Freitod-Vordenken

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Perisuizidale Präflexionen

von

Ernst-Peter Ruewald

Inhalt

Einleitung

Übersicht

Suizidprophylaxe und Corona-Politik

Suizidale Syllogismen

0. Mehrschichtige Erfassung eines vielfältigen Phänomens

Statistische Daten zum Suizid

Haller/Lingg: Verzweifeln am Leben?

T. Bronisch: Ursachen-Warnsignale-Prävention

J. Baechler: Wissenschaftliche Untersuchung zum Suizid

Th. Macho: Suizid in der Moderne

Sonderfall: Doppelsuizide

I.  Literatur – Essays

Hermann Burger: Tractatus logico-suicidalis

E. Cioran: Lehre vom Zerfall

Verfehlte Schöpfung

Vom Nachteil geboren zu sein

Syllogismen der Bitterkeit

Jean Améry: Hand an sich legen

U. Horstmann: Das Untier. Philosophie der Menschenflucht

Michel Foucault: Zitat

Jack London / Swinburne: Martin Eden / Gedicht

II.  Philosophie

Montaigne, Montesquieu, Hume, d'Holbach, Schopenhauer

F. Decher: Die Signatur der Freiheit

V. Lenzen: Selbsttötung.Philosophisch-theologischer Diskurs

Th. Macho: Todesmetaphern. Logik der Grenzerfahrung

W. Kamlah: Meditatio mortis

–     Philosophische Anthropologie - Der Freitod

H. Wittwer: Selbsttötung als philosophisches Problem

–     Philosophie des Todes

M. Quante: Personales Leben und menschlicher Tod

D. Birnbacher: Tod

L. Lütkehaus: Nichts. Abschied vom Sein

III.  Kontroversen zu Suizid und Sterbehilfe

Gita Neumann: Suizidhilfe als Herausforderung

G.D. Borasio: Über das Sterben

M. Verzele: Der sanfte Tod

Peter Singer: Praktische Ethik. Freiwillige Euthanasie

R. Spaemann: Angriff auf das Leben

K. Rost: Utilitaristische Funktionalisierung des Lebens

K. A. Schachtschneider: Zum Unrecht der Sterbehilfe

W. Jens, H. Küng: Menschenwürdig sterben

Michael de Ridder: Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur…

U.-C. Arnold: Letzte Hilfe. Plädoyer für selbstbestimmtes Sterben

G. D. Borasio: Faktencheck Sterbehilfe

Das Sterbehilfe-Strafgesetz § 217 StGB von 2015

Jahre der Unsicherheit und des Kampfes

Sonderfall eines legalen assistierten Suizids

Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2020

Einsprüche und Anhörung 2019

Zum Urteil und erste praktische Auswirkungen

Offene Felder – der Kampf geht weiter

IV.  Methoden - Wie ?

Vorbemerkungen

Freitod selbstbestimmt und selbstverantwortlich

Warnung

Literatur zu Suizidmethoden

Methoden bekannter Suizide

Bewertung von Suizidmethoden

Medikamente: was zu beachten wichtig ist

Schlußwort

Zitate: von Epikur bis Cioran , u.a.

Literaturverzeichnis

Index

über den Autor

Einleitung

Übersicht

Der Untertitel "Perisuizidale Präflexionen" spielt auf das vorlaufende Denken im Umkreis des selbstbestimmten Zugriffs auf das Ende unseres Lebens an. Um von Freitod sprechen zu können, sind innere und äußere Freiheit und die Verfügbarkeit geeigneter Mittel Voraussetzung. Der Titel "Freitod-Vordenken" soll auch Vordenker in Erinnerung rufen, Schriftsteller und Philosophen, die die Möglichkeit des Freitods vor-gedacht und zum Teil auch in die Tat umgesetzt haben; letztere sollen im folgenden als authentisch bezeichnet werden.

Mit der Überschrift Suizidale Syllogismen ist eine Sammlung von Gedanken vorangestellt: sie sind apologetisch, versuchen zu zeigen, daß es Bedingungen gibt, unter denen Selbsttötungsabsichten sowohl rational als auch moralisch begründbar sind.

In mehreren Kapiteln wird das Thema Suizid aus wissenschaftlicher, essayistisch-literarischer und philosophischer Perspektive behandelt, ergänzt durch die Sterbehilfe-Diskussion und praktische Methoden.

Im Mittelpunkt steht die Situation des einzelnen Menschen.

Jedes Kapitel kann für sich unabhängig von den anderen gelesen werden.

Im Kapitel 0 wird die Vielfalt suizidalen Verhaltens wissenschaftlich mittels statistischer Daten und aus der Sicht über ihr Fachgebiet hinausblickender Soziologen und Mediziner und eines Kulturhistorikers dargestellt. Der unorthodoxe Soziologe Jean Baechler sieht die Selbsttötung als ein Privileg des Menschen und als eine von Möglichkeiten, die Menschen zur Lösung eines existenziellen Problems in die Tat umsetzen.

Das Ende des Kapitels ist dem Sonderfall des Doppelsuizids gewidmet.

Die weiteren ausgewählten Schriften werden unterteilt in aphoristische und essayistische, in philosophische und schließlich solche, die das kontroverse Thema Sterbehilfe zur Sprache bringen. – Nach den Haltungen lassen sich apologetische, authentische, neutral kritische und ablehnende unterscheiden.

Authentische Autoren sind diejenigen, die sich tatsächlich selbst ihr Leben genommen und vorher Schriften hinterlassen haben, die ihre Tat motivieren und begründen; darunter sind die Schriftsteller und Essayisten Jean Améry und Hermann Burger und der Philosoph Wilhelm Kamlah hervorzuheben. –

Demgegenüber kann man den Suizid-Apologeten und Meister luzider Aphorismen Emile Cioran einen "lange überlebenden Suizidär" nennen. –

U. Horstmann geht mit seinem "anthropofugalen" Denken über den individuellen Suizid hinaus zur Wünschbarkeit des Verschwindens allen Lebens.

Das zweite Kapitel ist dem Thema Suizid aus der Perspektive der Philosophie gewidmet. Für die systematischste und tiefgründigste Studie halte ich die von H. Wittwer: "Selbsttötung als philosophisches Problem. Über die Rationalität und Moralität des Suizids", wo die wichtigsten Argumentationsstränge, wie sie Philosophen von der Antike bis in die heutige Zeit vorgebracht haben, mit analytischer Schärfe unter die Lupe genommen werden. – Der Philosoph M. Quante begründet das Recht auf einen selbstbestimmten Tod mit dem Prinzip des Respekts vor personaler Autonomie. – Der Ethikphilosoph D. Birnbacher diskutiert Kriterien für "gutes Leben" und "guten Tod" und unterscheidet mehrere Eskalationsstufen des Wunsches zu sterben. – L. Lütkehaus' Werk "Nichts" richtet sich gegen die abendländische "Nichts-Vergessenheit" und die Voreingenommenheit, daß dem Sein unbedingt der Vorzug vor dem Nichtsein zukomme.

Das dritte Kapitel berührt das kontroverse Thema Suizidhilfe. Der Palliativmediziner Borasio beklagt den "Streit der Ahnungslosen" in Politik und Ärzteschaft. – Der Chemieprofessor M. Verzele ist Apologet des Suizids ohne fremde Hilfe. – Der Moralphilosoph Peter Singer, der freiwillige Euthanasie verteidigt, ist heftiger Kritik ausgesetzt, u.a. seitens des katholischen Philosophen Spaemann. – Auch der Jurist Schachtschneider hält Suizidhilfe für "Unrecht". – Demgegenüber verteidigen Walter Jens und der Theologe Hans Küng mit ihrem Buch "Menschenwürdig sterben" das Recht auf Sterbehilfe. – Ausführlich der erfahrene Notfall- und Intensivstationsarzt M. de Ridder und der Arzt U.-C. Arnold, der sich offen zu Suizidbeihilfe bekannte.

Anschließend wird das im Jahr 2015 verabschiedete "Sterbehilfeverhinderungsgesetz" § 217 des Strafgesetzbuchs diskutiert, das endlich im Jahr 2020 durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig und ungültig erklärt wurde. Erste praktische Auswirkungen, aber auch noch offene Probleme werden benannt.

Im vierten Kapitel werden Methoden skizziert, die für die Verwirklichung eines Suizids in Frage kommen könnten.

Den Schluß bilden eine Auswahl von Zitaten, ein Namensregister und ein Literaturverzeichnis.

Die Auswahl von Zitaten aus der Antike bis zur Gegenwart zeigt, daß

über die Zeiten hinweg die Verknüpfung der Fragen nach dem "guten Leben" und dem "guten Sterben" nichts an Brisanz und Aktualität verloren hat und sicher auch nicht verlieren wird.

Suizidprävention und Corona-Politik

Der Eindruck einer Freitod-Apologie, den die obige Übersicht vermittelt, gründet auf dem gewiß idealisierenden Motiv einer "philosophischen", rational begründeten und bilanzierenden Selbsttötungsabsicht beim Vorliegen nicht mehr revidierbarer schwerwiegender Lebensumstände. Im Kapitel 0 werden aber auch verschiedenste andere Ursachen und Gründe für Suizidversuche und Suizide aufgeführt. Darunter gibt es welche, die dem Bemühen einer Suizidprävention zugänglich sind. Beispiele sind z. B. auch wirtschaftliche Umstände, wie plötzliche Verarmung, Berufsverlust, Insolvenz, Firmenpleite, usw., die als Widerfahrnisse oft ohne eigene Verursachung erlitten werden.

Die Corona-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 liefert das Beispiel für eine Paradoxie der Corona-Politik, deren PandemieBekämpfungsmaßnahmen mit drastischen "Lockdowns" des gesamtem Wirtschafts- und Gesellschaftslebens angeblich Leben retten sollte. Aber offensichtlich retten Politiker mit ihren Einschränkungen nicht nur Leben, sie vernichten auch Leben, indem sie dazu beitragen, daß sich Menschen das Leben nehmen, deren Lebensgrundlagen durch die Maßnahmen zerstört werden. Die Verfassungmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit wurden von einer Reihe von Juristen in Zweifel gezogen.

Suizidverhütung ist nicht Selbstzweck, sondern auf Dauer gesehen nur dann hilfreich, wenn man den unglücksgeplagten Suizidenten Alternativen für ein sinnvolleres und für ihre Persönlichkeit akzeptables Leben anbieten kann.

Andererseits ist die Politik anzumahnen, auf keinen Fall "suizidäre" Entscheidungen zu treffen, die zu Bedingungen führen, die Menschen in den Ruin und in der Folge in den Suizid treiben können.

Suizidale Syllogismen

Suizid als Privileg des Menschen

Das Geborenwerden widerfährt uns ohne unseren ausdrücklichen Willen. Jedoch ist es eine der großen Entdeckungen des Menschen, seinem Leben ein Ende machen zu können, wenn es ihm über-schwer geworden ist.

Die Möglichkeit der Selbsttötung ist ein Privileg des Menschen.

Unverhandelbare Grundsätze

1. Selbstbestimmungsrecht: Das Grundrecht der Menschenwürde i und Selbstbestimmung beinhaltet, daß ich als Individuum nach meinem Selbstverständnis und den mir eigenen Wertmaßstäben die Grenzen meiner Würde ii und die Grenzen dessen, was für mich ein noch lebenswertes Leben ausmacht, unverhandelbar selbst zu bestimmen habe. Kein Staat, keine Kirche und auch kein Arzt hat das Recht, mir vorzuschreiben und mich zu zwingen, mich in einem nach meinen Maßstäben menschenunwürdigen Leben weiter zu quälen.

2. Gewissensfreiheit: der einzelne Arzt darf nicht zu Suizidhilfe gezwungen werden, wenn er dies aus religiösen oder anderen persönlichen Gewissensgründen ablehnt.

3. Straffreiheit: umgekehrt darf ein Arzt (oder anderer Helfer) nicht strafrechtlich belangt werden, wenn er seinem Gewissen und seiner Empathie folgend einem voll zurechnungsfähigen Sterbewilligen Beistand leistet. iii

Freitod

Ein Suizid kann nur unter folgenden Bedingungen "frei" genannt werden:

- äußere Freiheit (frei von äußerem Zwang);

- innere Freiheit (ohne psychisch-krankheitsbedingte Zwänge);

- freie Wahlmöglichkeit und Verfügbarkeit von Mitteln;

- die körperliche Verfassung und die Lebensumstände erlauben den ungehinderten Vollzug der Selbsttötungshandlung.

Vernünftigkeit und Moralität

Vernunft und Moral decken einander nicht völlig. Es gibt vernünftige Handlungen, die nicht notwendig moralisch sind, und es gibt moralische Handlungen, die unvernünftig sind. Zudem kommt nicht unter allen Umständen moralischem Handeln der Vorrang gegenüber "nur" vernünftigem zu. iv

Was den Suizid betrifft, so ist die Frage offen, ob er in jedem Fall der Vernunft widerspricht bzw. ob er auch moralisch zu rechtfertigen ist.

Satz 1: Vernünftigkeit des Suizids

(Prämisse 1) Es gibt Lebensbedingungen, unter denen es vernünftig sein kann, das Leben beenden zu wollen.

(Prämisse 2) Man soll nicht unvernünftig handeln.

(Konklusion) Es gibt Lebensbedingungen, unter denen es aus vernünftigen Gründen erlaubt sein kann, das Leben zu beenden.

Diskussion:

Die Gültigkeit des Satzes hängt an den Begriffen "vernünftig" und der Spezifikation der rechtfertigenden "Lebensbedingungen". Letztere sind z. B.: progressive Krebserkrankung mit Metastasen in mehreren Organen und unerträgliche Schmerzen; oder: Lähmungen und Inkontinenz und völlige Abhängigkeit; aber auch schon: die Diagnose einer fortschreitenden Demenzerkrankung, die den Verlust von Selbstbewußtsein und Entscheidungsfähigkeit nach sich zieht und die man mit seinem Selbstverständnis nicht vereinbaren möchte. Oder auch Lebenssattheit (siehe S. 162)

"Vernunft" im Sinne von konsistenten Wertmaßstäben, von ziel- und zweckgerichtetem Handeln unter den Bedingungen seiner Möglichkeit, im Sinne planender Verwirklichung von Zukunftsorientierung, etc.

Satz 2: Moralität des Suizids

Es gibt Lebensbedingungen, unter denen es auch moralisch zu rechtfertigen ist, sein Leben eigenmächtig zu beenden.

Diskussion:

Selbst wenn es nicht vernunftwidrig ist, das Leben beenden zu wollen, so kann es doch moralische Verpflichtungen geben, die zumindest einem sofortigen Vollzug entgegenstehen, z.B. eine Mutter mit kleinen Kindern; ein Familienvater und -alleinernährer; oder ein Mann, dessen Ehefrau ganz auf seine Hilfe angewiesen ist. In solchen Fällen sollte der Suizident, gemeinsam mit den Betroffenen, eine Lösung finden, die deren Versorgung auch nach seinem Ableben sicherstellt.

Ist der Suizident seinen Verpflichtungen durch entsprechende Vorsorge nachgekommen, dann sprechen keine moralischen Gründe mehr gegen seine Selbsttötungsabsicht.

Logische Fehlschlüsse

Auf die religiösen Gründe gegen den Suizid braucht nicht eingegangen zu werden, da sie, wenn man die zugrunde liegenden religiösen Glaubensvorstellungen nicht teilt, irrelevant sind. Dazu zählt insbesondere der Glaube an eine Existenz nach dem Tode, sei es in einer jenseitigen Welt, in einer andersartigen Seinsweise oder in Form einer Kette von Wiedergeburten.

Im folgenden wird das

Axiom von Epikur: Totsein ist das definitive Ende der Existenz als gültig vorausgesetzt.

Aber auch unter dieser Voraussetzung gibt es noch eine Reihe philosophischer Argumente gegen den Suizid, deren genauere Analyse jedoch zeigt, daß sie auf logischen Fehlschlüssen beruhen. v

Das Verbrechens-Argument: Selbstmord als Verbrechen ?

These: Selbstmord ist Mord, Mord ist ein Verbrechen; folglich: Selbstmord ist ein Verbrechen.

Widerlegung:

Wenn Mord bereits in die Definition, nämlich als «Selbstmord», hineingenommen wird, dann handelt es sich um einen Fehlschluß des Typs petitio principii: was zu beweisen wäre, wird bereits vorausgesetzt, hier definitorisch.

Anderes Gegenargument: Mord ist gekennzeichnet als eine Gewalttat, die mit bösen Motiven (z.B. Habgier, Rache) heimtückisch gegen den Willen des Opfers durchgeführt wird. Diese Kennzeichnungen treffen auf den Suizid, bei dem Täter und Opfer identisch und einverständlich sind, keineswegs zu.

Das Krankheits-Argument: Suizidalität als Krankheit?

These: Suizidabsichten sind stets pathologisch und erfordern psychiatrische Intervention und Behandlung.

Gegenargumente:

Daß es depressive Erkrankungen gibt, die medikamentös und psychotherapeutisch mit Erfolg behandelt werden können, ist unbestritten. Auch ist im Zweifelsfall, zumindest zunächst, eine suizidpräventive Intervention gerechtfertigt. – Jedoch ist die ausnahmslose Verallgemeinerung der Krankheitsthese nicht zulässig. Wenn Suizidalität per definitionem als pathologisch gekennzeichnet wird, dann ist die These wieder ein logischer Fehlschluß vom Typ petitio principii.

Rational begründete und moralisch gerechtfertigte Suizidabsichten, zu denen sich der Betreffende nach reiflicher Überlegung in voller Geistesklarheit und Bewußtheit des Gemütszustands durchgerungen hat, sind keineswegs als pathologisch einzustufen.

Das Freiheits-Argument: Freitod als Freiheitsparadox?

These: der Suizid ist als Ausdruck der Freiheit, deren Konsequenz die Vernichtung jeglicher Freiheit ist, ein Widerspruch in sich.

Gegenargument:

Man muß die verschiedenen Zeitabschnitte streng unterscheiden: im Augenblick der Tat ist der Suizidant noch am Leben und kann als Lebender in Freiheit entscheiden und handeln; nach dem Tod existiert er nicht mehr. Freiheit kann nur Lebenden zukommen, nicht einer Leiche.

Das Deprivations-Argument: der Tod als Übel?

These: die Freiheit und Möglichkeit, weitere Erfahrungen zu sammeln, sind Güter, die durch den Tod vereitelt werden. – Wegen dieser Deprivation ist der Tod, auch der selbst herbeigeführte, ein Übel.

Gegenargumente:

Es gibt Lebenssituationen, in denen die zu erwartenden Erfahrungen fast ausschließlich nur noch Leidenserfahrungen sind, also Übel. Und unsere Freiheit hat den inhärenten Doppelaspekt, daß unsere Entscheidungen und Handlungen nicht nur gelingen, sondern auch mißlingen können; die Freiheit kann zur Last werden. – Schließlich: im Alter oder bei schwerer Krankheit wird der Handlungsspielraum und somit die Freiheit zunehmend eingeschränkt.

Was uns aber noch bleibt, ist die Freiheit, ein unerträgliches Leben selbst zu beenden; und dies im voraus zu wissen, ist eines der wichtigsten der uns verfügbaren Güter, die das Leben noch erträglich machen können.

Persönliche Perspektive

Subjektive Situation

Nicht nur erst ab dem Alter der statistischen Lebenserwartung, sondern auch schon früher, ist mit verschiedenen erheblichen gesundheitlichen Schäden zu rechnen, die plötzlich oder über kurz oder lang zu schweren Leiden und für die Betroffenen nicht mehr lebenswerten Beeinträchtigungen führen können.

Außersubjektive Situation

Zu der subjektiven Lage, dem körperlichen Siechtum und Verfall, käme gegenwärtig noch die Wahrnehmung der Verfallserscheinungen unserer gesamten Welt: die durch die Menschheit wie ein Krebsgeschwür fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensräume, der Naturlandschaften, die Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten in nie gekanntem Ausmaß, trotz aller Schutzbemühungen mit ihren nur marginalen Erfolgen. o

« … die Natur ist verpestet; in jedem noch so verborgenen Winkel ist schon der Mensch mit verfluchten und schlimmen Werken zugange. » (Thomas Lovell Beddoes) +

«Es wird ein trauriger Morgen sein, wenn du und ich aufwachen und es keine Leoparden mehr gibt; wenn in den Bäumen keine Stare mehr zwitschern; wenn die Rotkehlchen nicht mehr ihren herausfordernden Gesang anstimmen; wenn am Himmel keine Lerchen mehr schweben … ; wenn die Geier nicht mehr ihre ewigen Kreise ziehen und es in den Mövenkolonien still wird. Wenn die Vielgestaltigkeit der Arten und die Vielgestaltigkeit der Menschen verschwunden sind wie der letzte Stern am Morgen. Wenn ein solcher Morgen kommt, dann gebe Gott, daß ich im Schlaf sterbe.» (Robert Ardrey) #

«Überall, wo der Homo sapiens aufgetaucht ist, hat er Zerstörung hinterlassen. Wir haben große Teile unseres Planeten verwüstet… » (Sebastião Salgado)

Zukunftsentwicklungen, die vorgedacht und vorgeplant sich hinter euphemistischen Begriffen wie "Große Transformation" und "Great Reset" verbergen und auf ein dystopisches globales technokratisches Überwachungsregime zielen; eine als "Transhumanismus" gepriesene Synthese aus Mensch und Technik, welche ein «Verschwinden des Menschen» (Foucault), als Menschsein des Menschen, markiert. Und schließlich die politische, kulturelle, gesellschaftliche und demographische Auflösung in Deutschland, Europa und dem Abendland – alles Bedingungen, unter denen zu leben so wenig attraktiv erscheint. daß man "froh" sein kann, wenn man bereits so alt ist, daß man dies wahrscheinlich nicht mehr erleben wird. vi,vii

Die geschilderten subjektiven wie objektiven Bedingungen sind freilich keine logischen Gründe dafür, sich das Leben zu nehmen. Es kann aber beruhigend sein, diese letzte Option als ultima ratio im Auge zu behalten, wenn die Umstände so unerträglich werden, daß sie sich zu Handlungsgründen verdichten.

Bis dahin kann es auch in der heutigen Zeit noch gelingen, ein "sinnvolles" Leben im Sinne einer Lebensphilosophie ohne Illusionen – diesseits wie jenseits – zu führen. Hierzu sei auf Schrifttum im Anhang verwiesen (S. 261).

i gemäß Artikel 1 des Grundgesetzes, in dem jedoch die Definition, was Menschenwürde eigentlich sei, offengelassen ist;

ii hier wird Würde nicht als eine von Natur aus dem Menschen von vornherein zukommende Eigenschaft verstanden, sondern - anknüpfend an die Antike - als eine Leistung der Charakterbildung, die sich zu bewähren hat und die man auch verlieren kann.

iii Bedingungen wie Abklärung, Patienten- bzw. Freitodverfügung, Tatherrschaft, etc. sind noch genauer zu spezifizieren.

iv M Hoffmann, R Schmücker, H Wittwer: "Vorrang der Moral?

Eine metaethische Kontroverse", 2017

v die Argumentation orientiert sich weitgehend an:

Héctor Wittwer: "Selbsttötung als philosophisches Problem".

o ob es eine "Klimakatastrophe" gibt, ist aber kontrovers zu diskutieren:

Ernst-Peter Ruewald: Das Klima-Paradigma. Kritik und Hintergründe.

+ in: Edward Abbey: Die Einsamkeit der Wüste, Berlin, 2016, (S.210). Beddoes (1803-1849), engl. Dichter u. Dramatiker, Sohn eines Naturforschers, nahm sich nach einer Beinamputation in Folge eines Reitunfalls das Leben (Abbey, S.339)

# Robert Ardrey, Der Gesellschaftsvertrag, 1970, S. 407

vi «Dieses Land ist unrettbar verloren»: letzte Worte von Susanne Kablitz, freiheitlich-konservative Autorin, zeitweilig Vorsitzende einer Partei der Vernunft PdV; sie nahm sich, krebskrank, 47-jährig im Februar 2017 das Leben.

vii Prof. Rolf Peter Sieferle, Historiker und Soziologe, Autor der posthum herausgegebenen Essaysammlung "Finis Germania", nahm sich im September 2016 im Alter von 67 Jahren das Leben. - Die folgenden Sätze schrieb er drei Tage vor seinem Freitod. Im Nachhinein ist zu erkennen, daß es Abschiedsworte waren: "Interessant ist jedenfalls die Gleichzeitigkeit und Breite, mit der sich dieses Wahnsystem der Selbstzerstörung ausbreitet. Es ist wie eine Epidemie, die nicht zuletzt das Immunsystem angreift. Ich spüre dahinter ein solches Momentum, daß ich es für fast ausgeschlossen halte, daß dieser Prozeß aufgehalten oder gar umgekehrt werden kann. Man muß ihm einfach nur gelassen in die Augen blicken und wissen, wann es an der Zeit ist, die Bühne zu verlassen."