt gewandert, es ging irgendwie nicht, ich war zu müde. Und gebracht hat man mir Ihren Brief auch nicht, also konnte ich ihn erst heute lesen, mit einem ganzen Tag Verspätung. Dafür bin ich aber schon in aller Frühe losmarschiert, ich sah die Sonne über dem Meer aufgehen und stand sogar eine Weile vor der Tür, ehe sich die Postbeamtin meiner erbarmt und mir das Fax herausgereicht hat. Die Frau wohnt im selben Haus und hatte mich wohl durch das Fenster erspäht. Sie scheint Witwe zu sein, ist immer schwarz gekleidet, aber ihr Gesicht ist blütenfrisch und jung. Auf der Treppe zu ihrer Wohnung hinauf stehen Kübel und Töpfe mit Blumen aufgereiht, die ich sie manchmal gießen sehe, die Frische all der blühenden Gewächse scheint sich auf sie zu übertragen. Sie kam lächelnd zwischen den Blumen zu mir herunter, schloß die Poststube auf und sagte mühsam auf deutsch: »Fax warten schon von abend gestern«, als sie mir die Blätter herausbrachte. Man scheint von meiner Begierde, Ihre Briefe, liebe Maria, in Empfang zu nehmen, mittlerweile auf selbstverständliche Weise zu wissen. Sie erklärte mir dann noch mit Händen und Füßen, daß ihr Bruder, der sonst Briefe austrägt, für eine Woche am Festland sei und sie ja eigentlich erst viel später aufsperren würde, und ob ich mit ihr Kaffee trinken wolle. Das tat ich dann auch. Ich stieg hinter ihr die Treppe neben den Blumenkübeln hoch, es roch nach Geranien, Nelken und Sommerrosen, und wir kamen in einen von halb zugezogenen Jalousien schattig gehaltenen Raum, der halb Küche, halb Wohnzimmer war. Sie hatte das Kännchen mit dem dickflüssigen, auf türkische Weise zubereiteten Kaffee bereits auf dem Tisch stehen, sie füllte mir eine Tasse, und wir saßen einander also etwa eine halbe Stunde kaffeetrinkend gegenüber. Obwohl sie nur wenige Brocken Deutsch und kein Englisch sprach, konnten wir uns unterhalten, weiß der Teufel wie. Ich erfuhr, daß sie keine Kinder hat, mit ihrem unverheirateten Bruder das Postamt leitet, und daß sie Malinja heißt. Was sagen Sie dazu, Maria! Wozu unser Briefwechsel mich sogar verleitet! Bin ich doch ein Mensch, der anderen Menschen meistens ausweicht. Weil ich nie eine Brücke zu den anderen finde, gehe ich ihnen lieber aus dem Weg. Auch langweilen mich die meisten Gespräche, und gerade in letzter Zeit – sagen wir schlicht in der Zeit meiner Gemütskrankheit – hatte ich mehr und mehr das Gefühl, eine Sprache zu sprechen, die keiner versteht. So oft sah ich Augen mich fassungslos mustern, wenn ich meinte, ganz vernünftig gesprochen zu haben. Da begann ich zu schweigen.
Aber diese Malinja mit ihrem Blumengesicht und den freundlichen Augen machte mich richtig gesprächig. Vielleicht lag es daran, daß wir nur einzelne Worte und Gesten zur Verfügung hatten, uns zu verständigen? Vielleicht macht gerade das Fehlen der gemeinsamen Sprache mich weniger beziehungslos, weil man dann mit Erfindergabe und Phantasie aufeinander zugehen muß? Es dabei einfach keine Floskeln gibt? Geben kann?
Wie auch immer, Maria, ich freute mich natürlich auch, Ihre Briefblätter bei mir zu haben, und als ich mich von Malinja verabschiedet hatte, wanderte ich in mein Dorf und an den kleinen Hafen zurück. Ich las Ihr Fax am Tisch unter den Olivenbäumen, wo mein zweites, eigentliches Frühstück auf mich wartete. Dort, im Schatten, war es noch kühl, aber das Meer flimmerte bereits vor Hitze. Jetzt habe ich mich in mein Zimmer zurückgezogen, durch die Ritzen der Holzjalousien weht vom Wasser her doch ein wenig Kühle herein.
Ach, liebe Maria, alles, was Sie mir erzählen, will ich wissen! Und mehr noch. Ich fühle mich mittlerweile mit Ihnen in ein Gespräch verwoben. Sehr rasch sind Sie für mich mehr geworden als eine Briefpartnerin. Gestern aber habe ich geschwiegen. Weil ich dem Leben wieder einmal von der Schaufel gefallen bin, und ins Bodenlose. Diesen Zustand der Unfähigkeit, in der Wirklichkeit Halt zu finden, wünsche ich keinem Menschen. Man sagt meist: wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht, aber ich wüßte auch keinen ärgsten Feind zu nennen, nicht mal einen weniger argen. Feindschaft, Haß, Ärger, sogar Verzweiflung –