Anett Steiner
Twilight-Line Medien GbR
Obertor 4
98634 Wasungen
1. Auflage, Oktober 2016
ISBN 978-3-944315-46-1
eBook-Edition
© 2016 Twilight-Line Medien GbR
Alle Rechte vorbehalten.
„Was ist passiert? Was hat dich zu dem gemacht, was du bist?“
Die Stimme von Ludger Schwarz klang jung für einen Mann seines Alters. Ludgers Schläfen waren schon vor Jahren ergraut. Er legte den Arm um die attraktive Frau an seiner Seite, deren üppige Formen sich an ihn schmiegten.
„Wieso ich zur Hure geworden bin willst du wissen?“ entgegnete sie.
„Das bist du nie gewesen“, widersprach Ludger.
„Doch, das bin ich...“, setzte sie an, doch er legte ihr sanft den Zeigefinger auf die geschminkten Lippen.
„Und von heute an wird niemand mehr wagen, dich so zu nennen, dafür sorge ich. Willst du mich heiraten?“
Sie drückte ihre Lippen in die erschlaffte Haut seiner Wangen und lachte.
*
Sie lag in ihrem Bett und wagte kaum zu atmen. Da waren Geräusche draußen im Flur. Schritte, die vor ihrer Tür verstummten. Ihr Herz pochte, die Angst kroch über den schmutzigen Boden die Bettpfosten hinauf und nahm erbarmungslos Besitz von dem zehnjährigen Mädchen.
Johanna lag still in ihrem Bett, nur eine dünne Decke schützte ihren dürren Körper vor der eisigen Kälte im Zimmer.
Vielleicht würde er nicht hereinkommen, wenn sie nur leise genug war? Doch schon schwang die Tür auf, der Mann füllte den Rahmen fast aus. Er hatte dunkles, lockiges Haar und die Augen des Teufels.
„Na, hast du dich schon auf mich gefreut, Johanna? Mama ist fort, mach dir keine Sorgen.“
Übelkeit überschwemmte das Mädchen. Sie war noch ein Kind, vor wenigen Tagen zehn Jahre alt geworden. Die Angst hielt sie fest umklammert, eines Tages werde ich daran ersticken, dachte sie.
Die Tür fiel hinter dem Vater ins Schloss. Er näherte sich ihrem Bett.
„Hast du deine Schlafhose schon ausgezogen, meine Kleine?“
Johanna lag flach atmend da und musste geschehen lassen, was schon so oft passiert war. Ihre Welt ging dabei unter, sank jedes Mal ein Stück tiefer in den stinkenden, ausweglosen Sumpf, in den das Leben sie hineingestoßen hatte. Sie konnte ihrem Peiniger nicht entkommen, ihrem Vater, obwohl sie mehr als einmal gewünscht hatte, er würde ein Fremder sein, den sie eines Tages einfach hinter sich lassen könnte.
Als er endlich fort war, lag sie noch lange frierend da und rührte sich nicht. Sie hatte es aufgegeben zu weinen.
*
Johanna führte die Klinge über ihre Arme, ihre Beine, ihren Bauch. Das Blut kühlte den Schmerz, doch für ihre Seele kam jede Hilfe zu spät.
„Was machst du da?“ Das war die Stimme der Mutter.
Johanna hatte die Ohrfeige nicht kommen sehen.
„Wer hat dir erlaubt die Rasierklingen zu nehmen?“
Mit Rauschen im rechten Ohr, brennender Wange und zu Eis erstarrtem Herzen taumelte das Mädchen aus dem Haus. Etwas in ihr hatte sich verändert. Sie hatte einen längst überfälligen Entschluss gefasst. Freiwillig würde sie nicht in dieses Haus zurückkehren. Ziellos und benommen taumelte sie die Straße hinunter. Dieser Ort würde nicht länger ihr Zuhause sein. War er es je gewesen?
Sie rannte den Feldweg hinauf, so schnell sie konnte und erstickte nur mühsam den Schrei, der in ihrer Kehle aufgestiegen war. Der Weg führte an Reihen von Winterkohl vorbei, den ein benachbarter Bauer dort angebaut hatte. Ein stechender Schmerz fuhr dem Mädchen in die Seite, ließ das Pochen der Ohrfeige im Kopf noch einmal aufflammen. Trotz des Seitenstechens und der damit verbundenen Übelkeit eilte Johanna weiter. Das Blut aus den geritzten Armen rann die Haut hinab und machte ihre Hände klebrig. Wie ein Gespinst aus roter Farbe sahen die Linien aus. Ein Kunstwerk, schön, hätte sie vielleicht gedacht, wenn sie den Kopf dafür frei gehabt hätte.
Dann erreichte Johanna den Wald, der schon so oft ihre Zuflucht gewesen war, und schlug sich ins Unterholz, um durchzuatmen.
Der Hochstand eines Jägers befand sich ganz in der Nähe auf der Lichtung, die untergehende Sonne färbte den Himmel lila, als wäre die Welt ein Paradies.
Johanna erklomm die hölzerne Treppe und sank auf den rauen Holzboden nieder. Jetzt weinte sie doch und nur Baumriesen und Sterne hörten ihr zu. Irgendwann schlief sie ein.
Sie war ein Schmetterling, alle Farben und der Himmel gehörten ihr, träumte sie. Doch viel lieber wäre sie ein Wolf gewesen, der nachts ums Dorf schlich, weil ihm nach Blut dürstete.
Vom Rand des Unterstandes überblickte sie am nächsten Morgen das neblige Tal. Tau lag auf den Gräsern und Stille über den Feldern. Das Mädchen fühlte sich, als wäre es allein auf der Welt, und dieser Gedanke war schön. Johanna wollte doch nur sorglos sein. Ein sorgloses Kind, und frei. Also doch ein Schmetterling?
Nein, etwas hatte sie zum Wolf gemacht. Wer immer ihr von nun an zu nahe kommen würde, sollte Krallen und Zähne zu spüren bekommen.
Sie verbrachte einen ganzen Tag im Wald. Nichts zog sie zur Schule, wo ohnehin niemand verstanden hatte, warum sie nicht mit den anderen lachte. Wenn nur der Hunger und die Kälte nicht gewesen wären...
Als sich der nächste Abend goldrot über die Felder senkte, hörte sie die Stimmen.
Jemand rief ihren Namen. Sie antwortete nicht. Von Zeit zu Zeit hob sie den Kopf, lauschte den Stimmen, hörte die Hunde.
Zwei der Tiere erstürmten mit fliegenden Ohren die Lichtung und bellten Johannas Versteck an.
„Ich hab was gefunden!“, rief ein Mann und sein Gesicht ging in der hereinbrechenden Dunkelheit verloren. Die Hunde kläfften und hechelten, dass der Speichel von den Lefzen tropfte.
Sie verraten mich, dachte das Mädchen.
Die Leiter des Hochstandes vibrierte unter eiligen Tritten, dann tauchte der Kopf eines Mannes in Johannas Versteck auf.
„Sie ist hier!“ Seine Stimme klang erleichtert, als er die Worte über seine Schulter hinweg nach unten warf.
„Alles in Ordnung mit dir?“ fragte er das Mädchen und die sanfte Ruhe in seiner Stimme war angenehm. Doch Johanna ließ sich nicht davon täuschen. So nett er auch scheinen mochte, er war ein Mann und würde ihr nicht helfen. Er würde sie doch nur nach Hause zurückbringen. Er trug die Uniform eines Polizisten und man hatte ihm befohlen nach ihr zu suchen. Das war sein Job.
„Geht es dir gut?“ wiederholte er.
Nein. Jetzt nicht mehr...
Sie schüttelt den Kopf.
Mein Vater kommt nachts in mein Zimmer und... sollte sie das dem Polizisten sagen?
„Johanna!“ Sie erkannte die Stimme des Vaters und würgte.
Ein weiteres Gesicht erschien über dem Ende der Leiter. Sein Gesicht, umrahmt von verhassten, kraftlosen Locken.
Geh fort, hätte sie ihn am liebsten angezischt, doch sie hatte ihm noch nie widersprochen. Aber das würde sich jetzt ändern. Schlimmer konnte es nicht werden.
„Lass mich“, keuchte sie und ihre Stimme zitterte.
Einen Moment lang spürte sie seine Unsicherheit, ahnte, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Denn da war ja immer noch dieser Polizist, der jedes Wort hörte. Was, wenn sie die Wahrheit einfach herausschrie? Komm nie wieder nachts in mein Zimmer!
Ein mächtiger Gedanke, der mehr als nur ein Gedanke gewesen war, denn schon sprudelten die Worte aus ihrem Mund: „Komm nachts nie wieder in mein Zimmer!“
Der Vater erstarrte. Für einen Moment glaubte das Mädchen, er würde rückwärts die Leiter hinabstürzen. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte, denn der Teufel krallte sich an der letzten Sprosse fest, als hinge sein Leben davon ab (was wohl stimmte) und hatte sich sogleich wieder gefasst.
„Mein armes Mädchen“, zischelte er. „Du bist ja ganz durcheinander. Ich sage dir doch nur gute Nacht, wenn ich von der Arbeit komme.“ Es gelang ihm seiner Stimme einen zutiefst besorgten Unterton zu verleihen. „Ich weiß ja, dass du es im Moment schwer hast, meine Kleine. Deine Mutter ist so sehr mit deinem kleinen Bruder beschäftigt. Und auch ich habe kaum Zeit. Kein Wunder, dass du nach Aufmerksamkeit und Liebe schreist.“
Nein, nach deiner Art von Liebe würde ich niemals schreien, dachte Johanna und wusste doch, dass sie verloren hatte. Der kleine Bruder war erst drei Monate alt und es stimmte, dass die Mutter fast ausschließlich mit dem schreienden Baby beschäftigt war. Und spätestens jetzt würde sich der Polizist keine Gedanken mehr über ihre Worte machen.
„Hab keine Angst, wir sind dir nicht böse.“
Johanna starrte den Vater an und glaubte in seinen Augen zu lesen: Na warte, du kleines Miststück!
„Gut dass dir nichts passiert ist“, fuhr er unbeirrt fort. „Oder bist du böse, weil wir uns das neue Fahrrad nicht leisten konnten, das du dir gewünscht hast?“
Wovon redete er eigentlich?
„Wusste ich es doch, dass es darum geht“, erklärte er dem Polizisten nach Verständnis heischend, als Johanna nicht antwortete. Vor Verblüffung nicht antworten konnte.
Der Uniformierte nickte mitleidvoll.
„Du bekommst ein Fahrrad. Dann werden deine Mutter und ich eben auf etwas anderes verzichten. Und jetzt komm, Johanna. Hab keine Angst, ich halt dich fest.“
Johanna war schwindlig. Es fühlte sich an, als würde ihr Magen von einer eisernen Hand zerdrückt.
Bitte Herr Polizist, verstehen Sie denn nicht...?
Doch der Mann verstand kein bisschen, sondern zog das fassungslose, verzweifelte Mädchen auf die Beine und schob es in die Arme des Teufels. Einen Moment lang war Johanna versucht sich auf den Vater zu stürzen und die Leiter ins Schwanken zu bringen. Doch der Gedanke, mit ihm gemeinsam zu sterben und vielleicht gemeinsam in einem Grab liegen zu müssen bis ans Ende aller Zeit, war unerträglich.
Stattdessen wehrte sie sich mit Worten, Händen und Füßen.
„Lass mich los. Ich komme nicht mit dir mit, ich will nicht...“
Mitleidig und ein bisschen verlegen schaute der viel zu junge Polizist den Vater an. Dann lächelte er schief und zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Um dieses Kind sind Sie nicht zu beneiden, Herr Darkowski.
Er hatte die selbst zugefügten Wunden an Johannas Armen und Beinen nicht bemerkt. Oder hatte er sie gar nicht sehen wollen?
Von da an wurde Johanna ein anderes Kind. Das nette Mädchen war fort, war irgendwo in den Wäldern auf immer verschwunden. Statt ihrer hatten die Eltern eine Furie zurückbekommen. Das Mädchen hatte Geschmack daran gefunden sich zu wehren. Johanna war bockig, launisch, verräterisch und provozierend. Als wäre etwas vom Geist des Waldes auf sie übergegangen, als spürte sie tatsächlich den Wolf in sich. Das war die einzige Möglichkeit, so hoffte sie, den unerträglichen Nächten zu entkommen.
„Was ist nur los mit dir zum Teufel?“ fragte die Mutter. Zum Teufel ja, wusste sie das wirklich nicht?
Sie war dem Vater hörig, sie war zu schwach um zu sehen, wie ihr eigenes Kind vor die Hunde ging, das sollte Johanna erst viele Jahre später begreifen.
Doch noch war Johanna ein an Gerechtigkeit glaubendes und hoffendes kleines Mädchen, das auf die passende Gelegenheit wartete, sich der Mutter endlich zu offenbaren. Mehrmals schon hatte sie versucht ihr klar zu machen, was unter ihrem Dach eigentlich vor sich ging. Aber die Mutter hatte alles als einen Akt der Eifersucht gedeutet, mit dem Johanna auf das Geschwisterchen reagiere.
„Hör auf mit deinen Lügen“, hatte die Mutter sie angefahren. „Das ist doch alles nicht wahr. Wann kannst du endlich begreifen, dass du dich in die Familie einfügen musst? Die Welt dreht sich nicht um dich allein!“
In diesem Moment hatte Johanna endgültig begriffen, das von der Mutter keine Hilfe zu erwarten war. Und das dieser Frau längst die Kontrolle über ihr eigenes Leben aus den Händen geglitten war. Wahrscheinlich ahnte die Mutter nicht einmal, dass sie längst auf einem Berg aus Trümmern saß.
Johanna wunderte sich später darüber, dass sie trotz dieser Erkenntnis kein Mitleid mit dieser Frau empfinden konnte, die ihr als Mutter über die folgenden Jahre völlig fremd geworden war. Vielleicht war sie damals, im Alter von zehn Jahren, auch noch gar nicht in der Lage gewesen Mitleid zu empfinden. Schon gar nicht mit sich selbst.
Als der Vater das nächste Mal bei Nacht in Johannas Zimmer kam, war sie darauf vorbereitet. Sie hatte beschlossen, aus ganzer (wenn auch erstorbener) Seele zu schreien, wenn er wieder vorhatte sie anzurühren. Dafür hatte sie bereits das Fenster geöffnet, auch wenn es dadurch eiskalt geworden war. Doch sie wollte, dass ihre Schreie wie schwarze Vögel ungehindert ins Freie gelangen konnten. Sie wollte, dass ihr Leid und ihre Qual auf der Straße und in der Nachbarschaft gehört würden, und zwar von so vielen Menschen wie möglich. Sie wollte, dass die nette alte Frau im Nebeneingang ihre Schreie hörte, auch der junge Mann mit den langen Haaren, der mit seinem Freund in einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnte. Sie wollte, dass auch ihre Mutter aufwachte. Nur ihren kleinen Bruder Paul aus dem Schlaf zu reißen würde ihr leidtun. Aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen.
Als der Vater bei ihr war, tat sie, was sie sich vorgenommen hatte und schrie, als ginge es um ihr Leben. Und vielleicht ging es auch darum.
„Hilfe! Fass mich nicht an! Hilfe! Ich hasse dich...“
Cornelius Darkowski war in einer Schrecksekunde erstarrt und wirkte für einen Moment hilflos, bevor er schließlich reagieren konnte. Nach Kräften presste er seine riesigen Hände auf Johannas Gesicht, verschloss ihr Lippen und Nase, so dass sie zu ersticken glaubte. War es laut genug gewesen, fragte sie sich? Hatte auch nur ein einziger Mensch ihren Hilfeschrei gehört?
Verzweifelt umklammerte sie die einzelnen Finger jener Hand, die stählern und unbarmherzig ihren Mund verschloss. Eine Männerhand fortzuschieben fehlte ihr die Kraft, vergebens bohrte sie ihre noch viel zu weichen Nägel in die feste Haut. Der Teufel schien das gar nicht zu spüren. Johanna konnte kaum noch atmen, wurde schwächer. Bald wurde ihr schwarz vor Augen und wenn ihr Peiniger nicht losließ, würde sie die Besinnung verlieren.
Da schwang die Tür auf.
„Was ist denn passiert? Ich habe etwas gehört...“ verschlafen und schwankend vor Müdigkeit stand die Mutter im Türrahmen. Verwirrt schaute sie sich um und rieb sich fröstelnd die nackten Arme. „Mein Gott, Mädchen, wie kalt es hier ist. Was fällt dir ein das Fenster aufzureißen? Wir heizen doch nicht für die Umgebung und überhaupt, willst du dir den Tod holen?“
Augenscheinlich erfasste sie die Situation nicht ansatzweise. Sie fragte nicht, was ihr Mann im Zimmer der Tochter zu suchen hatte. Sie fragte nicht, warum Johanna geschrien hatte. Und bevor Charlotte Darkowskis Denken endlich einsetzen konnte (ihr Mädchenname war Engelhardt gewesen), kam ihr Mann Cornelius ihr zuvor.
„Hanna ist in einem schwierigen Alter. Ich wollte mir gerade ein Glas Milch aus der Küche holen und nochmal nach ihr sehen. Schließlich mache ich mir Sorgen um sie, seit sie weggelaufen ist. Als ich ins Zimmer kam, wollte sie gerade aus dem Fenster steigen um wieder abzuhauen.“ Er hob, seine Frau milde anlächelnd, beide Schultern.
„Ach, deshalb steht das Fenster sperrangelweit auf“, brummte Charlotte und kratzte sich abwesend die Stirn. Dann kam sie einen Schritt näher, während der Vater das Mädchen losließ. Sie betrachtete ihre Tochter, die nur mit einem dünnen, ziemlich verschlissenen Schlafanzug bekleidet war. Ärmel und Hosenbeine sind ja viel zu kurz, dachte sie verwirrt. Wann war ihre Tochter so sehr in die Länge geschossen? Und außerdem, hatte sie sich schon wieder neue Schnitte mit der Rasierklinge beigebracht? Deswegen würde sie langsam etwas unternehmen müssen.
„In diesem Aufzug wolltest du abhauen, Johanna?“
Kopfschüttelnd lehnte die Mutter sich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand. Sie sah sehr müde aus. Vielleicht durfte Johanna gar nicht streng mit ihrer Mutter sein. Vielleicht war sie wirklich viel zu beschäftigt, um das Mädchen so wie früher wahrzunehmen. Aber war das nicht ihre Aufgabe als Mutter? Immer darauf zu achten, wie es dem Kind ging?
Johanna sagte nichts. Was hätte sie auch sagen sollen? Jedes Wort von ihr würde ungehört zu Boden fallen und entweder von ihrer überforderten Mutter oder dem unberechenbaren Vater zu Tode getrampelt werden.
„Naja“, fuhr Cornelius schließlich mit seiner unverschämten Lügerei fort, „also habe ich Hanna gerade noch vom Fensterbrett geschnappt und da hat sie geschrien, als würde ich ihr ans Leben wollen!“
Ans Leben vielleicht auch eines Tages, dachte Johanna. Ein Gedanke, der nicht zu einer Zehnjährigen passen wollte. Aber Johannas Seele war längst der Kinderstube entwachsen, es war ihr gar nichts anderes übrig geblieben.
„Ich musste ihr den Mund zuhalten, sie hätte sonst die ganze Nachbarschaft aus den Betten geschrien. Außerdem war die Polizei doch erst vor kurzem im Haus.“ Er bedachte das Mädchen mit einem beinahe versöhnlichen Blick, während er seiner Frau vom Bett aus die Hand entgegen streckte. Die Mutter machte niedergeschlagen ein paar langsame Schritte auf ihren Mann und ihre Tochter zu. Johanna hockte verängstigt in der hintersten Ecke ihres Bettes, auf ihrem Gesicht leuchtete der Handabdruck des Vaters tiefrot.
„Das kann doch so nicht weitergehen“, flüsterte Charlotte Darkowski und räusperte sich. Sie versuchte, der Tochter über die Wange zu streichen, doch das Mädchen zuckte zurück. „Vielleicht sollten wir einen Arzt aufsuchen, einen Psychologen?“
Cornelius wirkte erneut verunsichert.
„Unsinn, einen Arzt brauchen wir ganz bestimmt nicht! Damit würden wir doch nur zugeben, dass wir mit dem Kind nicht zurechtkommen. Willst du das wirklich, Charlotte?“
Johanna konnte sich gut vorstellen, warum der Vater sie nicht einem Arzt vorstellen wollte. Ein Psychologe würde vielleicht Verdacht schöpfen und wissen wollen, wie die Seele des kleinen Mädchens zu Schaden gekommen war.
„Nein, natürlich will ich das nicht“, antwortete die Mutter. „Ach Hanna, ich wünschte, ich könnte verstehen, was in dich gefahren ist“, flüsterte die Mutter heiser.
In mich?, dachte Johanna. War sie für Zynismus nicht viel zu jung?
„So kenne ich dich gar nicht, Hanna. Wieso kannst du dich nicht endlich in die neue Situation mit deinem kleinen Bruder einfügen?“
Darum. Keine Antwort.
„Was sollen wir bloß mit dir machen?“
Mich in Ruhe lassen und ganz normale Eltern sein, aber das könnt ihr nicht.
Cornelius Darkowski erhob sich und schloss das Fenster. Im Zimmer herrschten nun beinahe Minusgrade. Verständnisvoll legte er den Arm um seine Frau und sagte: „Komm Charlotte, lass uns wieder schlafen gehen. Es bringt nichts, wenn wir uns die Nacht um die Ohren schlagen. Wir können morgen nochmal ganz ausgeschlafen über alles reden. Oder Hanna? Das Fenster bleibt zu, okay? Also schlaf jetzt und sei ein braves Mädchen!“
Johanna rührte sich nicht. Noch weiter konnte sie nicht zurückweichen, sie saß schon mit dem Rücken zur Wand und musste zulassen, dass die Mutter sie flüchtig auf die Stirn küsste.
„Ja, schlaf gut, meine Kleine. Und mach uns keinen Kummer mehr, bitte.“
Reglos starrte das Mädchen ihren Eltern nach, wie sie das Zimmer verließen und die Tür schlossen. Kurz darauf verlosch das Licht im Flur, das noch für kurze Zeit durch den Türspalt gedrungen war, dann war es still. Ganz so, als wäre nichts geschehen.
Aber das filmreife Theater des Vaters hatte Johanna auf eine Idee gebracht. Eigentlich hatte sie durch Schreien lediglich auf sich aufmerksam machen wollen. Aber wieso tat sie nicht einfach, was der Vater ihr unterstellt hatte? Wieso lief sie nicht einfach ein weiteres Mal davon und diesmal wirklich für immer? Damit würde sie mit Sicherheit genauso viel Aufmerksamkeit erregen, vielleicht mehr noch als mit bloßem Schreien. Aber dieses Mal musste sie es schlauer anstellen. Sie musste ihre Flucht planen, durfte weniger kopflos davonrennen. Sie musste überlegt handeln. Schließlich war sie – jedenfalls der entscheidende Teil von ihr – kein Kind mehr.
*
Johanna verließ das Haus wie jeden Morgen. Sie gab vor zur Schule zu gehen. Doch an diesem Tag würde sie nicht in den Bus steigen, sondern verbarg sich in einem verwilderten Garten unweit des Elternhauses. Von dort aus sah sie den Bus davonfahren.
Sie wartete ab, bis die Mutter das Haus verließ, Johannas kleinen Bruder Paul schob sie im Kinderwagen vor sich her, und auch der Vater sich auf den Weg in die Stadt gemacht hatte. Ganz gegen seine Behauptungen ging er keiner Arbeit nach, dafür hatte er eine Menge Kumpane, mit denen er sich nur zu gern die Zeit vertrieb. Da war sich Johanna ganz sicher, hätte aber nicht sagen können, woher sie es wusste.
Doch zurück zum Plan: Alle würden annehmen, das Johanna in der Schule war. Bis auffiel, dass sie schwänzte, würden ein paar Stunden vergehen. Wenn das überhaupt auffiel. Wahrscheinlich würde die Mutter ihr Verschwinden erst am Nachmittag bemerken. Bis dahin musste sie fort sein, weit fort.
Johanna kroch aus den Büschen hervor und ging noch einmal zurück zum Haus. Sie zog ihren Hausschlüssel aus der Tasche und trat ein. Im Haus roch es nach verbrauchter Luft, irgendwie abgestanden. Außerdem roch es nach dem Baby, dem Bier und ein wenig modrig nach Wäsche, die zu lange feucht in der Maschine gelegen hatte. Johanna schob einen Stuhl an den Küchenschrank, leerte die Blechdose mit der Haushaltskasse. Viel war nicht drin, knapp fünfzig Mark. Aber sie war noch zu jung, um den Wert des Geldes einzuschätzen. Danach kletterte sie wieder vom schäbigen Bezug herunter, schob den Stuhl an den Tisch zurück und eilte in ihr Zimmer. Sie sah sich ein letztes Mal um, nahm Abschied von den bescheidenen Besitztümern, die sie nicht mitnehmen konnte. Sie angelte ihr verhalten klapperndes Sparschwein vom Regal und legte es in die kleine, schmutzig rosa Sporttasche, deren Reißverschluss schon eine Weile kaputt war. Dann öffnete sie die Kleiderschublade, warf zwei Pullover, eine frische Jeans und Socken in die Tasche, dazu noch das Handtuch mit dem Wolfsmotiv drauf, ohne sich etwas dabei zu denken. Außerdem packte sie noch ein zweites Paar Schuhe ein und eine weitere dicke Jacke. Sie prüfte das Gewicht der Tasche, schulterte sie und betrat ein letztes Mal die Küche, um Brot aus dem Kühlschrank zu nehmen, ein Glas Nutella aus dem Vorrat, zwei Tafeln Schokolade, eine Flasche Wasser. Jetzt war die Tasche schwer, mehr konnte sie nicht tragen. Sie war schon an der Tür, als sie sich noch einmal umwandte, sich zwei Äpfel griff und die Taschenlampe, die immer im Flurschrank lag, für den Fall das der Strom ausfallen würde – oder abgeschaltet wurde. Auch das war schon vorgekommen seit Cornelius Darkowski nicht mehr zur Arbeit ging.
Johanna verließ das Haus und hielt auf die Bushaltestelle zu. Es war gegen neun Uhr vormittags und niemand schöpfte Verdacht, als das junge Mädchen eine Fahrkarte bis zum Bahnhof löste.
Dort stieg sie, um Geld zu sparen und weil sie kein genaues Ziel hatte, ohne Fahrschein in den nächstbesten Zug, von dem sie nicht wusste, wohin er sie bringen würde. Sie fuhr jeweils nur wenige Stationen weit, bis sie befürchtete, in eine Fahrkartenkontrolle zu geraten und nahm dann wieder einen anderen Zug.
Am frühen Nachmittag hatte sie keine Ahnung mehr, wo genau sie sich eigentlich befand, aber sie hatte das Gefühl, fürs erste weit genug von zuhause fort zu sein. Dass sie nicht wusste, wo sie war, spielte dabei keine Rolle.
Sie hielt nach einer Gartensiedlung Ausschau und wollte dort nach einem Geräteschuppen suchen, der nicht abgeschlossen war. Darin konnte sie sich ausruhen und die Nacht verbringen. Am nächsten Morgen würde sie dann entscheiden, ob sie noch weiter mit verschiedenen Zügen ins Land hinaus fahren wollte oder sich in der Nähe ein Quartier suchen würde, in dem sie länger blieben konnte. Vielleicht hatte sie Glück und fand ein schlecht gesichertes Gartenhäuschen, in dem sie mit Holz und Tannenzapfen den Ofen anfeuern konnte, um sich vor der Welt zu verstecken, bis sich der nächste Schritt ergeben würde. Schließlich ging es immer irgendwie weiter, auf jede Nacht folgte ein neuer Morgen, der eine neue Chance in sich bergen konnte, die man nur finden und ergreifen musste. Johanna tagträumte, dass es irgendwo eine Familie geben würde, die sie ohne Fragen aufnehmen und als gleichwertiges Mitglied anerkennen würde. Sie sah eine gutgekleidete Frau vor sich, vielleicht eine Ärztin, die sich schon immer eine Tochter wie sie gewünscht hatte. Sie malte sich aus, neue Kleider zu bekommen, wieder zur Schule zu gehen, eines Tages eine berühmte Sängerin zu werden. Sie hatte immer gern gesungen bis zu jener Nacht, als sie in ihrem Zimmer für immer verstummt war. Der Teufel in Menschengestalt hatte all ihre unbeschwerten, fröhlichen Melodien mitgenommen. Wahrscheinlich würde sie sie niemals wieder finden.
Unter einem Dachverschlag, der voller Feuerscheite gestapelt war, verbrachte Johanna den Abend. Sie aß sparsam von ihrem Brot, vertilgte einen Apfel, trank von dem Wasser, das ziemlich kalt war und an ihren Zähnen schmerzte. Sie ärgerte sich, dass sie nicht daran gedacht hatte eine Decke mitzunehmen und rollte sich zur Nacht in ihre zweite Jacke und das Handtuch ein. Sie schlief unruhig, viel schlechter als in der Nacht auf dem Hochstand. Vielleicht lag das daran, dass sie sich hier am Boden weniger sicher fühlte. Ständig befürchtete sie, jemand könnte vorbeikommen und sie entdecken. Dann schreckte sie auf, weil etwas im Holz hinter ihr geraschelt hatte und später, weil etwas auf dem Dach des Verschlages polterte. Ein anderes Mal, weil sich vor ihr in der Dunkelheit etwas bewegte. Vielleicht waren das Marder oder Katzen, vielleicht Mäuse oder Blindschleichen im Gras. Jedenfalls war sie froh, als es endlich dämmerte, der Tag graute und schließlich die Sonne aufging.
ren und sei es nur, um sich etwas aufzuwärmen.