Als Ravensburger E-Book erschienen 2016
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH
© 2016 Ravensburger Verlag GmbH
Lektorat: Gabriele Dietz
Illustrationen: Carolin Liepins
Umschlaggestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de
unter Verwendung von Motiven von © Hi-jang/Thinkstockphoto; © Annykos/Thinkstockphoto; © nnnnae/Thinkstockphoto sowie Illustrationen von Carolin Liepins
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-47736-4
www.ravensburger.de
Montagmorgen, 7 Uhr 23. Marlene lag in ihrem Zimmer auf dem Bett und heulte wie ein Schlosshund. Ihre beste Freundin Anna saß neben ihr und versuchte, sie zu trösten. Aber das half heute nichts. Tim hatte Schluss gemacht! Gestern Abend, mit einer kurzen, dämlichen SMS!
Sorry, irgendwie brauche ich eine Pause. Vielleicht wird später ja mal wieder was aus uns. Sei nicht sauer, Tim
„Das geht gar nicht!“, schimpfte Anna. „So was muss er dir schon ins Gesicht sagen! Aber dafür hat er eben nicht den Mut, diese Niete!“
Marlene sah kurz hoch. Ihr Lidschatten war über das ganze Kopfkissen verschmiert. „Red nicht so über ihn“, schniefte sie. „Ich fand ihn schon im Kindergarten süß …“
Anna lachte bitter. „Wenn ich mich richtig erinnere, hat Tim dir immer die Schaufel auf den Kopf gehauen. Echt süß!“, ätzte sie.
Jetzt musste auch Marlene lachen. Wenigstens ein bisschen. „Aber nur, weil ich ihm das Eimerchen weggenommen habe.“
Anna nahm sie in den Arm. „Und jetzt hat er dir das Herzchen weggenommen. Vielleicht bekommst du’s ja heute in der Schule wieder.“
Sie sah auf die Uhr. „Wir müssen, Leni. In der ersten Stunde schreiben wir Mathe. Wenn wir da zu spät kommen, hagelt es Sechsen.“
Marlene wischte sich die Tränen von den Wangen. Sie seufzte tief. „Warum hat er nur Schluss gemacht?“, fragte sie. „Es lief doch alles so gut.“
Anna zuckte mit den Schultern. „Jungs!“, spottete sie. „Wer versteht schon, wie die ticken!“
Marlene umarmte Anna dankbar. Sie war wirklich mit Abstand ihre beste Freundin. Wer sonst wäre an einem Montagmorgen noch vor der Schule zum Trösten vorbeigekommen? Vor einer Klassenarbeit? So was tat bloß Anna. Und dafür liebte Marlene sie über alles.
„Komm, Schatzi!“, drängelte Anna erneut. „Soll ich dir noch Pausenbrote machen?“
Marlene schüttelte den Kopf. „In meinem Bauch sitzt so ein dicker Kloß, da passt kein Essen rein.“
Anna ging in den Flur. Marlenes Eltern mussten früh arbeiten und hatten schon um 6 Uhr das Haus verlassen. Marlene war viel alleine, aber deshalb auch schon sehr selbstständig. Sie kochte sogar mittags oft für sich und Anna. Keine Fertigpizza oder so was, sondern richtige Menüs! Leider mussten sie danach auch alles abspülen …
Auf dem Weg nach draußen fiel Marlenes Blick dann doch in den großen Flurspiegel. Sie drehte und wendete sich, betrachtete sich von allen Seiten. Was sie sah, gefiel ihr überhaupt nicht. Ihre Wimperntusche war total verschmiert.
„Vielleicht bin ich zu hässlich für Tim“, murmelte sie.
Anna drehte sich um, als hätte sie ein Pferd getreten. „Sag mal, spinnst du? So einen Mist darfst du nicht mal denken! Nachher glaubst du’s wirklich!“
Marlene verzog das Gesicht. „Na ja, vielleicht sehe ich ganz passabel aus. Aber so hübsch wie Mandy bin ich nicht …“
Mandy! Anna rollte mit den Augen. Mandy war die Klassen-Beauty – jedenfalls fanden das die Jungen. Mandy hatte lange blonde Haare, trug immer knackenge Jeans und schminkte sich jeden Tag. Nicht nur ein bisschen, wie Marlene und Anna. Sondern total übertrieben. Richtig billig sah das aus, fanden die Mädchen. Die Jungen aber waren da ganz klar anderer Meinung. Wenn Mandy morgens in die Klasse tänzelte, wurde sogar der langweilige David rot vor Glück. So eine blöde Tussi! Einen Freund hatte sie zwar noch nie gehabt, aber das war nur eine Frage der Zeit.
„Zum Glück bist du nicht wie Mandy“, antwortete Anna streng. „Denn dann wäre ich nicht deine Freundin!“
Sie mussten zur S-Bahn rennen. Im letzten Moment gelang es ihnen, in einen Wagen zu springen. Marlene nutzte die Minuten in der Bahn, um sich wieder halbwegs ansehnlich zu machen. Sie wollte wenigstens entfernt so aussehen wie ein normales dreizehnjähriges Mädchen. Und nicht wie eine aufgequollene Kartoffel. Sie wischte sich den verschmierten Lidschatten von den Wangen und zog mit dem Kajal den Lidstrich nach. Vor allem aber musste sie jede Menge Tränen herunterschlucken. Als sie an der Schule ankamen, war ihr der Kummer kaum noch anzusehen. Hoffte Marlene jedenfalls.
Vor dem Klassenraum wurden die beiden Freundinnen von Kaya begrüßt, der schlimmsten Klatschtante der ganzen Stadt. Kaya strahlte bis über beide Ohren und ihre Augen blitzten – untrügliche Zeichen dafür, dass sich am Wochenende etwas besonders Pikantes zugetragen haben musste.
„Wisst ihr schon das Neuste?“, wisperte sie. „Mandy hat endlich einen Freund. Ich habe sie selbst gestern beim Knutschen im Kino gesehen. Und jetzt haltet euch fest! Es ist …“
Mitten im Satz unterbrach sie sich. Ihr Gesicht lief rot an, was sehr ungewöhnlich war. Sonst schämte sich Kaya nämlich eigentlich für nichts. Marlene fühlte sich, als würde Kaya sie mit ihrem Blick durchbohren. Dann blinzelte Kaya, als wäre ihr ein ganzer Mückenschwarm in die Augen geflogen.
„Spuck’s schon aus!“, forderte Anna. „Wer ist der Unglückliche?“
Kaya wurde noch roter. Sie konnte jeder Ketchup-Flasche locker Konkurrenz machen. „Also, ich dachte erst, ich hätte ihn erkannt. Aber es war so dunkel im Kino. Außerdem war der Film spannend, da habe ich nicht so genau …“
Anna lachte. „Kaya, erzähl keinen Mist! Du hast dich doch vor dem Kino auf die Lauer gelegt, bis die zwei rauskamen. Ich kenne dich!“
Jetzt trat Kaya hektisch von einem Bein auf das andere, als hätte sie zum Frühstück zwei Liter Abführtee getrunken.
„Tut mir leid“, stammelte sie leise. „Ich weiß es wirklich nicht.“ Dann sah sie Marlene noch einmal durchdringend an. „Tut mir ehrlich leid, Marlene, das musst du mir glauben.“ Kaya drehte sich um und verschwand in der Klasse.
Marlene und Anna sahen sich ratlos an. „Was war das denn für ein merkwürdiger Auftritt?“, wunderte sich Anna.
Marlene zuckte mit den Schultern. „Eigentlich ist es mir sowieso Wurst, mit wem Mandy zusammen ist. Solange es nicht …“
Ein Lachen schallte durch den Gang. Ein Lachen, das Marlene nur zu gut kannte. Seit dem Kindergarten, um genau zu sein. Es war Tim. Und im Gegensatz zu ihr schien es ihm ziemlich gut zu gehen. Vielleicht hatte sie seine SMS nur falsch verstanden? War doch noch alles in Butter? Oder hatte Tim sich einfach einen dummen Streich erlaubt? Was sich neckt, das liebt sich, sagte Oma schließlich immer.
Blitzschnell zauberte Marlene ein Lächeln auf ihr Gesicht und drehte sich um. Was sie sah, ließ sie bis in die Zehenspitzen erzittern. Ja, es war Tim, der da lachte. Aber er freute sich nicht, sie zu sehen. Er nahm Marlene gar nicht wahr. Tim hatte seinen Arm um ein anderes Mädchen gelegt. Um Mandy! Jetzt flüsterte er ihr etwas ins Ohr.
Mandy gackerte los. Affektiert wie immer.
Tim schien das zu gefallen. Jedenfalls drückte er Mandy einen dicken Kuss auf die Wange.
„Ich glaub, ich muss kotzen …“, presste Marlene hervor.
Anna hatte von der schlimmsten Katastrophe der Menschheitsgeschichte noch nichts mitbekommen. „Marlene!“, schimpfte sie. „So ein hässliches Wort aus so einem schönen Mund!“
Dann drehte auch sie sich um. „Oh, mein Gott!“, platzte Anna heraus. „Ich glaub, ich muss auch!“
Jetzt bemerkten auch Mandy und Tim die beiden. Mandy sah hochmütig an Marlene vorbei, so als wüsste sie gar nicht, wer noch bis gestern mit Tim zusammen gewesen war. Tim wollte stehen bleiben. Offenbar war es ihm immerhin ein bisschen peinlich. Oder wenigstens unangenehm. Aber Mandy zog ihn weiter. Sie hatte ja auch keine andere Wahl. Sie mussten ins Klassenzimmer. Jetzt oder in den nächsten dreißig Sekunden. Und da würden sie dann alle drei sitzen: Mandy, Tim und Marlene. Für den Rest der Schulzeit aneinandergekettet.
„Entschuldige mich bei Doktor Magerfleisch, ja?“, stotterte Marlene, kalkweiß im Gesicht. „Sag, er soll mir ’ne Sechs eintragen. Dann bleibe ich wenigstens sitzen und muss mir diesen Anblick nicht mehr antun …“
Sie wollte tatsächlich abhauen. Nicht nach Hause, nicht nach Australien. Am besten gleich aus dem ganzen Sonnensystem. Vielleicht wurden ja gerade Freiwillige für eine Marsmission gesucht? Marlene hätte alles unterschrieben, nur um ein paar Millionen Lichtjahre zwischen sich und diesen Scheißkerl zu bringen.
Doch da kam Doktor Magerfleisch auf sie zu.
„Na, fleißig gelernt, Marlene?“, fragte er fröhlich.
Doktor Magerfleisch war ein netter Mensch – so weit das für Mathelehrer überhaupt möglich war. Heute aber konnte Marlene mit seiner Heiterkeit nichts anfangen. Am liebsten hätte sie sich an seine Schulter geworfen und geheult. Und mit Mathe wurde es heute sowieso nichts. 1 plus 1 war 4577, oder?
Doktor Magerfleisch wollte sie in die Klasse schieben, aber Marlene wehrte sich. Für kein Geld der Welt würde sie Mandy und Tim den ganzen Tag beim Rumturteln zusehen!
„Ihr ist schlecht“, erklärte Anna.
Doktor Magerfleisch nickte. „Matheschlecht oder krankheitsschlecht?“ Er beugte sich ein Stück herunter und blickte Marlene ins Gesicht. „Okay, ich sehe schon. Du gehörst ins Bett, mein Kind. Mathe schreibst du einfach nach, wenn du dich auskuriert hast.“
Marlene nickte mechanisch. Es fühlte sich an, als würde ein Puppenspieler ihren Kopf an Fäden bewegen.
„Kann ich sie nach Hause bringen?“, schlug Anna vor. „Ihre Eltern sind ja arbeiten und ich könnte …“
Doktor Magerfleisch lachte. „Und dass du die Mathearbeit verpasst, würdest du notgedrungen in Kauf nehmen, ja?“ Er schüttelte den Kopf. „Dein Wissen würde ich gerne schon heute abfragen, Anna. Sterbenskrank ist Marlene ja hoffentlich nicht. Mit der S-Bahn wird sie sicher noch fahren können.“
Marlene nickte wieder und warf Anna einen traurigen Blick zu. Dann schlurfte sie davon. Wie sie zum Bahnhof gekommen war, konnte sie später nicht sagen. Irgendwann stand sie am Gleis. Eine Bahn nach der anderen hielt und fuhr weiter. Marlene starrte auf den Boden. Der Kloß in ihrem Magen war noch größer geworden, nun saß er auch in ihrem Hals und schnürte ihr die Luft ab. Wie sollte sie nur weiterleben? Alles in dieser Stadt erinnerte sie doch an Tim! Die Eisdiele, wo sie sich immer getroffen hatten. Der Jeansladen, wo Tim ihr ein T-Shirt geschenkt hatte. Der Supermarkt, wo sie immer Chips gekauft hatten. Und selbst diese Bank an Gleis 3, wo er immer mit ihr gewartet hatte, bis ihre Bahn kam. Marlene seufzte. Das war verdammt süß von ihm gewesen. Der S-Bahnhof lag überhaupt nicht auf seinem Nachhauseweg. Marlene schluckte. Jetzt würde er Mandy zum Zug begleiten …
Sie seufzte tief. Dann kamen ihr wieder die Tränen.
„Wein doch nich!“, dröhnte eine tiefe Stimme in ihr Ohr. „Du bist zu jung, um unglücklich zu sein!“
Marlene sah hoch. Neben ihr auf die Bank hatte sich Brücken-Heinz gesetzt. Ein Obdachloser, um den sie immer einen großen Bogen machten.
„Ich bin alt“, nuschelte Brücken-Heinz. „Aber du hast doch dein ganzes Leben noch vor dir. Alles ist möglich, wenn man jung ist. Wenn dir der Blick nach links nicht gefällt, dann guckste eben nach rechts!“
Marlene schniefte. Brücken-Heinz hatte Recht. Es gab schließlich nicht nur Tim auf der Welt. Auch als sie noch zusammen waren – also bis gestern Abend –, hatte Marlene schon mal anderen Jungs hinterhergesehen. Niemals hätte sie so eine oberfiese Aktion gebracht wie er. Jetzt aber, wo sie wieder solo war, fielen ihr die anderen wieder ein. Bei manchen hatte sie richtig weiche Knie bekommen, wenn sie in ihrer Nähe waren.
Marlene nickte. Für einen Neuen war sie zwar noch nicht bereit. Zu sehr hing ihr Herz an Tim und den Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit. Aber es wäre schon toll, wenn ein Junge einfach nett zu ihr sein könnte, ohne dass es gleich ernst würde. Ein paar Komplimente, ein paar nette Worte, das würde ihr jetzt richtig guttun.
„Ja“, sagte Marlene und beinahe gelang es ihr zu lächeln. „Ja, dann muss ich wohl nach rechts sehen.“
Sie kramte ihr letztes Geld hervor und steckte es Brücken-Heinz in die Tasche.
„Danke für Ihren Rat“, sagte sie ehrlich. „Das hat mir mehr geholfen, als Sie glauben!“
Sie sprang in die S-Bahn. Als die losfuhr, winkte sie Brücken-Heinz lange nach. So wie sie es sonst mit Tim gemacht hatte.
Zu Hause angekommen, warf sich Marlene wieder aufs Bett. Sie heulte und heulte. Doch irgendwann wurde die Wut größer als die Trauer. Und das half! Je doofer sie Tim fand, je schlimmer die Schimpfworte waren, die sie ihm an den Kopf warf, desto leichter wurde ihr ums Herz.
„Du hast mich gar nicht verdient!“, brüllte sie und trat mehrmals gegen ihren Schrank, bis sie sich den kleinen Zeh prellte. Es tat schweineweh.
Trotzdem musste Marlene lachen. „Au, au, au, Scheiße!“, fluchte sie und hüpfte auf einem Bein durch ihr Zimmer. „Dafür sollst du büßen!“
Sie griff nach ihrem Handy und blätterte ihre Fotos durch. Auf der Klassenfahrt hatte sie jede Menge Bilder gemacht, bis der Speicher voll war. Sogar welche von Mandy und Kaya. Und natürlich 100.000 von Tim. Die löschte sie jetzt gnadenlos. Ha, das tat richtig gut! Es war, als würde man ihr einen Felsbrocken von den Schultern nehmen. Jetzt war auch endlich wieder Platz für neue Lieder. Die Schnulzen, die Tim ihr geschickt hatte, löschte sie alle gleich mit.
„Ich fange ein ganz neues Leben an“, rief Marlene, als wäre Tim bei ihr im Zimmer. „Ohne dich! Als Erstes kommen neue Lieblingslieder dran.“
Sie warf den Computer ihrer Eltern an. Ein paar Euro hatte sie noch auf ihrem Account, das reichte bestimmt für zwanzig, dreißig neue Songs.
Den Rest des Vormittags verbrachte Marlene damit, nach neuer Musik zu forschen. Wenn sie etwas Cooles gefunden hatte, hörte sie sich auch die anderen Lieder von diesen Sängern und Bands an. Bald schon summte sie die besten Stücke mit. Gegen Mittag hatte sie Tim und Mandy zum ersten Mal kurz aus ihrem Hirn verdrängt und sang lauthals.
Aber der Schmerz kam natürlich wieder. Vielleicht wusste das Internet Rat, was man bei Liebeskummer am besten tat? Wie man dieses verdammte Reißen im Herzen loswurde. Die dunklen Gedanken aus dem Kopf bekam.
Marlene tippte LIEBESKUMMER in die Suchmaschine ein. Über 800.000.000 Treffer gab es. Scheinbar war sie nicht die Einzige auf der Welt mit diesem ätzenden Gefühl. Der Rat von Brücken-Heinz fiel ihr wieder ein. Dass sie sich einfach nach einem anderen Freund umsehen sollte, wenn der eine nicht der Richtige war. Marlene seufzte tief. Eigentlich hatte sie von Jungs die Nase mehr als voll. Anderseits konnte ein bisschen Trost nicht schaden. Ihre Mitschüler kamen natürlich alle nicht infrage. Und die Typen aus ihrem Basketball-Verein hatten scheinbar nichts als Sport im Kopf. Marlene sah den Jungs öfter mal beim Training zu. Aber niemand schien sie zu beachten. Nur Yannick und Lando hatten ihr ab und zu mal zugezwinkert.
„Nein!“, murmelte Marlene. „Irgendwo muss es ein Nest geben, wo sich all die coolen Jungs verstecken.“
Marlene schämte sich ein bisschen, die Worte einzutippen, aber es sah sie ja niemand.
Neue Liebe
600.000 Treffer! Marlene klickte einige von ihnen an. Es waren hauptsächlich Berichte von irgendwelchen Promis, die mit irgendwem irgendwo gesehen worden waren. Nun brodelte die Gerüchteküche, ob die beiden nun zusammen waren … Gähn! Stinklangweilig!
Unten auf der Seite aber fand Marlene einen Eintrag, der besser klang. Neue Liebe, so hieß auch ein Chatroom für Teenies von dreizehn bis siebzehn. Neue Liebe wurde von ihrer Lieblingszeitschrift empfohlen, weil alle Daten genau geprüft wurden. Es bestand also keine Gefahr, dass man mit einem alten Sack über Musik oder Kino chattete. Trotzdem … Sie konnte sich nicht vorstellen, jemandem ihr Herz auszuschütten, den sie noch nie gesehen hatte. Oder sich sogar verlieben? Das hatte sie doch gar nicht nötig. Marlene dachte an Tim und seufzte. Vielleicht hatte sie es doch nötig …
Marlene rief die Internetseite auf und las sich alles durch. Nachdem man sich angemeldet hatte, konnte man ein Profil von sich erstellen. Dabei durfte jeder selbst entscheiden, wie viel er von sich preisgeben wollte. Nur das Alter und das Geschlecht mussten stimmen. Beim Namen wurde sogar dringend empfohlen, nicht den eigenen zu nennen, sondern einen zu erfinden. Nach diesem Schritt konnte man auf der Neue-Liebe-Seite herumsurfen und Jugendliche aus dem ganzen Land anschreiben.
Dabei musste es nicht unbedingt um die große Liebe gehen, stand dort. Man konnte sich auch nur so zum Spaß mit Jungen und Mädchen über Schule, Familie oder sonstige Probleme austauschen.
Marlene musste lachen: Schule, Familie und sonstige Probleme! Die Betreiber der Seite hatten echt Humor. Und sie kannten sich offensichtlich damit aus, was Jugendliche in Marlenes Alter wollten.
Sie fasste sich ein Herz und schickte ihre Daten zur Überprüfung an Neue Liebe. Eine Viertelstunde später bekam Marlene die Freigabe und begann damit, ihr Profil zu erstellen.
Alter: 13
Geschlecht: weiblich
Zustand: Herz gebrochen
Name: …
Marlene dachte nach. Sie brauchte einen Namen, der sowohl cool klang als auch nach einem hübschen Mädchen.
Kätzchen? – O Gott, nein!
Mausi? – Zum Brechen!
Discoqueen? – Zu billig!
Puh, gar nicht so einfach! Marlene wünschte, Anna wäre da und könnte ihr helfen. Aber die hatte gerade erst Englisch hinter sich und musste nun in Sport ihre Runden drehen. Trotzdem schrieb sie ihr eine Nachricht.
Wenn ich einen Spitznamen bräuchte, der voll zu mir passt – wie würdest du mich da nennen?
Marlene wartete und wartete. Andauernd sah sie auf die Uhr und stellte sich vor, was Anna gerade machte: 100-Meter-Lauf, Weitsprung, Faustball. Dann umziehen. Dann vom Sportplatz zur Schule zurückgehen. Auf diesem Weg checkte sie eigentlich immer ihr Handy …
Da rasselte ihr Smartphone. Marlene atmete tief durch. Auf Anna konnte man sich eben immer verlassen. So eine beste Freundin brauchte wirklich jedes Mädchen auf dem ganzen Erdball!
Passender Spitzname? – Sunflower! Denn du strahlst wie die Sonne und bist so schön und zerbrechlich wie eine Blume.
Marlene musste einen Eimer voll Tränen runterschlucken. Anna fand sie also schön. Sie selbst hatte gerade eher das Gefühl, einer Mülltonne zu ähneln. War das die Zerbrechlichkeit, die Anna meinte? Ja, sie war schön und strahlend, aber nur, wenn alles in ihrem Leben bombastisch lief. Kam etwas dazwischen, zweifelte Marlene an sich selbst. An ihrem Aussehen, ihrer Klugheit und, was das Schlimmste war: an ihrer Berechtigung, geliebt zu werden und glücklich zu sein. So wie jetzt gerade.
„Jetzt gerade!“, schimpfte Marlene mit sich selbst. Sie mixte sich einen kühlen Himbeer-Melonen-Smoothie, dann wandte sie sich wieder ihrem Profil zu.
Name: Sunflower
Hobbys: Musik hören, Kino, Tanzen, Basketball, Chillen und Chips killen
Marlene kicherte über das letzte Hobby. Einen Moment lang dachte sie daran, Chips killen wieder zu löschen. Vielleicht klang das zu sehr nach einem pickeligen, unsportlichen Klops mit Mordfantasien? Aber sie entschied sich doch, es stehen zu lassen. War mal was anderes. Und ein Junge mit demselben Humor musste sicher genauso darüber lachen wie sie – und meldete sich dann.
Profil zu 99% fertig, blinkte es auf.
Sie brauchte noch ein sicheres Passwort, um sich jederzeit wieder einloggen zu können. Marlene überlegte. Sie hatte schon unterschiedliche Passwörter für die Musikseite, für ihr E-Mail-Postfach, für zwei Online-Spiele und für drei Online-Kaufhäuser, bei denen sie bestellen wollte, sobald sie achtzehn war.
Dann sprang es ihr in den Kopf. Einfach so. Ihr Passwort bei Neue Liebe war: Welt_ohne_Tim
Marlene kritzelte die Wörter auf ihre Schreibtischunterlage. Dann klickte sie auf Abschicken und holte das einzige ausgedruckte Foto von Tim aus dem Nachttisch.
„So, Tim!“ Sie grinste ihn böse an. „Jetzt bist du Geschichte! Vergessen! Aus meinem Leben gestrichen! Der Rest der Welt wird sich um mich reißen! Dann kommst du angekrochen, aber weißt du was? Dann will ich dich nicht mehr!“
Sie riss das Foto in der Mitte durch. Dann noch mal und noch mal und noch mal. Bis nur noch Konfetti von ihrer ersten großen Liebe übrig blieb. Und dann tat Marlene etwas, das sie sonst nie getan hätte. Eine saubere Umwelt war ihr wichtig, schließlich wollte sie in der Stadt nicht dauernd über leere Pappbecher, Pommesschachteln oder Plastikflaschen stolpern. Jetzt aber ging es nicht anders. Sie öffnete das Fenster und schleuderte eine Handvoll Tim weit von sich. Der leichte Sommerwind ergriff die Fetzen und wirbelte sie übers Nachbarhaus. Einer nach dem anderen wehte davon. Es war wie eine Befreiung. Nun war er endgültig gegangen – aber diesmal hatte sie ihn rausgeschmissen.
Als Marlene wieder an den Schreibtisch trat, stutzte sie. Sie hatte bereits drei Nachrichten bei Neue Liebe!
„Das ging aber schnell“, murmelte sie und setzte sich. Die erste Nachricht war von Turbolover.
Ey, Süße, Bock auf Knutschen? Wo?
Marlene drückte sofort auf den roten Button. Klick! Jetzt konnte ihr dieser Idiot nie wieder schreiben.
Die zweite Nachricht war von Traktor-Fan.
Hallo ich heise in echt Sascha und ich finde dich doll weil du dich Sunflower nennst. Die Sonnenblume ist eine wichtige Nutzpflanze und auch als Mastfutter für Säue und Rinder kann man sie einsetzen. Tanzen mag ich zwar nicht so, aber wenn du etwas über Trecker und Landmaschinen wissen willst kannst du mich alles fragen.
Klick!
Aus der dritten Nachricht wurde Marlene nicht ganz schlau. Sie stammte von Mister Kiss:
Warum ist ein Mädchen wie du vormittags zu Hause? Schwänzt du?
Marlene wollte zuerst auch diese Nachricht wegklicken, doch irgendetwas in ihr verlangte, dass sie antwortete. Aber die Wahrheit würde sie nicht schreiben. Es machte sicher keinen guten Eindruck, wenn ein Mädchen gleich beim ersten Kontakt von ihrem Ex anfing.
Sunflower: Woher weißt du, dass ich zu Hause bin?
Mister Kiss: Hast dein Profil eben erst eingerichtet. Das geht nicht mal schnell in der Pause.
Sunflower: Blitzmerker! Gut kombiniert!
Mister Kiss: Danke! Also, warum zu Hause?
Sunflower: Bisschen krank.
Mister Kiss: Tut mir leid. Schlimm?
Sunflower: Nö, morgen gehe ich wieder.
Mister Kiss: Magst du Schule?
Sunflower: Meistens. Unsere Lehrer sind ganz okay.
Mister Kiss: Und die Jungs?
Sunflower: Ätzend! Milchbubis oder kichernde Zahnspangen.
Mister Kiss: Hahaha! So sind die bei uns auch! Leider auch die Mädchen.
Sunflower: Und du?
Mister Kiss: Ich natürlich nicht – hey, ich bin Mister Kiss! Muss jetzt zum Sport, haben Basketball. Heute Abend wieder chatten?
Alles in Marlene brüllte: Jaaaaaa! Mister Kiss schien – abgesehen von dem etwas zu eingebildet klingenden Namen – ein echt witziger Typ zu sein. Auf jeden Fall machte es Spaß, mit ihm zu chatten. Aber sollte sie sich wirklich gleich mit dem Erstbesten verabreden? Sie beendete das Gespräch mit
Sunflower: Mal sehen.
Mister Kiss antwortete nicht mehr. Marlene klickte die Neue-Liebe-Seite mehrmals wieder an. Aber es kam keine weitere Zeile zu ihrem Chat hinzu.
Schlecht gelaunt warf sich Marlene aufs Bett. Eineinhalb Stunden lang blätterte sie lustlos in einer Zeitschrift, ohne auch nur einen Bericht richtig zu lesen. Dann war die Doppelstunde von Mister Kiss um, vermutete sie. Doch im Chat tat sich immer noch nichts.
Marlene ging in die Küche und kochte sich Spaghetti mit ihrer Marlene-Spezial-Soße: klein gehackte Möhren und Zwiebeln in etwas braunem Zucker karamellisieren, mit einer Tasse Gemüsebrühe einkochen lassen, eine Dose gehackte Tomaten dazu, Salz, Pfeffer, Oregano. Obendrauf Olivenöl und ein paar Blätter Basilikum. Normalerweise eine Bombe! Heute jedoch schmeckte alles irgendwie nach Spülwasser.
Vielleicht lag es daran, dass Marlene alle dreißig Sekunden in ihr Zimmer lief, um den Computer zu checken? Oder an Tim dachte, der ihr diesen Klumpen im Bauch beschert hatte?
Sie stellte den halb vollen Teller in die Spüle. Sie hasste es, Essen wegzuwerfen, dafür gab es zu viel Hunger auf der Welt. Aber wenn sie sich den Magen verrenkte, half das auch niemandem.
Um zehn vor drei klingelte es an der Tür. Marlenes Herz begann sofort zu wummern. Einen kurzen Augenblick lang glaubte sie ernsthaft, Mister Kiss hätte ihre Adresse herausgefunden und würde sie besuchen kommen.
Es war Anna. Zum Glück!
„Hi, Leni!“, begrüßte Anna sie. „Siehst ja ein bisschen besser aus. Wie geht’s dir?“ Sie hauchte ihrer Freundin links und rechts einen Kuss auf die Wange.
„Na ja“, murmelte Marlene. „Ging schon mal besser. Sogar meine Spezialsoße ist mir misslungen.“
Anna pfiff durch die Zähne. „Das hört sich ernst an. Eigentlich solltest du froh sein: Mathe war echt die Hölle! Ich hab nur die Hälfte. Und Tim hat sogar ein leeres Blatt abgegeben. Der wusste gar nichts!“
Kurz durchzuckte Marlene ein Hauch von Schadenfreude. Dann aber schossen ihr böse Bilder durch den Kopf: Tim und Mandy, die nach dem Kino noch zum Lernen zu ihm gingen, vor lauter Verliebtheit aber nicht dazu kamen, ein Buch aufzuschlagen … Das tat verdammt weh!
„Hmmm …“, machte sie nur, ließ sich auf ihr Bett fallen und wickelte sich in ihre Decke ein. Obwohl draußen 35 Grad waren, fror sie plötzlich.
Da machte ihr Computer Pling! Und ehe Marlene protestieren konnte, hatte Anna schon die Nachricht gelesen. Die neue Nachricht von Mister Kiss.
Mister Kiss: Hey, Sunflower, geht’s dir wieder besser?
Anna sah Marlene verwirrt an. Dann begriff sie. „Ach, dafür hast du den Spitznamen gebraucht! Für einen Liebes-Chat. Bist du wirklich so verzweifelt? Ich dachte immer, das machen nur irgendwelche Tussis, die in freier Natur nie einen abkriegen würden?!“
Marlene wollte eigentlich sauer sein. Aber sie musste lachen. In freier Natur! So sprach nur Anna.
„Mir war halt langweilig“, rechtfertigte sie sich. „Außerdem tut es verdammt gut, wenn sich ein Junge für einen interessiert. Nach dem, was mir heute Morgen passiert ist.“
Anna nickte. „Verstehe ich, entschuldige. Als mit Dennis Schluss war, habe ich mich sogar lange mit dem Prospekt-Austräger unterhalten – nur weil der ein Junge war. Der schmeißt mir heute noch Schokotäfelchen in den Briefkasten.“
Sie lachten.
„Und?“, fragte Anna. „Was soll ich Mister Kiss antworten?“
„Untersteh dich!“, brüllte Marlene und schleuderte Anna ein Kissen an den Kopf. „Der ist in Ordnung.“
Es machte noch einmal Pling!
„Hey“, sagte Anna grinsend. „Der meint es ernst. Er hat ein Foto geschickt! Nicht schlecht, der Typ!“
In doppelter Lichtgeschwindigkeit saß Marlene bei ihrer Freundin auf dem Schoß. Mister Kiss war echt eine Hammerschnitte! Blond, grüne Augen, ein nettes Lachen. Er war modisch angezogen und wirkte nicht arrogant oder sonst wie merkwürdig.
Mister Kiss: Ich weiß, es geht ein bisschen schnell. Aber ich finde, du solltest wissen, mit wem du es zu tun hast. Schickst du mir auch ein Foto?
„O Gott!“, würgte Marlene hervor. „Was mache ich denn jetzt?“
Anna zuckte mit den Schultern. „Na, du schickst ihm ein Foto – wenn du weiterhin mit ihm chatten willst.“ Sie grinste. „Sonst nehm ich ihn.“
Marlene boxte Anna auf die Schulter. „Wehe!“
Sie sah sich ihre Fotos auf dem Smartphone an. Keines gefiel ihr auch nur halbwegs. Auf den meisten sah sie total unförmig aus, mal zu fett, mal zu mager. Mal glänzte ihr Gesicht wie eine Speckschwarte, mal schielte sie oder hatte drei Doppelkinne. Mal hatte sie einen Kopf wie ein roter Luftballon kurz vorm Platzen, dann wieder wirkte ihr Gesicht, als trüge sie ein schlecht sitzendes Gebiss.
„Ich schreibe ihm einfach, ich hätte keine Fotos“, grummelte Marlene. „Weil meine Eltern in einer Sekte sind, die das verbietet.“
Anna nickte. „Ja, mach doch. Dann will er dich sicher heiraten.“
Marlene bohrte ihr den Ellenbogen in die Rippen. „Blöde Kuh!“
Sie suchte weiter, sah alle Fotos von der Klassenfahrt durch. Die Selfies von ihr waren echt schrecklich. Warum war sie bloß nicht so fotogen wie Mandy? Die sah auf jedem Bild aus wie gerade von einem Titelblatt gestiegen. Modisch, überlegen, cool und sehr hübsch.
Marlene kam ein Gedanke … Mister Kiss kannte sie ja nicht. Wahrscheinlich wohnte er am anderen Ende des Landes. Weit, weit weg. Gemeinsame Bekannte gab es nicht. Sie würden sich niemals treffen. Warum also nicht …?
Marlene suchte das tollste Foto von Mandy heraus, das sie hatte. Einen Moment lang zögerte sie noch.
Ehe Marlene weiß, was passiert, hat sie Mandys Foto an Mister Kiss geschickt. Hättest du das auch so gemacht? Dann klicke hier.
Marlene fragt Anna um Rat. Soll sie wirklich so tun, als ob sie Mandy wäre? Wenn du genauso gehandelt hättest, klicke hier.