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Zum Buch

Neve hält sich immer an die Regeln, und die oberste Regel besagt, dass Frauen wie sie nie die wirklich tollen Männer erobern. Denn Neve ist schüchtern, verbringt ihre Samstagabende am liebsten mit Lesen und findet sich viel zu dick. William hingegen, in den sie seit ihrer Studienzeit verliebt ist, gehört zu diesen tollen Männern. Aber er ist seit drei Jahren in Kalifornien, und Neve nutzt diese Zeit, um abzunehmen und sich neu zu erfinden. Wenn seine Rückkehr nach London ansteht, soll er ihr nicht mehr widerstehen können und sich Hals über Kopf in sie verlieben. Da wäre nur noch ein Problem: Neve ist in Liebesdingen völlig unerfahren, und wenn sie ihren Traumprinzen erobern will, dann sollte sie besser etwas Übung bekommen. Was Neve also braucht, ist ein Versuchskaninchen. Wie zum Beispiel Max, den gutaussehenden Kollegen ihrer Schwester. Er ist cool, oberflächlich, sexy und lässt nichts anbrennen. Von ihm könnte Neve Einiges lernen, und da er überhaupt nicht ihr Typ ist, wird sie sich sicher nicht in ihn verlieben. Das zumindest besagen ihre Regeln, und die müssen ja stimmen. Es geht ja nur darum, ein bisschen zu üben. Doch manchmal muss man seine eigenen Regeln über Bord werfen und das tun, was das Herz einem sagt – denn ihr Herz hat sie irgendwann zwischen Imagewechsel und Diät verloren, stellt Neve beinahe zu spät fest.

Zum Autor

Sarra Manning ist Journalistin und Autorin und lebt in England. Sie begann ihre Karriere als Autorin für verschiedene Jugendzeitschriften und schreibt zurzeit unter anderem für Elle und Guardian über Mode und Lifestyle. Ihre Jugendbücher avancierten in England und Deutschland zu Bestsellern. Was sich küsst, das liebt sich ist ihr zweiter Roman für Erwachsene.

Sarra Manning

Was sich küsst,

das liebt sich

Roman

Aus dem Englischen von Ursula C. Sturm

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe YOU DON’T HAVE TO SAY YOU LOVE ME

erscheint bei Corgi Books, einem Imprint von Transworld Publishers,

The Random House Group Ltd., London

 

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Deutsche Erstausgabe 05/2012

Copyright © 2011 by Sarra Manning

Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag,

München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Eva Philippon

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik·Design, München,

unter Verwendung eines Fotos von © ZenShui by PhotoAlto / f1-online

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-08783-8
V002

www.heyne.de

Für das Mädchen, das ich einmal war

vernünftig genug, sich zu einer Diät zu entschließen

und sie auch durchzuziehen.

Es ist sehr viel schwerer,

ein Phantom umzubringen,

als etwas Wirkliches.

Virginia Woolf

TEIL EINS

Wishin’ and Hopin’

Kapitel 1

Neve setzte sich und spürte sogleich, wie sich ihr Slip und ihre Strumpfhose selbstständig machten. Sie rutschte nach vorn zur Sofakante, stellte die Füße fest auf den Boden, richtete den Oberkörper auf und zog den Bauch ein, aber es nützte alles nichts – der doppelt verstärkte Strumpfhosenbund wanderte weiter Richtung Süden, und ihre Schwimmreifen quollen heraus und schmiegten sich, erfreut über die plötzlich wiedergewonnene Freiheit, an die Nähte ihres Vintage-Kleides, in das sie ohne figurformende Unterwäsche und Strümpfe gar nicht erst hineingekommen wäre. Ihre diesbezüglich geäußerten Bedenken waren bei ihrer Schwester Celia allerdings auf taube Ohren gestoßen.

Auch Neves Beteuerungen, dass sie viel lieber bei einer Tasse Tee und einem guten Buch daheimbleiben würde, hatte Celia unerbittlich ignoriert. So kam es, dass Neve nun hier auf einer ungemütlichen Chaiselongue in diesem heißen, stickigen Nachtklub in Soho kauerte, umgeben von massenhaft modisch gekleideten Menschen, die sich gegenseitig anbrüllten, um sich über die dröhnenden Bässe der Musik hinweg Gehör zu verschaffen.

»Ich hasse dich«, zischte sie ihrer Schwester zu, die sich gerade neben ihr niederließ.

»Von wegen. Du liebst mich«, erwiderte Celia erbarmungslos. »Hier, dein Drink. Du wirst deinen Weißwein wohl oder übel pur trinken müssen – das Wort Weinschorle wollte mir partout nicht über die Lippen kommen.«

Neve nahm wenig begeistert einen Schluck und versuchte dabei, den Bauch einzuziehen. »Wann kann ich endlich nach Hause gehen, Celia?«

»Ich werde mal so tun, als hätte ich das gar nicht gehört«, antwortete Celia, während sie mit zusammengekniffenen Augen den Raum durchforstete. »Ich finde es klasse, dass wir endlich mal gemeinsam auf Aufriss gehen. Das wird ein Spaß! Also, hast du schon einen Typen gesichtet, der dich interessiert?«

Von Spaß konnte keine Rede sein. Und überhaupt

»Ich habe nicht vor, mir irgendwelche Typen aufzureißen«, entgegnete Neve steif. »Ich habe mich lediglich dazu bereit erklärt, ein wenig mit heterosexuellen Single-Männern zu plaudern und vielleicht ein kleines bisschen zu flirten. Vom Aufreißen bin ich noch weit entfernt. Meilenweit.«

»Das werden wir ja sehen«, meinte Celia. »Wie findest du Martyn von der Schlussredaktion?«

Neve spähte in die Richtung, in die Celia zeigte. Der Betreffende war zwar nicht ganz so topmodisch gekleidet wie die übrigen anwesenden Männer, aber er spielte trotzdem in einer ganz anderen Liga als Neve. Im Grunde genommen spielte sogar der Verkäufer der Straßenzeitung Big Issue, der immer vor der U-Bahn-Station am Leicester Square stand, in einer anderen Liga als sie – schließlich hatte Neve, was Männer anging, ungefähr so viel Erfahrung wie eine achtzehnjährige Klosterschülerin, die auf ihren ersten Ball geht.

Celia hatte behauptet, es würde schon ausreichen, wenn Neve ihre Bücher aus der Hand legte und an Orten verkehrte, an denen Single-Männer anzutreffen waren. »Du stellst einfach Blickkontakt her, lächelst ein bisschen und sagst irgendetwas über die Musik oder über das lahme Barpersonal, und schon bist du im Rennen«, hatte sie ihr unbekümmert versichert. »Aber vor allem musst du überhaupt erst mal unter Leute.«

Genau deshalb war Neve nun hier, auf der Weihnachtsfeier von Celias Firma. Nach Neves Erfahrung gehörten zu Firmenfeiern für gewöhnlich einige ausgeleierte Papiergirlanden, ein paar Plastikschüsseln mit labberigen Kartoffelchips und eine Sekretärin, die in der Damentoilette heulte. Doch Celia arbeitete für das Modemagazin Skirt, und deshalb gab es Tempura-Rolls, Lichtinstallationen und eine Meute bildhübscher Mädchen in den neuesten Designerklamotten, die Neve bislang nur in Zeitschriften gesehen hatte und von denen sie nicht angenommen hätte, dass jemand sie im richtigen Leben trug. Es war zwar schon Ende Januar, aber die Skirt-Angestellten waren im Dezember offenbar zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Weihnachtsfeiern anderer Firmen zu besuchen, um selbst eine zu organisieren.

»Ach, Celia, bitte nicht«, flehte Neve, als ihre Schwester begann, besagtem Martyn mit beiden Armen zuzuwinken, worauf er sich sogleich begeistert aus der Menge löste und zu ihnen eilte.

Seine Begeisterung verwandelte sich in Entzücken, als Celia den Arm um ihn legte. »Martyn, das ist meine große Schwester Neve. Sie ist unglaublich klug und kennt jede Menge komplizierter Wörter; ihr habt also viel gemeinsam.«

Martyn blickte ungläubig zwischen Neve und Celia hin und her. Kein Wunder, denn sie sahen sich nicht im Entferntesten ähnlich. Neve kam optisch ganz nach ihrem Vater, dessen bodenständige Familie aus dem ländlichen Yorkshire stammte, während Celia jedes einzelne keltische Gen ihrer Mutter aufgesaugt hatte. Celia war schmal und schlaksig, und dass ihr Gesicht scharfe Züge aufwies, fiel nicht weiter auf, weil stets ein lässiges Grinsen ihre Lippen umspielte, das sich in ihren strahlend grünen Augen spiegelte. Mit ihren Beinen konnte sie einem Showgirl in Las Vegas Konkurrenz machen, und ihre lange, lockige Mähne war so feuerrot, dass es niemand wagte, sie deswegen aufzuziehen.

Neve dagegen war unleugbar kräftig gebaut, wirkte aber zugleich weich und nachgiebig. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass alles an ihr vage und undefiniert war – angefangen von ihrem Aussehen bis hin zu der Tatsache, dass man ihr selbst Meinungen, die sie für tief verankert hielt, mühelos ausreden konnte. Celia und ihre Mutter sagten stets, Neves dunkelblaue Augen und ihr glattes, dichtes, dunkelbraunes Haar seien das Schönste an ihr. Sie hatte auch einen tollen Teint, doch alles, was unterhalb des Halsausschnitts lag, erforderte noch eine ganze Menge Arbeit. Neve konnte damit leben, dass den Männern nie die Luft wegblieb, wenn sie an ihnen vorbeiging, aber sie wünschte, Martyn würde nicht gar so bestürzt aus der Wäsche gucken, als Celia nun plötzlich »Ich geh mal eben zur Bar« murmelte und verschwand.

»Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte Neve und streckte ihm die Hand hin. Sie wusste, sie hätte sich erheben sollen, statt ihn wie eine betagte Monarchin zu begrüßen, aber es stand zu befürchten, dass ihr dann die Strumpfhose zu den Knien hinunterrutschte. Außerdem hätte sich Martyn ja auch setzen können, aber er blieb vor ihr stehen. »Ähm … Gefällt dir deine Arbeit?«

Er zuckte die Achseln. »Das Gehalt reicht, um die Hypothek abzuzahlen«, meinte er. »Außerdem bekomme ich gratis Pflegeprodukte. Das ist aber auch schon alles.«

»Tja … Die Schlange an der Bar ist aber ziemlich lang«, murmelte Neve und hoffte, damit nicht den Eindruck zu erwecken, sie wolle einen Drink abstauben. Doch Martyn nickte bloß und blickte weiter nach rechts und links – überallhin, bloß nicht zu ihr.

Allmählich begann sich Neve über ihn zu ärgern, obwohl ihr durchaus bewusst war, dass ihr Talent in puncto Flirten gegen null ging. Zugegeben, sie war nicht Celia, aber wenn Martyn vorhatte, Celia irgendwann aus ihrem pfauenblauen Overall zu schälen, dann wäre es durchaus ratsam, sich zuerst mit der großen Schwester gutzustellen, fand sie.

Egal, als Versuchskaninchen kam er Neve gerade recht. »Und, was ist dein Lieblingswort? Meines ist Karfunkel. Oder vielleicht auch Omnibusbahnhof. Ich kann mich nicht entscheiden. Schreibt man Omnibusbahnhof eigentlich zusammen oder mit Bindestrich?«

Jetzt hatte sie Martyns volle Aufmerksamkeit. »Meinst du das ernst?«

Neve nickte. »Das frage ich mich schon lange.« Dieses Problem würde sie jetzt den Rest des Abends beschäftigen, bis sie nach Hause kam und im Wörterbuch nachschlagen konnte. »Tolle Party übrigens.«

»Hör zu, Eve …« Martyn breitete die Arme aus und lächelte verlegen. Neve mochte zwar keine Ahnung vom Flirten haben, aber sie wusste, wann ihre Zeit abgelaufen war.

»Ich heiße Neve«, korrigierte sie ihn sanft. »Und ich weiß, du bist nur rübergekommen, weil du gedacht hast, dass Celia mit dir reden will, als sie dir zugewinkt hat. Stattdessen hast du jetzt mich an der Backe.«

»Nein, nein, das ist es nicht«, protestierte Martyn. »Du bist bestimmt echt nett … Du bist echt nett, aber mein Kollege hat gerade eine Runde ausgegeben, und ich sollte ihm beim Tragen helfen. Ist nicht persönlich gemeint.«

Neve nickte verständnisvoll. »Geh nur.«

»War echt nett, mit dir zu plaudern, Eve«, versicherte ihr Martyn und machte einen Schritt nach hinten. »Vielleicht sieht man sich ja später noch.«

»Klar.« Aber er hatte Neve bereits den Rücken zugekehrt. Nun, da sie wusste, dass selbst ein Mann, der seinen Lebensunterhalt mit Korrekturlesen verdiente, sie langweilig und unattraktiv fand, konnte sie eigentlich auch aufstehen und ungeniert ihre Strumpfhose samt Slip nach oben zurren. Gesagt, getan. Dann sank sie wieder zurück auf das Sofa und starrte auf ihre schwarzen Lackleder-Spangenschuhe, bis sich Celia und ihre Mitbewohnerin Yuri rechts und links von ihr niederließen.

»Na, wie ist es mit Martyn gelaufen?«, erkundigte sich Celia neugierig, während sie Neves Glas gegen ein volles austauschte, dabei konnte sich Neve nicht erinnern, das erste geleert zu haben.

»Gar nicht. Kann ich jetzt bitte nach Hause gehen?«

»Ich habe Celia gleich gesagt, dass das mit dir und diesem Martyn nichts wird«, meinte Yuri verschwörerisch. Würde Yuri nicht praktisch jeden Morgen im Pyjama an Neves Tür klopfen, um sich Tee oder Milch oder ab und zu auch einen sauberen Teelöffel auszuleihen, dann fände Neve sie wohl genauso Furcht einflößend wie ihr großer Bruder Douglas, der immer behauptete, Yuri sei die Furcht einflößendste Frau auf Erden – was einer gewissen Ironie nicht entbehrte, wenn man bedachte, mit wem er verheiratet war. Neve hatte jedenfalls noch nie zuvor eine Japanerin mit Afrolook kennengelernt, geschweige denn eine, die – dank der Sprachschule in New Jersey, an der Yuri Englisch gelernt hatte – redete wie Carmela, die Gattin des Mafiabosses aus der Fernsehserie Die Sopranos. Wäre Celia nicht vor einem Jahr mit Yuri im Schlepptau aus New York zurückgekehrt, und wäre Neve nicht Celias ältere Schwester, was ihr in Yuris Augen automatisch »elf Milliarden Coolness-Punkte« einbrachte, dann hätte Yuri sie wahrscheinlich gar nicht zur Kenntnis genommen. Und dann würde sie jetzt auch nicht so gut gelaunt sämtliche Gründe aufzählen, warum Martyn nicht der Richtige für Neve war.

»Er trinkt Bier mit Limo und schwitzt wie ein Schwein«, schloss Yuri soeben verächtlich. »Deine Schwester hat echt etwas Besseres verdient, Celia.«

»Der war doch bloß zum Aufwärmen gedacht.« Celia setzte ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck auf. »Wie wär’s mit einem Model? Männliche Models sind gar nicht so schwer rumzukriegen wie die Leute immer meinen. Sie sind fürchterlich unsicher, was ihr Aussehen angeht, sprich, da liegt die Latte nicht besonders hoch.«

»Vielen Dank auch«, fauchte Neve und schüttelte sich verärgert. »Hör mal, es war nett von dir, mich mitzunehmen, aber ich bin hier total fehl am Platz. Alle sind hip und attraktiv, und ich komme mir vor wie eine spießige alte Jungfer.«

»So ein Unsinn!«, schnaubte Celia. »Dein kleines Schwarzes ist total cool.«

»Klein ist wohl kaum der passende Ausdruck«, widersprach Neve. »Ich fühle mich überhaupt nicht wohl in meiner Haut, und außerdem glotzt uns der Knabe da drüben schon seit fünf Minuten an.«

Als Yuri und Celia zur Bar hinüberschauten, hob der Betreffende beifällig grinsend sein Glas. Es schien ihn nicht zu stören, dass die drei ganz offensichtlich über ihn redeten.

»Der glotzt nicht, er fickt uns mit Blicken«, klärte Yuri Neve auf.

»Er tut was?«

»Max fickt jede Frau mit Blicken«, meinte Celia nonchalant. »Er ist einer unserer wichtigsten freien Autoren und ein richtiger Playboy. Und er ist definitiv kein Mann, an dem du deine Flirtkünste erproben solltest, Neve. Der vernascht dich mit einem einzigen Bissen und hat danach noch Platz für ein ausgiebiges englisches Frühstück.«

Obwohl Neve eben noch versucht hatte, ihn zu ignorieren, spähte sie nun angestrengt durch den Disconebel und die blinkenden Lichter, um diesen sexbesessenen Journalisten, der inzwischen mit zwei hübschen Blondinen flirtete, etwas genauer in Augenschein zu nehmen.

»Also, ich schätze mal, er hat euch beide mit Blicken ge…dingst, nicht mich – und selbst wenn: Ich bin durchaus in der Lage, auf mich selbst aufzupassen«, versicherte Neve ihrer Schwester und tätschelte ihr die Hand, weil Celia plötzlich irgendwie nervös wirkte und ganz rot angelaufen war, was aber auch an ihrem Vintage-Overall aus Polyester liegen konnte.

»Nein, bist du nicht«, erwiderte Celia nachdrücklich. »Du hast null Erfahrung mit solchen Männern. Du hast immer ein so behütetes Leben geführt.«

»Du machst tatsächlich einen recht unschuldigen Eindruck, Neve«, pflichtete Yuri ihr bei. »Du hattest doch schon mal Sex, oder?«

Neve hätte sich beinahe an ihrem Wein verschluckt. »Natürlich! Äh, glaube ich zumindest. Ich meine, wir hatten angefangen, aber es tat ziemlich weh. Es war einfach grauenhaft … Ach, ich will nicht darüber reden.«

Sie verschränkte die Arme und warf Celia einen finsteren Blick zu. Celia war der einzige Mensch auf der Welt, den Neve mit diesem Blick bedachte. »Ich bin drei Jahre älter als ihr, also hört auf, hier die Erfahrenen zu markieren.«

»Wir wollten dich nur vor dem bösen Wolf warnen.«

»Das ist nicht nötig«, winkte Neve ab, während sie erneut zur Bar hinüberschaute, um noch einen Blick auf den berüchtigten Skirt-Schreiberling zu erhaschen, der nun die Arme um die beiden Blondinen gelegt hatte. »Ich habe noch nie einen richtigen Casanova in Fleisch und Blut gesehen. Haben die nicht normalerweise ein Oberlippenbärtchen?«

Celia musterte ihre Schwester mit einer Mischung aus Zuneigung und Verzweiflung. »Er ist nicht wie ein Casanova aus einem verstaubten alten Schinken, Neve«, sagte sie herablassend. »Der Kerl ist ein waschechter Hurenbock aus dem 21. Jahrhundert.«

Yuri nickte. »Ja, er ist ein männliches Flittchen, aber er hat ein gutes Herz.«

»Genug von Max.« Celia boxte Neve in die Rippen. »Auf, auf – wenn du den ganzen Abend in der hintersten Ecke hockst, lernst du nie einen Mann kennen.«

»Aber es ist doch schon ein Erfolg, dass ich das Haus verlassen habe und hier in dieser Ecke sitze, findest du nicht? Ich verfolge die Taktik der kleinen Schritte … Bitte, Celia, lass das!«

Celia hatte ihr unsanft eine Hand unter die Achsel geschoben und sie mit Yuris Hilfe von der Couch hochgehievt. »Wir mischen uns jetzt ein bisschen unters Volk. Das wird lustig«, erklärte sie energisch.

Aber es war nicht lustig. Nicht im Geringsten. Neve wechselte von Wein zu Weinschorlen, schlurfte hinter ihrer Schwester her und hielt ihre Tasche, während Celia auf der Tanzfläche allerlei Verrenkungen vollführte oder Neve einen nicht abreißenden Strom von Männern vorstellte, die in ihren hautengen Jeans und T-Shirts und mit ihren trendigen Frisuren alle gleich aussahen. Für Neve interessierten sie sich genauso wenig wie Martyn, verhielten sich ihr gegenüber jedoch immerhin neutral bis höflich, wohl in der Hoffnung, dass Neve bei Celia ein gutes Wort für sie einlegen würde.

Noch ein Glas, dann gehe ich endgültig, schwor sich Neve, während Celia sie zur Bar bugsierte. »An der Bar zu stehen ist eine todsichere Methode, um Männer kennenzulernen«, erläuterte Celia. »Besonders, wenn sich eine Schlange gebildet hat.« Unter Einsatz ihrer Ellbogen bahnte sie sich einen Weg durch die Horden, die darauf warteten, bedient zu werden. »Du siehst dich ein bisschen um, versuchst, die Aufmerksamkeit eines geeigneten Kerls auf dich zu ziehen, und ihr lächelt euch an, weil es so ewig dauert. Du kommst natürlich zuerst dran; du bist schließlich eine Frau. Du bietest ihm an, für ihn mitzubestelllen, er wird dich einladen, weil er denkt, dass er bei dir landen kann, und schon hast du’s geschafft.«

»Ich werd’s mir merken«, murmelte Neve, aber Celia war bereits damit beschäftigt, einem Mann neben ihnen ihr Mitleid zu bekunden, weil er schon ach so lange wartete.

»Och, du guckst ja richtig unglücklich aus der Wäsche, Neve«, flötete Celia, als sie schließlich dank ihrer überragenden Flirtkünste je ein Gratisgetränk in den Händen hielten. »Komm, wir setzen uns fünf Minuten hin, ehe wir mit der Mission Männerfang weitermachen.«

»Nix Männerfang. Ich nenne es Mission Flirten für Anfänger«, widersprach Neve, folgte Celia jedoch in eine dunkle Nische, wo zwei Sofas und zwei Armsessel um einen runden Tisch gruppiert waren.

»Nenn es wie du willst. Komm mit, wir quetschen uns einfach hier dazwischen.« Celia steuerte zielstrebig eine schmale freie Stelle auf einem Sofa an, stieg über ein paar Beine, setzte sich und klopfte auf die zehn Zentimeter Platz neben sich. »Los, beweg deinen Hintern hierher.«

Neve folgte ihr tollpatschig, wobei sie sich wortreich bei den Leuten entschuldigte, über deren Füße sie stolperte. Noch wortreicher entschuldigte sie sich bei ihrer Sitznachbarin, die sich mit finsterer Miene erhob, um nicht zwischen Neve und der Sofalehne eingequetscht zu werden.

Während Celia ihr Handy zückte, um nachzusehen, ob sie irgendwelche Nachrichten erhalten hatte, zupfte Neve verstohlen an ihrer Strumpfhose und dem Slip, die bereits wieder auf Halbmast gerutscht waren.

»Und ihr seid sicher, dass keine von euch beiden ein Model ist?«

Das war Max, der unweit von ihnen seinem zweifelhaften Ruf alle Ehre machte. Neve und Celia grinsten sich an und verdrehten in schönster Eintracht die Augen. Vergessen waren Celias Nörgelei und Neves Gejammer.

Neve hatte sich Casanovas eigentlich viel schleimiger vorgestellt. Dieser Max sah gar nicht übel aus mit seinen markanten Wangenknochen, der vollen, weichen Unterlippe und den großen, dunklen, von unglaublich langen Wimpern umrahmten Augen. Nur seine Nase – leicht schief mit einer Tendenz zur Hakennase – bewahrte ihn davor, allzu hübsch zu wirken. Vermutlich hatte ein eifersüchtiger Mann sie ihm einmal gebrochen. Sein Haar, das er sich ständig aus dem Gesicht strich, sah aus, als müsste es dringend gewaschen werden. Er trug ein zerknittertes schwarzes Hemd, eine an den Säumen ausgefranste Tweedhose mit Fischgrätmuster und ramponierte Converse-Turnschuhe.

Neve brauchte keine fünf Sekunden, um Max von Kopf bis Fuß zu betrachten und zu dem Schluss zu kommen, dass er nicht ihr Typ war. Sie war ganz sicher auch nicht sein Typ, jedenfalls nach den beiden Blondinen zu urteilen, mit denen er sich vorhin unterhalten hatte und die jetzt gackernd auf seinem Schoß saßen, während er den nächsten Anmach-Spruch an ihnen ausprobierte. »Also, seid ihr denn wenigstens Zwillinge? Ich hatte schon mal was mit Drillingen, aber noch nie mit Zwillingen.«

Celia schnaubte belustigt. »Zum Piepen, der Typ, nicht wahr?«

Neve fielen da ein paar ganz andere Ausdrücke dazu ein. Sie war gerade bei »Lackaffe« angekommen, als sie von einem kalten, harten, nassen Etwas am Hals getroffen wurde, und sie quiekte entsetzt auf, als der Eiswürfel in ihr Dekolleté rutschte. »Also hör mal, was …?«

»Hey, du Idiot, hast du meiner Schwester etwa gerade etwas in den Ausschnitt geworfen?«, blaffte Celia Max an. Neve versuchte derweil, den Eiswürfel aus dem engen Oberteil ihres Kleides zu fischen, aber er schmolz sofort zwischen ihren warmen Fingern, sodass ein Mini-Eisbach an ihrem Körper hinunterrann, der erst vom unüberwindbaren Bund ihrer figurformenden Strumpfhose gestoppt wurde. »Sag mal, spinnst du?«

Max musterte Neve flüchtig, dann wandte er den Blick ab, als wäre sie es nicht wert, auch nur eine Sekunde lang beachtet zu werden.

»Äh, ja, tut mir leid«, entschuldigte er sich unbekümmert und schenkte Celia ein breites Grinsen, so strahlend wie die Scheinwerferanlage eines Fußballstadions. »Der war eigentlich für dich bestimmt, Frechdachs. Du kannst nicht zufällig Russisch oder Polnisch oder so? Ich glaub nicht, dass die zwei Schnecken hier unsere Sprache sprechen.«

»Nein, tu ich nicht.« Celia tupfte umständlich auf Neves Dekolleté herum, obwohl diese sie daran zu hindern versuchte. Der Vorfall war ihr auch so schon peinlich genug, da konnte sie getrost darauf verzichten, dass sie von Celia wie ein Baby behandelt wurde, das gerade einen kleinen Unfall mit einer Ketchup-Flasche gehabt hatte. »Wie kannst du es wagen, Neve mit Eiswürfeln zu bombardieren?«

»Halt den Mund«, zischte Neve ihr aus dem Mundwinkel zu. »Du machst alles nur noch schlimmer.« Sie wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken, selbst wenn dieser Max gar keine Notiz von ihr zu nehmen schien. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Celia, was ihn jedoch nicht davon abhielt, die Nase in die Halsbeuge der kichernden, des Englischen offenbar nicht mächtigen Tussi zu vergraben, die auf seinem linken Knie saß.

»Ich sagte doch, es tut mir leid. Hör mal, gibt es vielleicht eine App, die mir verrät, welche Sprache sie sprechen, wenn ich eine von ihnen in mein iPhone hineinkichern lasse?« Max meinte die Frage offenbar todernst. »Und dann brauche ich noch eine App, die übersetzt, was ich sage; ich vergeude hier nämlich meine besten Sprüche.«

Celia kicherte. Was für ein absolut grauenhafter Typ, dachte Neve. Ein widerlicher, oberflächlicher Chauvinist, der Frauen, die seine klischeehaften Vorstellungen von weiblicher Schönheit nicht erfüllten, einfach übersah.

»Ich gehe jetzt, Celia«, erklärte Neve mit eisiger Stimme. Aber Celia hatte sich auf die Seite des Feindes geschlagen. »Ich wünschte, es gäbe eine App, die mir bei jedem Kleidungsstück, das ich kaufen will, sagt, ob eine meiner Freundinnen es bereits hat«, faselte sie.

»Celia!«

»O.K., O.K., nun komm mal wieder runter«, brummte Celia und erhob sich. »In einer halben Stunde werden wir ohnehin rausgeworfen; da können wir genauso gut bis zum Schluss bleiben. Bis nachher, Max.«

Max machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten. Er hatte das Gesicht schon wieder in der Tussenhalsbeuge versenkt und winkte nur träge in ihre Richtung.

»Was für ein absolut grauenhafter Kerl«, schnaubte Neve, nachdem sie sich mit einiger Mühe vom Sofa hochgekämpft hatte. »Es war genau wie früher in Oxford, als mich diese fiesen, arroganten Knaben mit Brötchen beworfen haben.«

»Falls es dich tröstet: Max ist viel netter, wenn keine leicht bekleideten Blondinen in der Nähe sind.«

»Nein, das tröstet mich nicht.« Neve seufzte. Dann schob sie die Unterlippe nach vorn. »Ich mach die Fliege. Ich will die letzte U-Bahn nicht verpassen.«

»O.K., aber sei so gut und halt noch einmal kurz meine Tasche – ich gehe schnell ein letztes Mal tanzen«, sagte Celia und drückte Neve, ohne ihre Antwort abzuwarten, ihre Clutch in die Hand.