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Alle Rechte vorbehalten

© 1998 Jutta Ditfurth

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: März 2021

ISBN 978-3-95988-180-7

Über das Buch

Gertrud Elisabeth Freiin von Beust wächst wohlbehütet im Schloss ihrer Eltern bei Weimar auf. Nichts stört ihre romantische Sicht auf die Welt. Nach ihrer Adoption durch den Herzog von Schleswig-Holstein scheinen schließlich alle Wege für ihren Aufstieg in den europäischen Hochadel und eine sorglose Zukunft geebnet. Doch der Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges erschüttert die Idylle, und Gertrud gelangt nach Paris, wo sie dem deutschen Deserteur Albert Lauterjung, Messerschleifer und Sozialdemokrat, begegnet. Er bringt ihre Weltanschauung ins Wanken - und erobert ihr Herz. Als die Pariser Commune die alte Ordnung hinwegfegt, muss sie sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht ...

 

»Ein richtig schöner Roman« (Die Welt)

 

Jutta Ditfurth

 

Die Himmelsstürmerin

 

Roman

 

CulturBooks Verlag

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Danksagung

Die Ereignisse in diesem Buch entsprechen den historischen Gegebenheiten. Ein historischer Roman ist aber gleichermaßen der Geschichte wie der Imagination verpflichtet. Das macht es aus dramaturgischen Gründen manchmal notwendig, von den historischen Tatsachen abzuweichen, etwa wenn Personen erfunden oder Ereignisse zeitlich verlegt werden.

 

Die Hauptfigur, Freiin Gertrud Elisabeth von Beust, ist meine Urgroßmutter, die am 7. Dezember 1850 in Langenorla (heute Thüringen, damals Sachsen-Altenburg) geboren wurde und am 5. März 1936 in Groß Luckow, Uckermark (heute Mecklenburg-Vorpommern, damals Brandenburg) starb. Sie ist, was Teile ihres Lebens angeht, ein Opfer meiner Fantasie.

 

Ein Roman wie dieser kann nie ohne die Hilfe anderer Menschen geschrieben werden. Ich möchte mich bei ihnen allen sehr herzlich bedanken:

– In der Bibliotheque Historique de Ville de Paris hat mir vor allem Alfred Fierro geholfen, der die Quellen der Geschichte von Paris vorzüglich kennt, mir den Zugang zu Büchern und Stadtplänen verschafft und mir erlaubt hat, historische Fotografien abzulichten;

– im Musée Carnavalet Histoire de Paris öffnete mir Monsieur Certran verschlossene Türen zu historischen Schätzen;

– die Mitarbeiter:innen des Musée de l’Armée, Paris, zeigten mir Uniformen, Waffen und Dokumente über die Folgen des Krieges;

– im Musée de l’Assistence Publique Paris erfuhr ich die Geschichte der Gesundheitsversorgung und der Krankenhäuser von Paris;

– im Cabinet des Arts Graphique im Musée Carnavalet Histoire de Paris hätte ich gern Wurzeln geschlagen: Die Mitarbeiter zeigten mir Originalfotografien, Gemälde und Karikaturen von 1870/71;

– und der Phototheque des Musées de la Ville de Paris danke ich für die rasche und gute Herstellung von Reproduktionen;

– bei Claude van Ryssel vom Heimatmuseum Blankenberge, Belgien, möchte ich mich bedanken, weil er mir das kleine Kurstädtchen Blankenberge des 19. Jahrhunderts mit Büchern und Fotografien näherbrachte;

– im Hauptstaatsarchiv Thüringen, Weimar, half mir Dieter Marek durch das Labyrinth des Archivs; Frank Boblenz von der Älteren Abteilung des Hauptstaatsarchivs informierte mich über die soziale Lage von Auswanderern;

– Thüringisches Staatsarchiv Altenburg: Karin Lorenz, Doris Schilling, Undine Walther und Joachim Emig versorgten mich mit hochinteressanten Dokumenten über die thüringischen Kleinstaaten, über den Landtag in Altenburg, über Langenorla und über Gertrud von Beust und ihre Familie;

– Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt: Andrea Esche, Heike Eberhard und Horst Fleischer unterstützten mich mit Materialien, die mir den Alltag von Adel, Bauern, Handwerkern und Tagelöhnern näherbrachten;

– Horst Weigelt und Walter Sitzmann vom Verkehrsmuseum, Eisenbahnabteilung, Nürnberg, gaben Aufschluss über technische und historische Details der Eisenbahn und über alles, was mit Eisenbahntechnik, Routen und Reisen zu tun hat;

– Museum für Post und Kommunikation, Frankfurt/Main: Von Gisela Krüger erhielt ich Abfahrtszeiten und Fahrkartenpreise der damaligen Eisenbahn;

– in der Germania Judaica, der Bibliothek zur Geschichte des Deutschen Judentums e. V., Köln, erfuhr ich einiges über die weitgehend unbekannte Geschichte der Juden in den thüringischen Kleinstaaten des 19. Jahrhunderts; ich bedanke mich herzlich bei Annette Haller;

– Simone Schmieder und Sabine Prinz vom Museum im Schloss Grosskochberg halfen mir, die Geschichte des Schlosses und meiner Vorfahren besser kennenzulernen;

– Bodo Paeske von der Stiftung Schloss Glücksburg unterstützte mich freundlich mit Informationen;

– den Schleifern von der Schleiferei Wipperkotten, Solingen: Horst Koch, Rainer Schneeloch und Dirk Hennekämper danke ich für die praktische Vorführung der Technik eines wasserkraftbetriebenen Kottens und ihres alten Handwerks, des Schleifens.

– Dem Krupp-Archiv in Essen danke ich nicht. Es wollte die Frage nach den Wirkungen Kruppscher Waffentechnik im Deutsch-Französischen Krieg nicht beantworten.

– Bei den Mitarbeiter:innen der Deutschen Bibliothek, Frankfurt/Main, der Universitätsbibliothek Frankfurt/Main, der Universitätsbibliothek Mainz und der Stadtbücherei Rüsselsheim, vor allem aber bei Lothar Engel von der Stadtbücherei Frankfurt/Main, bedanke ich mich für großzügige und autor:innenfreundliche Ausleihbedingungen.

– Für Tipps, Informationen und Unterstützung vielerlei Art bedanke ich mich (in alphabetischer Reihenfolge) bei: Janet Biehl (Burlington, Vermont, USA) für die Übersendung einer Studie zur Lage der US-amerikanischen Schleifer im 19. Jahrhundert; Hans-Christian Brüger (Pfarrer, Langenorla) für die leihweise Überlassung der Dorfchronik; Karl-Heinz Hansen (Barendorf) für Hinweise zu Wilhelm Stieber, der Paris leider vor Beginn der Commune verließ und deswegen die ihm in diesem Buch zugedachte Rolle nicht spielen konnte; Elisabeth Haun für die Museumsführung in Großkochberg und Erinnerungen an längst verstorbene Mitglieder der Familie von Stein; Horst Isert (Karlsruhe) für die freundliche dreiwöchige Überlassung seines Hauses in Italien, wo ich im Winter 1996, mit Blick auf das Meer, einen ersten Manuskriptentwurf so gründlich prüfen konnte, dass ich ihn verwarf; Max-Dieter Kierspe (Solingen) für seine Bücher und die Begleitung zur Schleiferei Wipperkotten. Bei Christoph Preuschoff (Rudersberg) bedanke ich mich für Erkenntnisse über Toiletten und Abwasseranlagen im 19. Jahrhundert; Friedrich Schlütter (Glücksburg) für Fotos und Texte zur Geschichte von Glücksburg. Wolfgang Schuler (München) durfte ich als wandelndes Lexikon befragen, und Hansjürgen Wenzel (Koblenz-Metternich) half, widersprüchliche historische Daten über die Eisenbahn abzuklären. Auch diesen beiden danke ich. Heike Mäde (Bad Karlshafen), Christa Geissler (München) und Jürgen Voigt (Hamburg) waren meine ersten Leser:innen. Ich danke ihnen für ihre Risikobereitschaft und Ermutigung.

– Bedanken möchte ich mich auch bei Rudolf Boch, Professor für neuere Geschichte an der Technischen Universität Chemnitz, von dem nicht nur ausgezeichnete Studien über die Solinger Schleifer stammen, sondern der auch die historischen Fakten geprüft hat. Alle eventuellen Fehler liegen bei mir. Abweichungen von den historischen Ereignissen unternahm ich absichtlich aus literarischen bzw. dramaturgischen Gründen.

– Lionel von dem Knesebeck (München), mein Literaturagent, hat mich in den Jahren, in denen ich an diesem Buch gearbeitet habe, immer freundschaftlich unterstützt. Dass ich mir eines Tages vorstellen konnte, für dieses – für mich bis dahin untypische – Manuskript auch einen Verlag zu finden, verdanke ich ihm.

– Heilwig von Ditfurth (Groß Luckow) hat Familienarchive durchforstet und unlesbare Handschriften entziffert. Dafür danke ich ihr.

 

Manfred Zieran (Frankfurt/Main) verdanke ich das, was eine Autorin, die sich auf Neuland wagt, am meisten braucht: qualifizierte, schnörkellose Kritik und Ermutigung.

 

Jutta Ditfurth

 

 

 

Informationen und Kritik:

 

Jutta Ditfurth

c/o ÖkoLinX im Römer

Bethmannstr. 3

60311 Frankfurt/Main

jutta.ditfurth@t-online.de

1

Glücksburg,

Anfang September 1870

Sie bog sich nach hinten. Seine Hand hielt ihren Rücken. Ihre Zehenspitzen schwebten über das Parkett. An der Decke des Roten Saals verloren kutschenradgroße Leuchter die Konturen, Tausende von Kristalltropfen funkelten, als flögen sie im Rhythmus der Musik frei durch den Saal. Gobelins und Gemälde lösten sich in Farbflecke auf, während sie an ihnen vorbeitanzte.

»Wie freundlich, dass du mich führen lässt.«

Sie lachte. »Warum sollte es nicht andersherum sein?«

»Du kommst auf sonderbare Ideen!«

»Ich fliege, du lässt mich schon nicht fallen.«

Er wirbelte sie in einer raschen Umdrehung über das Parkett.

Sie schloss die Augen. »Wir sind allein.«

»Wenn wir ein paar Hundert Gäste vergessen.«

»Ich sehe niemanden!«

Er drehte sie mit großen Schritten zu der einen Seite des Saals. Gäste wichen dem stürmischen Paar aus. »Hier sind sie!« Er wirbelte sie im schnellen Dreivierteltakt zur anderen Seite. »Und hier – und hier.«

»Wie hingebungsvoll« und »reizend« hörte er und »Was für ein Paar!«.

»Keiner wagt, uns in die Quere zu tanzen. Da glotzen sie und bewundern das Schönste, das ich je von einer Reise mitbringen konnte. Sieh dir ihre Gesichter an!«

Stattdessen neigte die junge Frau ihren Kopf noch weiter nach hinten, und ihr Blick verlor sich in den Lichtern an der Decke des Saals. Dann zwinkerte sie ihm zu, und beide lachten.

Herzog Karl von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg war soeben siebenundfünfzig Jahre alt geworden. Er achtete darauf, dass er keinen Bauch bekam und dass seine Oberschenkel durch Fechten und Reiten stramm blieben. Er pflegte seinen Schnurrbart und wusste nicht, dass seine Haut nach frisch geschlagenem Holz roch, was in Gertrud ein Gefühl der Anhänglichkeit auslöste, nicht so kindlich wie gegenüber ihrem Vater, aber auch nicht so bedrohlich aufregend, wie sie sich die Beziehung zu einem Liebhaber vorstellte. Sie erlag dem Irrtum, zwischen ihr und dem Adoptivvater würde es sich um eine auf Dauer unbeschränkt sorglose, ihre Sinne so sanft wie unverfänglich reizende Beziehung handeln.

Die Neunzehnjährige hieß Freiin Gertrud Elisabeth von Beust. Man feierte ihre Adoption durch den Herzog, dessen Geburtstag und den Wiedereinzug in Schloss Glücksburg, das im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 den preußisch-österreichischen Truppen als Hauptquartier gedient hatte und danach vollständig hatte renoviert werden müssen.

»Die Kleine blickt in eine glanzvolle Zukunft«, tuschelte die Grünholzer Familie des neuen Onkels Fritz.

»Sie bekommt allen Schmuck der Herzogin!«, giftete Tante Luise, Äbtissin in Itzehoe und eine Schwester des Herzogs.

Die Verwandten des Herzogs begafften an diesem Abend jeden Tanzschritt der sorglosen Konkurrentin um das Erbe des kinderlosen Karl, als wäre auch ihre winzigste Bewegung nur ein Schachzug auf dem Weg zur umkämpften Beute.

Die Gäste, jetzt zu Beginn des Balles noch steif am Rand der Tanzfläche, umrahmten den Tanz des Paares. Fräcke und pastellfarbene Abendkleider, tiefe Dekolletés, weiße Fliegen und Schärpen, kriegerische Gesichter und Diademe, Schnurrbärte und Ohrgehänge, knochige Glatzen und gepuderte Schultern, steife Manschetten und Rüschen, Lorgnons, Rosen, Siegelringe und Glacéhandschuhe. Uniformen und Orden, wohin man blickte, besonders solche aus dem Krieg von 1864 zwischen Preußen und Österreich auf der einen und Dänemark auf der anderen Seite, in dem Dänemark unterlegen gewesen war und ein Drittel seines Territoriums verloren hatte, darunter auch Glücksburg.

 

Vor wenigen Tagen, am 4. September 1870, hatten die vereinten deutschen Armeen bei Sedan die französische Armee geschlagen. Frankreichs Kaiser Napoleon III. hatte kapituliert. Dieser grandiose frühe Sieg, samt der Gefangennahme von Hunderttausenden französischer Kriegsgefangener, gab dem Fest in den Augen seiner Gastgeber einen weiteren wundervollen Anlass. Ein Teil des Personals war nur dazu abgestellt, in den Weinkeller hinunter- und wieder heraufzueilen, damit jeder Gast zu jeder Zeit mit echtem französischen Champagner, beschlagnahmt in Frankreich, einen Toast auf den baldigen endgültigen Sieg ausbringen konnte. »Nach Paris!«, prosteten sie triumphierend. »Nach Paris!«

Die an der neutralen Haltung ihres Königshauses orientierte dänische Minderheit am Glücksburger Hof hielt sich zurück. Den Jubel überließ man der preußischen Mehrheit um Herzog Karl.

Die beiden Menschen auf der Tanzfläche gaben sich ausgelassen ihrem Vergnügen hin. Herzogin Wilhelmine Marie von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg stand neben ihrer Hofdame Frau von Hedemann, der ihr Missmut tief in die Mundwinkel eingraviert war. Die Herzogin, zweiundsechzig Jahre alt und damit fünf Jahre älter als der Herzog, verfolgte jede Bewegung des tanzenden Paares. Frau von Hedemann sah, wie angestrengt sich die Herzogin bemühte, ihre Mimik zu disziplinieren. Sie witterte ihre Chance.

»Sie hätten das Recht auf den Eröffnungswalzer gehabt, Hoheit.« Die Hofdame traf einen Ton zwischen Flüstern und Zischen, der im näheren Umkreis der beiden Frauen Aufmerksamkeit erregte.

»Es ist sein Geburtstag«, antwortete die Herzogin steif.

 

Gertrud lag im Arm ihres Adoptivvaters. Sie war mittelgroß, schmal und tanzte in einer schulterfreien, nilgrünen, rosenübersäten Wolke aus Seide, Spitze und Tüll. Rotblonde Haare, von Martha mühsam aufgetürmt, kringelten sich aus einer sorgfältig gesteckten Ordnung von Nadeln und Kämmen den langen, schmalen Hals entlang. Ihr Gesicht war oval, mit einem schön geschwungenen Mund, einer unauffälligen geraden Nase, grünen Augen und regen dunklen Augenbrauen.

»Besser eine Tochter von einer Reise mitbringen als ein Rennpferd, das sich das Bein bricht.«

»Dreh mich linksherum, sonst fliege ich zum Fenster hinaus bis zur Ostsee!«

»An deinem Tisch stehen die jungen Männer Schlange. Gefällt dir einer?«

»Muss ich mich entscheiden?«

Der Herzog lachte und fasste sie enger. »Verdreh ihnen den Kopf, aber lass dir Zeit. Bleib noch eine Weile bei uns.«

Nach dem Tanz eilte Gertrud hinauf in das zweite Geschoss. Vor dem Spiegel ihres Schlafzimmers im Westflügel kühlte sie Gesicht und Dekolleté. Martha Blumenstein, ihre Zofe, betupfte Gertruds Nase mit einem Gesichtsleder, damit die Haut nicht glänzte, strich mit einem weichen Quast Körperpuder auf Hals, Schultern und auf den Ansatz der Brüste. Die gleichaltrige braunhaarige Frau legte einen Schal über Gertruds Schultern und ordnete ihre Haare. Martha arbeitete selten, ohne zu plappern.

Gertrud von Beust hatte sie von zu Hause, aus Langenorla, mitgebracht. Manchmal vermisste sie ihre Eltern, wenn sie zwischen den Bällen, der Wildschweinjagd, den Ausflügen nach Berlin, Potsdam und an die Badestrände der Ostsee einen Moment Ruhe fand.

»Der Herzog ist ein gut aussehender Mann. Schade, dass er verheiratet ist.«

»Er ist mein Adoptivvater. Red keinen Unsinn.«

»Die Herzogin schien nicht sehr erfreut.« Martha zupfte an einer Locke, die längst saß. »Ihre Mundwinkel hingen bis zum Kinn.«

Gertrud lächelte. »Dumme Martha. Du siehst Gespenster.« Sie betrachtete sich im Spiegel, skeptisch und zufrieden zugleich. Martha zuckte ungerührt mit den Schultern und hielt den Mund.

 

Der junge Hedemann, Sohn der Hofdame, hatte sich gleich zweimal in Gertruds Tanzkarte eingetragen. Er hielt sich für einen unwiderstehlichen Helden, seitdem er seinen Kaiser Maximilian in Mexiko überlebt hatte. Gertrud war sich sicher, dass Hedemann aus Mexiko nur deshalb heil wiedergekommen war, weil er sich vor dem Feind versteckt hatte. Sein Tonfall war langweilig, und seine Stimme meckerte wie ein alter Schafbock. Hedemann hatte keinen Krümel Humor und noch weniger Charme. Gertrud strich seinen zweiten Eintrag auf ihrer Tanzkarte durch, was er mit finsterem Blick quittierte.

»Ich muss für Gerechtigkeit sorgen.« Sie zwinkerte einem jungen Vetter des Herzogs zu, dem sie rasch den übernächsten Tanz und die den Ball abschließende Mazurka einräumte.

So setzte Hedemann alles auf Sieg. Mitten in einer Drehung des einzigen Tanzes, den Gertrud ihm gewährt hatte, sank er, seine Chance auf die denkbar schlechteste Weise nutzend, vor ihr auf die Knie und bat sie um ihre Hand. Heiraten wollte dieser Laffe sie? Sie blickte auf einen pomadigen Mittelscheitel und brach in ein so heiteres Gelächter aus, dass nicht ein einziger von mehr als hundert Ballgästen Hedemanns Niederlage übersehen konnte. Man tuschelte, kicherte, vorsichtig noch, denn die Hofdame von Hedemann hatte genug Einfluss, um Verbindungen zu vergiften oder Einladungen zu verschaffen. Nur die wenigen, die sich unabhängig von ihrer Gnade wussten, lachten schallend.

Frau von Hedemann ballte ihre Fäuste vor Wut und fauchte ins Ohr der Herzogin: »Auch diese junge Dame darf einen Kavalier nicht derartig bloßstellen.«

»Er hat sich denkbar töricht angestellt.« Die Herzogin hätte gegen eine Verbindung der neuen Tochter mit dem Sohn der loyalen Hofdame nichts einzuwenden gehabt. Eine rasche Verlobung hätte ihr mehrere Probleme zugleich vom Hals geschafft.

»Wie laut sie lacht! Man merkt, sie kommt vom Land.«

»Wir leben auch auf dem Land, liebe Hedemann.«

»Gewiss, gewiss! Aber der thüringische Adel ist von besonderer – Schlichtheit!«

Die Herzogin fühlte sich stellvertretend für eine Reihe von thüringischen Verwandten leicht gekränkt, dennoch leitete sie die Einflüsterung an ihren Ehemann weiter. Aber der amüsierte sich über die Szene auf dem Parkett. Er mochte weder die Hedemann, die zur dänischen Mitgift seiner Ehefrau gehörte, noch ihren geckenhaften Sohn. An einer allzu baldigen Heirat seines Lieblings hatte er ohnehin kein Interesse.

Der Held von Mexiko erhob sich von der Tanzfläche, wischte sich Staub von den Knien und starrte wütend auf die vergnügte junge Frau. Der Herzog lachte nun so laut, dass er seinen Gästen die letzte Selbstbeherrschung raubte. Aus Kichern wurde Lachen, aus Lachen ein Lärm, der den verschmähten Kavalier aus dem Saal fegte. Nur einige dänische Mitglieder des herzoglichen Hofes, die sich den Hedemanns verpflichtet fühlten, verfolgten die Szene misstrauisch. Frau von Hedemann eilte mit eisigem Gesichtsausdruck ihrem beleidigten Sohn hinterher.

 

Inmitten eines kleinen Sees an der Flensburger Förde lag das Wasserschloss Glücksburg, ein Renaissancebau aus dem 16. Jahrhundert. Seine Baumeister hatten es auf einen Sockel aus Granit mitten in den Schlossteich gesetzt, zu welchem der frühere Mühlteich aufgestaut worden war. An allen vier Ecken überragte jeweils ein achteckiger Turm den quadratischen Mittelbau. Die weiß getünchten Außenmauern fielen steil ins Wasser hinab. Schloss Glücksburg war nur durch eine Brücke mit den Wirtschaftsgebäuden verbunden, von wo aus eine weitere Brücke in den Park und zur Orangerie, eine dritte ins Dorf und zur Landstraße führte. Wer aus dem Schloss kam und am See entlanggehen wollte, musste demzufolge zwei kleine Brücken überqueren und fand dann den Weg rund um das Ufer, von dem aus man das mächtige weiße Wasserschloss nie aus den Augen verlor.

Der Spätsommerwind ließ die Blätter der einige Hundert Jahre alten Bäume rascheln und bald so heftig rauschen, als drohte ein Sturm. Über den Schlosssee flitzten aufgeregte kleine Wellen, der Mond versilberte ihre Kuppen. Der Weg um den See führte vorüber an Schilf, schlafenden Enten und Vögeln, die aufschreckten, als die beiden vorbeigingen.

»Ich heirate niemanden. Auch Sie nicht! Geben Sie mir meine Hand zurück.«

»Ist der See nicht wunderschön?«

»Ich bin nur wegen des Lichts und der Bäume in romantischer Stimmung. Ihnen nützt das nichts.« Der Vetter des Herzogs gefiel ihr bisher am besten von allen Kavalieren.

»Darf ich?«

»Nicht um meine Schulter.« Sie stolperte und zuckte zusammen. »Ein Stein. Ich lege meine Hand auf Ihren Arm … aber nur für einige Schritte. Es ist stockdunkel unter den Bäumen. Bis auf den Mond, der sieht aus wie ein eingedellter Ball.«

»Gertrud, Sie duften wie …«

»Flieder? Das wäre nicht sehr originell. Etwas fantasievoller wäre eine Orchidee im brasilianischen Dschungel, an einer Stelle, wo noch keiner außer Ihnen je war.«

»Nun bleibt mir nichts mehr«, seufzte der junge Mann, beugte sich vor und küsste sie auf die Wange.

Gertrud genoss die verbotene Geste. Die Sitten am Glücksburger Hof waren lockerer als zu Hause. Der junge Offizier, Vetter des Herzogs, musste in den nächsten Tagen zurück nach Frankreich. Das Äußerste, was sich ein Kavalier am Hof in Weimar nach mehreren Begegnungen je gestattet hatte, war, in einer dunklen Schlossecke seine Hand wie unabsichtlich über ihre Hüfte gleiten zu lassen.

»Lassen Sie uns ins Schloss zurückgehen, sonst muss ich Sie noch heiraten.«

»Dann bleiben wir hier!«

Sie lief ihm lachend davon. Er holte sie ein und versprach, zuerst nach den Pferden zu sehen, damit sie nicht zusammen gesehen würden.

Zurück im Schloss suchte sie eine der Garderoben im Erdgeschoss auf, um ihre Haare zu ordnen, bevor sie auf dem Weg nach oben in den Ballsaal neugierigen Blicken begegnete. Im Nebenraum hörte sie Stimmen.

»Was glauben Sie, warum er dieses junge Ding nach Glücksburg geholt hat?«, fragte Frau von Hedemann, hart und schlecht gelaunt.

»Welchen Platz hat die kleine Beust denn jetzt in der dänischen Thronfolge?«

Gertrud zog ihre Hand von der Türklinke.

»Mir kam die Sache auch merkwürdig vor. Aber einen solchen Verdacht?« Diese Stimme kannte sie nicht, sie klang zögernd, unsicher.

»Was soll die arme Herzogin tun? Sie ist kinderlos. Da ist es sein gutes Recht, ein Kind zu adoptieren.« Eine alte Stimme unterstützte die Hedemann.

»Einen Sohn, vielleicht. Aber hier handelt es sich um eine schöne junge Frau …«

»Sie hat eigene Eltern!«

»Was, sie ist keine Waise?«

»Fällt Ihnen immer noch nichts auf?« Frau von Hedemanns Stimme straffte das Durcheinander.

»Ihr Sohn hat sich sehr ungeschickt verhalten, sagen Sie ihm das!«, tönte die alte Stimme.

»Meinen Sie, die Herzogin ahnt nichts?«

»Wovon ahnt sie nichts?«, fragte eine schrille neue Stimme.

Frau von Hedemann beschloss, das Rätsel zu enthüllen: »Dass die junge Beust adoptiert wurde, damit sie ohne Skandal immer in der Nähe des Herzogs sein kann!«

»Sie meinen …? Nein, wie unappetitlich!« Die Zeterstimme war begeistert.

»Warum soll eine Adoptivtochter nicht in der Nähe ihres Vaters sein?« Der Zögerlichen fehlte die Fantasie.

»Meine Beste, haben Sie es immer noch nicht durchschaut?« Frau von Hedemann atmete schwer. »Die Kleine ist die heimliche Mätresse des Herzogs!«

Gertrud klammerte sich an die Gardine. Die unsichtbaren Frauen redeten durcheinander und versicherten sich ihrer Vorahnungen und ihrer Beobachtungen beim Tanz. Eine Teilnehmerin trumpfte mit privaten Informationen auf: »Er hat die kleine Beust schon im letzten Jahr in Bad Ems kennengelernt und heiß umworben. Überall waren sie zusammen, im Casino, beim Abendessen. Sie soll dort sogar einen Ausflug mit ihm gemacht haben, bei dem ihr Vater nicht dabei war, angeblich war er indisponiert. Man hat über sie geredet!«

»Die bedauernswerte Herzogin! Man muss sie schonen.« Die scheinheilige Stimme lauerte darauf, die Neuigkeit in alle Welt zu tragen.

Frau von Hedemann hielt dies für den Zeitpunkt ihres Triumphes. »Ich sage Ihnen, die Herzogin leidet still. Eine echte Dulderin! Sie sollte zurückgehen an den Hof in Kopenhagen. Was für eine Demütigung! Ein so albernes, eitles junges Ding. Haben Sie jetzt verstanden, was mein tapferer Sohn heute Abend versucht hat? Er wollte die Schmach vom Haus des Herzogs nehmen.«

»Oh, wie aufopferungsbereit.« Eine helle Stimme war gerührt.

»Was für ein Held!« Die schüchterne Stimme bebte leicht.

»Ich muss mit der Herzogin reden. Jetzt sofort.« Frau von Hedemanns Stimme vibrierte vor Edelmut. Die Hofdame der Herzogin ließ sich von allen Seiten bewundern. Das war ihr Auftritt. Die Frauen verließen die Garderobe.

Gertrud war in der Kammer bleich in die Knie gesunken und ballte ihre Fäuste, bis sich die Haut über den Knöcheln spannte. Dann stand sie ruckartig auf. Sie holte so tief Luft, als stünde sie im Wald von Langenorla neben ihrem wirklichen Vater und legte auf einen Sechzehnender an. Eine ungeheure Wut trieb sie an. Die junge Frau rannte quer durch die Halle zur zweiten Wendeltreppe und erreichte so das erste Stockwerk vor der feindlichen Meute. Sie eilte in den Saal, sah, wie die Hedemann auf die Herzogin zuging, die Schritte schwer von der Bedeutung ihres selbst erteilten Auftrags. Die Herzogin stand neben dem Herzog am anderen Ende des dreißig Meter langen Saals. Gertrud sichtete den Raum wie ein Schachbrett. Sie raffte grünen Tüll, Seide und Spitze mit beiden Händen und rannte mitten durch den Ballsaal, als jagte sie auf den Wiesen an der Orla den Hunden hinterher. Sie lief schneller über das Parkett, als sie auf ihm getanzt hatte, und rempelte ein tanzendes Paar an.

»Mein Gott, dieser Landadel! Man sieht ja die Knöchel der Kleinen!«, rief eine Berliner Gräfin.

»Warum rennt sie so?«, fragte der Herzog. Er streckte ihr seine Arme entgegen und lächelte. »Ich will eine kleine Rede zu ihren Ehren …« Aber Gertrud ignorierte die Blicke ihrer Tanzpartner, den Charme ihres Begleiters am See, bremste erst vor dem Herzog und der Herzogin und sah dem Adoptivvater nur kurz ins Gesicht, der Herzogin nicht. Ihre Wut half, alles andere auszublenden, sie drehte sich, so dass sie direkt mit Frau von Hedemann konfrontiert war, als diese einige Meter hinter ihr schnaufend ins Ziel lief. Das Herzogpaar im Rücken und sich wie selbstverständlich auf dessen Unterstützung und Autorität verlassend, rief Gertrud: »Sie bösartige, verlogene alte Hexe!«, und schlug der Hedemann mitten ins Gesicht.

Jäh verstummte alles Flüstern, Sprechen und Lachen. In diese Stille hinein sagte Gertrud mit einer Stimme, als kommandierte sie hundert Soldaten: »Nur weil ich Ihren abstoßenden, eitlen Sohn, der sich in Mexiko vor dem Feind versteckt hat, sich hier aber an mich hängt wie ein schleimiger Lurch, den ich kaum abstreifen kann, ohne meine Hände zu waschen … nur weil ich ihn nicht heiraten will, verbreiten Sie verabscheuungswürdige Lügen über mich und meinen Adoptivvater. Meine Eltern werden Sie hinauswerfen!«

Hoch erhobenen Hauptes verließ Gertrud von Beust den Saal, vollkommen überzeugt davon, dass der Herzog die Hedemann nun einer peinlichen Befragung unterziehen und noch in derselben Nacht in einer Kutsche über die Grenze nach Dänemark schaffen lassen würde.

»Was für Lügen?«, stotterte der Herzog und starrte Gertrud hinterher. »Wilhelmine, was meint sie?«

Auf dem Gesicht der Herzogin sammelten sich rote Flecken, die an Kinn und Hals hinunterliefen und sich im Ausschnitt ihres Kleides stauten wie ein Berg Kirschen.

»Warum hast du mir das nicht ersparen können?«, zischte sie ihrem Mann zu und nahm den Arm eines älteren Verwandten, als hätte dieser sie zum Tanz gebeten. Nichts war ihr jetzt wichtiger, als die Form zu wahren. Mit einer Bugwelle von Begleitern verließ währenddessen die Hedemann den Ort, um sich mit einem letzten verächtlichen Blick auf den fassungslosen Herzog dessen Fragen und seinem Zorn zu entziehen.

»Langsam! Eine junge Dame zeigt keine Hast!«, hatte die Pröpstin, Gräfin Zedlitz-Trütschler, im freiadligen Magdalenenstift zu Altenburg gemahnt, als Gertrud fünfzehn Jahre alt gewesen war. »Eine junge Dame, die rennt, ist ordinär!« Gertrud registrierte, wie hinter ihr im Ballsaal die Stille in ein wirres Gesumm aus Stimmen und Spekulationen umschlug. Die Musiker begannen wieder zu spielen. Herzog Papa wird alles in Ordnung bringen. Sie schlug die Saaltür mit aller Kraft zu, was den erstarrten Diener erschütterte und ihn veranlasste, der Ordnung halber die Tür wieder zu öffnen und leise zu schließen.

Wieder rannte Gertrud die breite Wendeltreppe hinauf. »De nouveau cette Beust, cette locomotive, voyez donc, comme elle court!« Schon wieder diese Beust, diese Lokomotive, seht nur, wie sie rennt!, hatte ihr Mademoiselle Guyaz im Stift hinterhergerufen. Gertrud öffnete die Tür zu ihrem privaten Salon. Die scheußlichste Strafe für Fehlverhalten war im Magdalenenstift mise en silence gewesen, vollkommenes Sprechverbot. Auch das Essen am kleinen, niedrigen Katzentisch im Speisesaal war eine bei den Erzieherinnen und der Pröpstin beliebte Züchtigung. Die Mädchen wurden außerdem häufig mit Strafbroschen schikaniert, die sie an sichtbarer Stelle anstecken mussten und auf denen ihre Verstöße gegen die Stiftsordnung notiert waren. Verboten waren beispielsweise nackte Hände ohne Handschuhe. Doch die Mädchen zogen die Handschuhe im Speisesaal heimlich aus, wenn sie in ihnen ekliges Essen verschwinden lassen wollten, und versteckten die nackte Hand dann in den Falten ihrer Kleider.

Gertrud schloss die Tür. Sie lebte nicht mehr im Stift. Hier war jetzt ihr Zuhause und, sooft sie wollte, bei ihren leiblichen Eltern in Langenorla. Der Herzog stand auf ihrer Seite und würde alle in die Schranken weisen. Er liebte sie doch wie seine eigene Tochter.

Gertrud sah sich in ihren Räumen um, ein Salon im Westturm mit einer kleinen Bibliothek, daneben ein Schlafzimmer, großzügig mit italienischen Barockmöbeln eingerichtet. Sie besaß ihr eigenes Schrankbad in einem dritten Raum, in dem sich auch ihre Kleiderschränke befanden, die bereits prall gefüllt waren, als sie zu Beginn des Sommers in Glücksburg eingezogen war.

Was sollte sie ihren Eltern schreiben? Musste ihr Vater in Langenorla nicht annehmen, dass seine Gertrud sich schlecht benommen hatte? Alle waren heute Nacht auf Glücksburg, die Familien der großen Güter aus Schleswig-Holstein, Vertreter des dänischen und des preußischen Königshauses. Jetzt zerrissen sie sich die Mäuler.

Sie stellte sich ans Fenster, hörte das Orchester einen Walzer spielen, der über den See strich. Das Wasser spiegelte die Lichter aus dem Ballsaal tausendfach auf das Schloss zurück. Bis heute war es ihr als die größte Gefahr erschienen, an Langeweile oder Vergnügungen zu ersticken. Auf nichts war sie weniger vorbereitet als auf eine solche Demütigung. Der Boden hatte sich unter ihren Füßen geöffnet. Ihre Ehre war in ein finsteres Loch gestürzt. Nur die Macht des Herzogs war stark genug, sie zu retten, den vertrauten Zustand wiederherzustellen. Er würde bald anklopfen, sie trösten, wahrscheinlich käme er mit der Herzogin, auch sie, die zurückhaltende, würde sie in den Arm nehmen. Beide mussten jetzt erst einmal Ordnung schaffen, die Intrigantin bestrafen, alle aus dem Schloss verweisen, die der Hedemann glaubten. Das dauerte eine Weile. Sie würden gewiss kommen.

 

Als Gertrud aufwachte, dämmerte es. Über den See huschten die Lichter des Morgens. Keine Musik mehr, ein paar Frösche, frühe Vögel. Niemand war bei ihr gewesen. Auf dem Boden lag eine matte grüne Wolke, nirgendwo eine Martha, die das Kleid aufgeräumt hatte. Ihre Schuhe und Handschuhe lagen herum. Sie trug noch ihre zerdrückte Unterwäsche, und Ösen, Schleifchen und Schnürungen pressten Muster in ihre Haut. Gertrud lief an dem großen Fenster ihres Schlafzimmers auf und ab. Dann ging sie ins Bad, trat an den Waschtisch. Sie goss einen abgestandenen Rest Wasser aus der Porzellankaraffe auf einen Lappen und kühlte ihr Gesicht. Bleich schaute es sie aus dem Spiegel an. Nie zuvor hatte sie so etwas allein entscheiden müssen.

Der Dunst über dem See wich der Sonne, die unverschämt schön aufging. Ihre ersten Strahlen trafen eine alte chinesische Vase, die ihr die Herzogin zum Einzug in Schloss Glücksburg geschenkt hatte. »Für die könntest du dir einige sehr vornehme Kutschen kaufen, liebste Tochter«, hatte Herzogin Wilhelmine, ihre neue Mutter, gesagt.

Keine Kutschen, dachte Gertrud. Sie öffnete das Fenster und ließ das viele Hundert Taler teure Stück zwei Stockwerke tiefer in das Wasser platschen. Das Geräusch gefiel ihr, es irritierte die Frösche, die für einige Minuten ihr Gequake verschluckten. Sie warf zwei Porträts des herzoglichen Paares mit Goldrahmen hinterher, danach einen Lampenfuß aus Meißener Porzellan. Die grüne Wolke, die ihr Ballkleid gewesen war, schwebte seitwärts in die Bäume. Das italienische Porzellanpferd, mit dem der Herzog schon als Kind gespielt hatte, knallte schräg auf eine Mauer und zerbarst.

Martha schlief unter einem blau karierten Federbett in ihrer Kammer am Ende des Flurs. Gertrud zog ihr die Decke weg. Auch die Zofe trug noch die Kleider vom gestrigen Abend, das Dekolleté weit aufgeknöpft, eine Brust entblößt, der Rock zerknittert, überall steckten Strohhalme. Sie setzte sich mit einem Ruck auf. »Ja?«

»Komm, steh auf, wir fahren nach Hause. Wie siehst du aus! Hast du bei den Pferden geschlafen?«

Martha sah an sich hinunter und ordnete rasch ihre Kleidung.

»Mach schon, pack meine Sachen.«

Gertrud flüchtete wie eine Diebin aus dem Schloss, in das sie so festlich aufgenommen worden war. Das Herzogpaar schlief noch. Sie ließ einen der Pferdeknechte anspannen und warf keinen Blick mehr zurück auf die Stätte ihrer Demütigung. Martha nickte in der Kutsche sofort wieder ein. Gertrud trieb den Kutscher an und hätte am liebsten selbst die Zügel genommen. Um sich abzulenken, suchte sie in den Regenwolken über der Flensburger Bucht Gesichter, aber sie fand nur Szenen aus der vergangenen Nacht. Wenige Wochen zuvor war sie am Flensburger Bahnhof mit einer Musikkapelle und Girlanden begrüßt und in einer blumengeschmückten Kutsche nach Glücksburg gebracht worden. Sie schüttelte die Erinnerung ab, kaufte zwei Billets für sich und Martha und bezahlte den Pferdeknecht großzügig. Doch vorher hatte sie ihm das Versprechen abgenommen, erst einmal im Gasthaus einzukehren und auch später dem Herzog so lange wie möglich nichts zu verraten.

 

Die Reitgerte traf den Diener am Ohr. »Warum hast du mich nicht sofort geweckt?«

»Die Pferdeknechte haben das Fehlen der Kutsche im Marstall nicht gleich bemerkt, Hoheit!«

»Und die Sachen, die im See schwimmen?«

»Ich schlafe im Stall, verzeihen Sie, Eure Hoheit, verzeihen Sie, Sie sind so spät ins Bett gekommen, da wollte niemand Eure Hoheit wecken.«

»Was geht dich das an?«

Der Diener senkte den Kopf. Der Herzog hieb mit dem Stock gegen eine unschuldige Standuhr und brüllte: »Ist aufgesattelt?«

»Wir haben den Zweispänner …«

»Dein Kopf ist so hohl wie der aller anderen hier! Sie will den Frühzug nehmen, da brauche ich mein Pferd, wenn ich sie einholen will, kein lahmes Coupé, du Dummkopf!«

 

Auf dem Rumpf des Rappens schäumte weißlicher Schweiß und rann über den Bauch des Tieres, das die Augen verdrehte und schnaubte, als sein Reiter dem verdutzten Wirt des Bahnhofslokals am Flensburger Hafen herrisch die Zügel in die Hand drückte. Der Mann hatte vor der Kneipe in der Sonne gedöst und hielt jetzt verwirrt das erschöpfte Tier am Halfter.

»Meine Tochter! Hat Er meine Tochter gesehen?«

Der Bahnhofsvorsteher verbeugte sich ein ums andere Mal, so dass seine Worte stockend, mal laut, mal leise aus ihm herausstießen. »Gewiss, Hoheit. Sie kam knapp vor der Abfahrt des Neun-Uhr-Zuges nach Rendsburg und hatte noch keine Fahrkarte. Seien Sie unbesorgt, wir haben ihr in allem geholfen, hoffe, ganz zu Ihrer Zufriedenheit.«

Die Stimme des Herzogs verdarb dem Mann für den restlichen Tag die Stimmung. »Wie konnte Er ein unmündiges Mädchen allein in die Eisenbahn steigen lassen?«

Erschrocken hörte der Mann auf, sich zu verbeugen. »Verzeihen Sie, Hoheit, aber es ist nicht unsere Sache, die Tochter des Herzogs an der Reise zu hindern.«

Grußlos ließ der Herzog den Bahnhofsvorsteher stehen. Der sah ihm hinterher, als er die Tür zum Bahnhof aufstieß. Nach ein paar Schritten zögerte der Herzog, drehte sich um und winkte den Mann wieder zu sich. »Dass Er kein Wort darüber verliert. Kein einziges Wort, hörst du? Er will seine Stellung behalten, nehme ich an? Ich habe meiner geliebten Tochter noch ein Geschenk nachtragen wollen. Verstanden?«

Weil der Herzog nicht daran zweifelte, dass der Bahnhofsvorsteher gehorchen würde, wartete er dessen Antwort nicht ab, sondern eilte zornig zurück zu seinem Pferd, dem er einen strammen Ritt zurück nach Glücksburg zuzumuten gedachte. Er hatte eine schriftliche Vereinbarung mit Hermann von Beust, und er würde weder ihm noch dessen Tochter Gertrud erlauben, diesen Vertrag zu brechen.

2

Solingen,

September 1870

»Der Himmel hängt über uns wie eine schwarze Glasglocke.« Albert Lauterjung stand breitbeinig da und neigte seinen Kopf weit hintenüber. Er war sechsundzwanzig Jahre alt, mittelgroß, schlank, kräftig, und tagsüber hätte man seine grauen Augen erkannt und die Farbe seines braunen Haares, das er in dieser Nacht unter eine blaue Kappe gestopft hatte. Sie waren zu fünft unterwegs: Als Letzter lief Baptist Grahe, der vierzehnjährige Lehrling, vor ihm gingen Ernst Kirschbaum und Fritz Witte, beide erfahrene Messerschleifer wie Heinrich Melchior und Albert Lauterjung.

Melchior, der älteste der fünf, war nachts fast blind und prallte gegen Lauterjung, der die Sterne begaffte. Der bullige dreiundfünfzigjährige Melchior trug den Stahl- und Sandstaub von Jahrzehnten in der Lunge und schimpfte schnaufend: »Geh weiter, Träumer! Heute Nacht spazieren wir hier unten herum, nicht auf deiner Milchstraße.«

Albert Lauterjung lachte und lief weiter, nahm aber den Blick nur gelegentlich von den Sternen. Eine Zeit lang stapften die Männer wortlos durch die klare, milde Septembernacht. Der Mann, den sie besuchen wollten, erwartete sie nicht. Er ahnte nicht, dass er am anderen Morgen ein Ausgestoßener sein würde.

Sie verließen Solingen in Richtung Osten, überquerten den Wall und gingen scherzend am lutherischen Pastorat vorbei. Sie stiegen die bewaldete Anhöhe hinauf und wieder hinab und erreichten die Wupper etwa dort, wo der kleine Schaberger Bach in den Fluss mündete. Sie ließen die Grunenberger Fruchtmühle rechts liegen und liefen nach Norden, die Wupper entlang, die ihnen schwarz und undurchdringlich entgegenfloss. Im Mondlicht sah man Schaumkronen und Holzstücke auf dem Wasser treiben.

Albert kannte die Furcht seines Freundes vor Wasser. Er drehte sich um und packte Melchior an den Schultern. »Jetzt fliegst du in die Wupper, Alter.«

Heinrich brüllte, denn er konnte nicht schwimmen. Er war stark, aber wie jedes Gewässer, das größer war als der hölzerne Zuber, in den er sich samstags auf Drängen seiner Frau zwängte, löste so ein Fluss Panik in ihm aus. Finster war die Oberfläche der Wupper, darunter lag gewiss die Hölle oder Fürchterlicheres. Melchior wehrte sich heftig, strampelte und zerrte Albert mit hinunter ins Gras. Der hockte sich Melchior auf den Bauch. Der Belagerte zappelte wie ein Fisch an Land und brüllte: »Du bist halb so alt wie ich, das ist eine Schweinerei! Ich werd dir alle deine Klingen zerschlagen.«

»Dann muss ich dich jetzt doch ersäufen«, antwortete Albert ungerührt.

Für Baptist Grahe, den vierzehnjährigen Schleiferlehrling, sah es aus wie eine richtige Schlägerei. Er sah Ernst Kirschbaum und Fritz Witte hilfesuchend an, aber die grinsten bloß. Sie kannten die beiden. Nach einer Weile des Brüllens, Klatschens und Knurrens, nachdem sich die Freunde ausführlich herumgewälzt und miteinander gerungen hatten, sprang Albert auf und zog Melchior am Arm hoch. Der wischte sich Gras und Erde aus den Haaren und von der Hose.

»Du blödes Riesenrindvieh.« Heinrich knuffte Albert in den Bauch.

»Du hast Gras im Gesicht«, sagte Albert.

»Wo?« Heinrich Melchior fiel wieder darauf herein.

»Da!« Ein derber Nasenstüber trieb ihm Tränen in die Augen.

»Du bist ein alberner Radikaler.«

Albert lachte. »Und du ein wasserscheuer. Beides ist nicht so günstig.«

»Wenn er nicht da ist, gehen wir wieder, oder?« Baptist hatte einen Frosch im Hals.

»Du Böxendrieter, klar ist er da. Wo soll er sonst sein?«, antwortete Albert.

»Hau ab, wenn du die Hosen voll hast!«, schimpfte Fritz.

Baptist stopfte die Fäuste in die Hosentaschen, kniff den Mund zusammen und schwieg.

 

Eine Viertelstunde später sahen sie den kleinen Schleifkotten von Carl Ern vor sich am Fluss liegen. Alle Fenster waren dunkel. Albert löschte die Petroleumlampe. Heinrich signalisierte ihnen, leise zu sein. Beim Haus angekommen, klopften sie nicht. Heinrich und Albert warfen sich ohne Vorwarnung gegen die Eingangstür. Sie knirschte im Rahmen. Beim dritten Anlauf barst sie.

Der Kotten, ein einfaches, niedriges Fachwerkhaus, bestand aus zwei Werkstatträumen, einer Schlafkammer und einer Wohnküche. Hinter dem Haus, in einem Gemüsegärtchen, befanden sich das Klo und eine Wasserpumpe. Von insgesamt fünf Schleifplätzen hatte Carl Ern drei an andere Schleifer vermietet, die sich keine eigene Werkstatt leisten konnten. An den anderen beiden Arbeitsplätzen arbeiteten er und sein ältester Sohn. Es lag Brennholz herum, außerdem Kartoffeln, Zwiebeln, Schuhe, Brotkrusten. Der Boden war mit Schmer bedeckt, einer Mischung aus Öl, Abrieb und Staub. Ein von Fett und Dreck steifer Stoff trennte die Schlafkammer von der Wohnküche, Albert riss ihn herunter.

Emma Ern lag neben ihrem schnarchenden Mann. Sie durchlebte gerade einen Alptraum, dessen Handlung sich auf einen Schlag änderte. Eben noch wurde sie von einem Wolf über ein Weizenfeld gejagt, jetzt riss vor ihr eine Ackerfurche auf und spuckte unter Feuer und Getöse Abgesandte Satans aus. Als sie mühsam ihre Augen öffnete, waren es sogar fünf Ungeheuer.

Heinrich Melchior hasste die Tonlage ihres Geschreis. »Albert, entweder entfaltest du deinen Charme oder dein Halstuch.«

Albert mochte die ganze Frau nicht. Er band ihr sein Halstuch als Knebel vor den Mund und fesselte ihre Hände an den Bettpfosten. Emma Ern riss die Augen auf und starrte Albert an, ohne ein einziges Mal ihre Lider zu schließen. Sie keuchte, kaute auf dem Knebel und zerrte mit den Armen an den Fesseln. Sie holte mit einem Bein aus und trat ihrem Mann kräftig in den fetten Hintern. Dessen Schnarchen setzte für eine Sekunde aus, dann pfiff und rasselte er wie zuvor.

»Warum wird der nicht wach?«, fragte Albert.

»Grrgghh.«

»Wieder besoffen?«

»Drr xknn ikchzz!« Die Frau starrte Albert an.

»Sie kennt dich?« Heinrich war beunruhigt.

»Es wäre besser für sie, wenn nicht«, antwortete Albert. Die Frau sabberte in den Knebel und schüttelte eifrig verneinend den Kopf.

»Was machen wir mit ihm?«, fragte Baptist Grahe.

»Mit den Füßen ans Bett«, erwiderte Heinrich Melchior.

Auf dem Boden lagen Strohmatten, auf denen die drei Kinder der Erns schliefen. Fritz Witte packte die Matten samt der Kinder, trug sie in die Vorratskammer und schloss die Tür ab. Keines der Kinder wachte auf.

Heinrich hob die Bettdecke über Carl Ern an. »Pfui Teufel, wann hat der sich zum letzten Mal gewaschen?«

Die Frau hatte den Knebel bis zum Kinn heruntergekaut. »Er badet samstags«, maulte sie. »Wärt ihr da gekommen …«

»Samstagnacht haben wir was Schöneres vor. Da tanz ich in der Schützenburg mit einer, die besser riecht«, spottete Albert und knotete ihren Knebel fester. »Und nun halt die Schnauze!«

Carl Ern zuckte zusammen, fuhr hoch und glotzte mit glasigem Blick in die Runde.

»Du hast die Zunft verraten und wieder heimlich mit dem Fabrikanten verhandelt«, sagte Albert.

»Zum Ritual des nächtlichen Orakels gehört, dass der Verräter erfährt, warum ihm was blüht«, erklärte Heinrich dem neugierigen Baptist. »Weißt du denn gar nichts?«

»Ääähh?« Carl Ern wurde langsam wach. Heinrich fesselte seine Füße an das Bettgestell. Baptist sah gespannt Erns Fuß an, der Zeh zuckte. Der Junge fuhr mit einem Finger die Fußsohle entlang und amüsierte sich über Erns Reaktion.

»Wollt ihr Geld?« Die Frau hatte den Knebel wieder aus dem Mund gekaut.

Albert zog sich einen Hocker direkt vor Carl Ern. »Geld? Von euch? Als du arbeitslos warst, haben wir alle fünf Pfennige Umlage, manche sogar zehn und fünfzehn Pfennige pro Woche in eine Kasse gezahlt, obwohl wir nicht zu deiner Schleiferei gehörten. Fast sechs Mark Unterstützung für euch, jede Woche. Von uns. Drei Monate lang. Und du Schwein verrätst uns!«

Emma Ern quakte dazwischen. »Er hat die Zunft nicht …«

»Halt endlich die Klappe, sonst stopf ich dir einen Schuh ins Maul! Wenn sich alle so verhalten wie dieser Idiot, wovon sollen wir künftig leben?« Albert gab das Zeichen.

Carl Ern begriff viel zu spät, was auf ihn zukam.

»Nein!«, brüllte er.

Schleifsteine aus Sandstein mit einem Durchmesser von mehr als zwei Metern wie der von Carl Ern wurden im Solinger Land für die Herstellung feinster Tafelmesser verwendet. Heinrich Melchior zerschnitt den Riemen, der den Schleifstein antrieb. Den schweren Stein hatte Ern vor Jahren nur mit der Hilfe von fünf Männern aufhängen können. Nun schlug ein einziger Mann, Fritz Witte, den Stein herunter. Der donnerte mit einem schweren Schlag auf den Fußboden und ließ ein paar Dielen brechen. Heinrich gab Baptist einen Meißel. Baptist strahlte den Alten an, atmete tief durch und setzte den Meißel an den Schleifstein. Albert holte mit dem Hammer aus und hieb den ersten Spalt in das kostbare Werkzeug.

Ern heulte auf vor Wut. Er versuchte, einen Fuß aus dem Bett zu schwingen. Verschlafen und betrunken wie er war, überblickte er seine Lage nicht, und kippte aus dem Bett, das Kinn und den wabbeligen Bauch vornüber. Seine Füße hingen oben in der Fessel am Bettpfosten, das Nachthemd verrutschte und entblößte seinen bleichen Hintern. Albert grinste und kippte die halb gefüllte Bettpfanne über Ern aus. »Was hat sie für einen hübschen Mann, die Emma Ern.« Die Angesprochene schwieg beleidigt.

»Kappeskopp«, knurrte Heinrich. »Jetzt stinkt’s hier. Hättest du nicht warten können?«