Buch
Glücksmomente sind Augenblicke einer besonders intensiven Gegenwart, kleine Monaden der Biografie, in denen jemand plötzlich weiß, wie er sein will – so Hanns-Josef Ortheil. Genau solche Glücksmomente aus seinen Romanen und Erzählungen hat er für dieses Buch ausgewählt und kommentiert. Was Glück ausmacht – hier wird es auf faszinierend einleuchtende Weise erleb- und erfahrbar.
Autor
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis und zuletzt dem Stefan-Andres-Preis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.
HANNS-JOSEF ORTHEIL
Glücksmomente
Inhalt
Glücksmomente
Das Glück der Ankunft
Das Glück des frühen Abends
Das Glück eines Sonntagmorgens
Das Glück des Aufbruchs 1
Das Glück des Aufbruchs 2
Das Glück der ersten Weinprobe
Das Glück eines französischen Menus
Das Glück des Kochens
Frühes römisches Glück 1
Frühes römisches Glück 2
Venezianisches Glück 1
Venezianisches Glück 2
Das Glück der abseitigen Zonen
Das Glück der Liebesszene 1
Das Glück der Liebesszene 2
Das Glück der Liebesszene 3
Das Glück eines historischen Moments 1
Das Glück eines historischen Moments 2
Das Glück des Ankommens
Quellenverzeichnis
Glücksmomente
Eine besonders genaue Leserin hat mich einmal darauf aufmerksam gemacht, dass es in meinen Romanen und Erzählungen ganz besondere Momente gebe, die sie als Glücksmomente verstehe. Es handle sich um Momente, in denen man beim Lesen innehalte, vom Buch aufschaue und einen glücklichen oder gelungenen Moment nachzuempfinden versuche. Glücksmomente seien Augenblicke einer besonders intensiven Gegenwart, und zwar für die Figuren, aber eben auch für den Leser.
Dieser Anstoß hat mich neugierig gemacht, so dass ich mich selbst gefragt habe, wo ich solche Glücksmomente finden und verorten würde. Auf keinen Fall konnten es flüchtige Emphasen sein, in denen die Figuren sekundenlang so etwas wie ein kurzes Glücksgefühl empfinden. Vielmehr suchte ich nach starken Momenten, in denen das Glück ein bestimmtes Zeitempfinden auslöste: das einer Gegenwart, in der Erinnerungen an die Vergangenheit und Hoffnungen auf die Zukunft mitspielten. Die Gegenwart erschien in solchen Momenten so »besonders« und »leuchtend«, weil sie etwas Vergangenes einlöste und gleichzeitig auf etwas Zukünftiges verwies.
In Glücksmomenten mochten meine Figuren so etwas wie eine konturierte kleine Monade ihrer Biografie empfinden. Das verrinnende Leben nimmt eine Form an, es zeigt sich als räumliches und zeitliches Bild und damit als ein Porträt des Selbst: Jetzt, in diesem Moment, befinde ich mich genau h i e r und erlebe d i e s e n Moment als einen, den i c h gestalte und in dem ich mich aufgehoben fühle. Genau der oder die b i n ich. Und genau der oder die w i l l ich sein.
Solche Glücksmomente verdrängen die allgegenwärtigen Formen der Entfremdung für eine bestimmte Zeit. Sie erwecken die Illusion gelingenden, sich gut und folgenreich fortsetzenden Lebens. Kein Wunder also, dass selten von ihnen gesprochen wird. Wer möchte schon zugeben, sich an Illusionen zu orientieren oder vielleicht sogar zu klammern? Und wer möchte solche Momente schon ausführlich durchleuchten und dadurch in Kauf nehmen, dass sie sich verlieren oder in Luft auflösen?
In diesem Band habe ich versucht, Glücksmomente aus meinen Büchern zu sammeln und ihre Anbahnung jeweils kurz zu intonieren. Dabei wollte ich vermeiden, die Schönheit der jeweiligen Illusion übertrieben deutlich auszumalen oder penetrant zu zergliedern. Vielmehr wollte ich die Fragilität solcher Momente erhalten, indem ich sie kurz beschwöre: Was ging ihnen voraus, wie nahmen sie Form an und welche Motive kamen dann »urplötzlich« zum Klingen?
Meine kurzen Vorbemerkungen und Hinführungen zu den einzelnen Texten sind daher als Präludien zu verstehen. Sie geben die Tonart und den Takt der Musik an, die dann voll und kontrapunktisch wie eine Fuge zu klingen beginnt. Präludien und Fugen stehen hier aber nicht um ihrer selbst willen. Sie verweisen die Leserin oder den Leser vielmehr auf die Suche nach Erlebnissen des eigenen Glücks. Insofern sind sie auch als Strategien zu verstehen, die etwas angehen und in Szene setzen. Glückssuche ist dann Teil einer philosophisch inspirierten Lebenskunst. Sie führt Schreiben, Lesen und Leben im besten Fall glücklich zusammen.
Hanns-Josef Ortheil
Stuttgart, Köln, Wissen an der Sieg,
im Frühjahr 2015
Das Glück der Ankunft
Gleich zu Beginn meines Romans »Die Erfindung des Lebens« erzähle ich von einem der stärksten Glücksmomente meiner Kindheit. Ich sitze auf dem Fensterbrett unserer Familienwohnung im Kölner Norden und warte auf die Ankunft meines Vaters. Den ganzen Tag habe ich damals als noch stummes Kind mit einer stummen Mutter verbracht. Jetzt aber, am späten Nachmittag, wird sich das ändern.
Aufgeregt und gespannt schaue ich über den ovalen Platz vor unserem Haus, den der Vater bald betreten und überqueren wird. Wenn ich seine Gestalt sehe, beruhigt sich alles in mir: Da ist er, mein Vater, er wird Mutter und mir helfen, er wird sich um uns und die vielen Dinge kümmern, alles wird sich finden und fügen, und kurz nach seiner Ankunft werden wir zu dritt in der Küche sitzen. Als wären wir eine ganz normale Familie. Als gäbe es nichts Bedrohliches.
So erschien mir die Ankunft meines Vaters jedes Mal als ein erlösender Moment. Die tägliche Schwere fiel von einem ab, das Leben erschien wieder leichter und zugänglicher. Für diese Veränderung gab es ein sichtbares, deutliches Zeichen. Es war das Lachen meines Vaters, das sein Gesicht überzog, sobald er mich oben auf meinem Fensterbrett gesehen hatte. Lachend, beinahe vergnügt, kam mein Vater nach Haus, und lachend, beinahe vergnügt, umarmte ich ihn, sobald er unsere Wohnung betreten hatte.
Damals, in meinen frühen Kindertagen, saß ich am Nachmittag oft mit hoch gezogenen Knien auf dem Fensterbrett, den Kopf dicht an die Scheibe gelehnt, und schaute hinunter auf den großen, ovalen Platz vor unserem Kölner Wohnhaus. Ein Vogelschwarm kreiste weit oben in gleichmäßigen Runden, senkte sich langsam und stieg dann wieder ins letzte, verblassende Licht. Unten auf dem Platz spielten noch einige Kinder, müde geworden und lustlos. Ich wartete auf Vater, der bald kommen würde, ich wusste genau, wo er auftauchte, denn er erschien meist in einer schmalen Straßenöffnung zwischen den hohen Häusern schräg gegenüber, in einem langen Mantel, die Aktentasche unter dem Arm.
Jedes Mal sah er gleich hinauf zu meinem Fenster, und wenn er mich erkannte, blieb er einen Moment stehen und winkte. Mit hoch erhobener Hand winkte er mir zu, und jedes Mal winkte ich zurück und sprang wenig später vom Fensterbrett hinab auf den Boden. Dann behielt ich ihn fest im Blick, wie er den ovalen Platz überquerte und sich dem Haus näherte, er schaute immer wieder zu mir hinauf, und jedes Mal ging beim Hinaufschauen ein Lachen durch sein Gesicht.
Wenn er nur noch wenige Meter von unserem Haus entfernt war, eilte ich zur Wohnungstür und wartete darauf, dass sich die schwere Haustür öffnete. Ich blieb im Flur stehen, bis Vater oben bei mir angekommen war, meist packte er mich sofort mit beiden Armen, hob mich hoch und drückte mich fest. Für einen Moment flüchtete ich mich in seinen schweren Mantel, schloss die Augen und machte mich klein, dann gingen wir zusammen in die Wohnung, wo Vater den Mantel auszog und die Tasche ablegte, um nach Mutter zu schauen.
Das Erste, was er in der Wohnung tat, war jedes Mal, nach Mutter zu schauen. Wo war sie? Ging es ihr gut? Sie saß meist im Wohnzimmer, in der Nähe des Fensters, heute kommt es mir beinahe so vor, als habe sie in all meinen ersten Kinderjahren ununterbrochen dort gesessen. Kaum ein anderes Bild habe ich aus dieser Zeit so genau in Erinnerung wie dieses: Mutter hat den schweren Sessel schräg vor das Fenster gerückt und die helle Gardine beiseitegeschoben. Neben dem Sessel steht ein rundes, samtbezogenes Tischchen, darauf eine Kanne mit Tee und eine winzige Tasse, Mutter liest.
Oft liest sie lange Zeit, ohne sich einmal zu rühren, und oft schleiche ich mich in diesen stillen Leseraum, ohne dass sie mich bemerkt. Ich kauere mich leise irgendwohin, gegen eine Wand oder vor das große Bücherregal, ich warte. Irgendwann wird sie etwas Tee trinken und von ihrer Lektüre aufschauen, das ist der Moment, in dem sie auf mich aufmerksam wird. Sie schaut etwas erstaunt, ich schaue zurück, ich versuche, herauszubekommen, ob ich mich zu ihr ans Fenster setzen darf …
Manchmal ging es ihr damals nicht gut, ich spürte es bereits am frühen Morgen, weil sie alles in einer anderen Reihenfolge als sonst tat und sich zwischendurch häufig ausruhte. Dann hatte ich sie den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis in die Nacht, im Blick. Meist aber beobachteten wir beide zugleich, was der andere jeweils gerade tat, denn wir beide, Mutter und ich, gehörten damals so eng zusammen wie sonst kaum zwei andere Menschen. Das jedenfalls glaubte ich fest, ja, ich weiß noch genau, dass ich manchmal sogar glaubte, nichts könnte uns beide je trennen, niemand, nichts auf der Welt.
Am frühen Abend aber kam Vater, und Vater gehörte noch hinzu zu uns beiden. Er war der Dritte im Bunde, er verließ die gemeinsame Wohnung am frühen Morgen und war oft den ganzen Tag lang in der freien Natur unterwegs. Vater arbeitete als Vermessungsingenieur für die Bahn, und wenn er am Abend nach Hause kam, schaute er zuerst, wie es um uns beide so stand. Nach dem Ablegen von Mantel und Tasche ging er hinüber zu Mutter, er beugte sich etwas zu ihr herunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Einen kleinen Moment hielt sie sich an ihm fest, und es sah so aus, als klammerten sich die beiden eng aneinander. Doch spätestens, wenn Vater zu sprechen begann, lösten sie sich wieder aus der kurzen Umklammerung und waren danach ein wenig verlegen, weil sie nicht wussten, wie es nun weitergehen sollte.
Meist stellte Vater dann einige kurze Fragen, wie geht es Dir, ist alles in Ordnung, was gibt es Neues, und Mutter reagierte darauf wie immer stumm, indem sie ihm den kleinen Packen mit Zetteln zuschob, die sie während des Tages beschrieben hatte. Die Zettel lagen neben der Kanne mit Tee auf dem runden Tisch, sie wurden durch ein rotes Gummi zusammengehalten und sahen aus wie ein kleines, fest geschnürtes Paket, das Vater zu öffnen hatte. Er steckte es zunächst aber nur in die rechte Hosentasche und ging dann, die Hand ebenfalls in der Tasche, ins Bad.
Die Tür des Badezimmers ließ er offen, so dass ich zusehen konnte, wie er zum Waschbecken ging, den Wasserhahn aufdrehte, etwas Wasser in die hohle Hand laufen ließ und zu trinken begann. Wenn er genug getrunken hatte, fuhr er sich mit beiden Händen mehrmals durchs Gesicht, manchmal schöpfte er auch noch ein zweites Mal Wasser, ließ es sich über den Kopf laufen, griff nach einem Handtuch und blickte kurz in den Spiegel. Meist schaute er sehr ernst in den Spiegel, viel ernster als er sonst schaute, dann fuhr er sich mit dem Handtuch über die Stirn und trocknete sich die Haare.
Nach Verlassen des Bades kam er gleich in die Küche und sah nach, ob es dort etwas zu erledigen gab, er musterte den großen Tisch, auf dem oft eine Zeitung oder die Post lag, beides rührte Mutter niemals an, ich habe sie ausschließlich Bücher lesen sehen, nichts sonst, keine Zeitung, auch sonst nichts Gedrucktes, höchstens einmal einen Brief, aber auch den nur, wenn sie wusste, wer ihn geschrieben hatte. Überhaupt hatte sie gegenüber allem, was sie in die Hand nehmen sollte, eine starke Berührungsangst. Als Kind hielt ich diese Vorsicht für etwas Normales und übernahm instinktiv etwas davon, wie Mutter blieb auch ich zu allem Neuen zunächst auf Distanz, ich umkreiste es, betrachtete es länger und genauer als üblich und brauchte meist erst ein Motiv oder etwas Überwindung, um mich bestimmten Gegenständen oder Menschen zu nähern.
Wenn Vater da war, war jedoch alles viel einfacher, ich war dann erleichtert, weil ich dann nicht mehr allein auf Mutter aufpassen musste. Immerzu befürchteten Vater und ich nämlich, es könnte ihr etwas zustoßen, obwohl ich selbst noch gar nicht erlebt hatte, dass ihr in meinem Beisein etwas Schlimmes zugestoßen war. Ich wusste aber, dass so etwas früher einmal passiert war, und ich wusste auch, dass es etwas ganz besonders Schlimmes gewesen sein musste. Mehr jedoch wusste ich noch nicht, ich kannte keine Details, und ich hörte auch niemals jemanden von dieser Vergangenheit sprechen, obwohl sie doch ununterbrochen gegenwärtig war. Gegenwärtig war sie dadurch, dass Mutter nicht sprach, gegenwärtig war die Vergangenheit in Mutters Stummsein.
Damals dachte ich mir, dass sie die Sprache irgendwann einmal verloren haben musste, wusste aber nicht, wann und wodurch das geschehen war. Eine Mutter, die immer sprachlos gewesen war, konnte ich mir jedoch nicht vorstellen, nein, so weit gingen meine Vermutungen nicht, schließlich erlebte ich ja jeden Tag, dass sie lesen und schreiben konnte, und folgerte daraus, sie habe neben Lesen und Schreiben auch einmal das Sprechen beherrscht.
Natürlich wäre es am einfachsten gewesen, jemanden danach zu fragen, das aber war nicht möglich, weil auch ich selbst kein Wort sprach, sondern stumm war wie meine Mutter. Mutter und ich – wir bildeten damals ein vollkommen stummes Paar, das so fest zusammenhielt, wie es nur ging. Ich hatte, wie schon gesagt, Mutter im Blick und sie wiederum mich, wir achteten genau aufeinander. Meist ahnte ich sogar, was sie als Nächstes tat, vor allem aber wusste ich oft, wie sie sich fühlte, ich spürte es sehr genau und direkt und manchmal war diese direkte Empfindung sogar so stark, dass ich ganz ähnlich fühlte wie sie.
Wenn Vater nach Hause kam, war sie zum Beispiel meist unruhig, sie stand nach der Begrüßung und nachdem Vater Wasser getrunken und den Kopf unter das Wasser gehalten hatte, auf, legte die Bücher beiseite und schaute nach, ob Vater sich nun auch der Zettel annahm, die sie während des Tages beschrieben hatte. Vater, Mutter und ich, die ganze Kleinfamilie Catt befand sich wenige Minuten nach Vaters Rückkehr zusammen in der Küche, wo Vater mit der Lektüre der Zettel und dem lauten Vorlesen all dessen begann, was Mutter vom frühen Morgen an aufgeschrieben und notiert hatte.
Dieses Zusammensitzen war ein Familienritual, wie alles, was ich gerade beschrieben und wovon ich erzählt habe, ein Ritual war: Mutters Lesen, mein Warten auf Vaters Heimkehr, sein Aufenthalt im Badezimmer und danach in der Küche. Wenn ich mich zurückerinnere, sehe ich dieses Ritual von Vaters Heimkehr in immer derselben Reihenfolge ablaufen, als hätte es eine geheime Vorschrift oder sogar ein Gesetz gegeben, dass alles genau so und nicht anders abzulaufen hatte. Wie Darsteller in einem Stück waren wir drei aufeinander bezogen, beinahe jeden Tag handelten wir in derselben Weise, und niemand von uns störte sich an dieser Wiederholung, sondern tat im Gegenteil alles dafür, dass alles so blieb.
Heute weiß ich, dass uns die Wiederholung beruhigte und dass sie unser merkwürdiges und gewiss nicht einfaches Leben ordnete. Jeder hatte seine Rolle und hielt sich genau daran, das gab uns eine kurzfristige Sicherheit und band uns eng aneinander. Wir drei waren sogar so eng miteinander verbunden, dass jeder von uns sofort in Panik geriet, wenn unsere Rituale durch irgendeine Kleinigkeit durcheinandergerieten. Meist kamen sie durch Einwirkungen von außen durcheinander, und meist taten wir dann beinahe zwanghaft und hektisch alles, um Störenfriede zu vertreiben oder auf andere Weise aus unserem Kreis zu verdrängen.
So war die Welt der Kleinfamilie Catt damals, in den frühen fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auf eine beinahe unheimliche Weise geschlossen, und jeder von uns wachte mit all seinen Sinnen darüber, dass sich daran nichts änderte.