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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-150-8
Ostern lag schon eine Woche zurück, aber erst heute, an einem ganz gewöhnlichen Wochentag, schien die Sonne so, wie alle es ungeduldig erwarteten. Und darum setzte sich Kurt Traubnitz, der Verwalter des Gutes Erlenfeld, auch einfach auf die Fensterbank, mitten ins warme Frühlingslicht, und sah dort die Post durch.
Gertrud Meister, die zweimal wöchentlich im Büro als Schreibkraft aushalf, musste über ihn lächeln, eine Bemerkung allerdings wagte sie nicht. Herr Traubnitz konnte manchmal in schlechter Stimmung sein. Da aber geschah ein Wunder. Denn der Verwalter schaute jetzt auch zu ihr hinüber und erwiderte ihr Lächeln. Gertrud, erst zweiundzwanzig und leicht in Verlegenheit zu bringen, wurde knallrot.
»Herrliches Wetter heute, nicht?«, schmunzelte er. »Man sieht Ihrem Lächeln an, wie gut Ihnen die Sonne in den Tag passt. Oder freuen Sie sich auch so auf die Ankunft von Frau Hillmer und der kleinen Anka?«
»Die kenne ich doch gar nicht!«, meinte Gertrud unsicher.
»Sie werden sie kennenlernen. Meine Frau und Frau Schäfer sind schon unterwegs zum Flughafen in Hamburg. Die beiden kommen ja aus Buenos Aires.« Dann konzentrierte er sich auf einen Brief und fügte kurz darauf hinzu: »Kennen Sie Herrn Stefan Berger?«
Gertrud lächelte nun doch wieder. »Den kennt doch fast jeder. Ich auch, aber nicht persönlich. Er ist dieser Textilunternehmer, der jetzt auf seinem Grundstück bei Loberg wieder eine neue Fabrikhalle baut. Fast«, setzte sie hinzu, »wäre ich bei ihm als Stenotypistin untergekommen. Aber er braucht keine Teilzeitkräfte. Und mein Mann wollte nicht, dass ich ganztags arbeite.«
Kurt Traubnitz mochte nur etwas über vierzig sein. Er war groß und kräftig gebaut, hatte mittelblondes, an den Schläfen leicht ergrautes Haar. Gertrud merkte schon, dass er heute sehr gut aufgelegt war, denn nun grinste er noch mehr.
»Dafür braucht er jetzt einen Stall, wo er für ein halbes Jahr seine drei Reitpferde unterstellen kann. Tja, wir haben ja keine Pferde mehr und auch keinen Stall, der sich dafür eignet. Schreiben Sie ihm, es tut uns leid, ihm nicht behilflich sein zu können.« Er legte den Brief neben ihre Maschine und wandte sich der anderen Post zu.
»Soll ich ihm nicht gleich vorschlagen, es mal bei der Familie Groß zu versuchen?«
Kurt stutzte. »Bei den Großens, denen wir das Kutscherhaus, zwei Koppeln und den großen Stall verpachtet haben? Wie soll denn das vor sich gehen? Den Stall brauchen sie für ihre Schafe und Karnickel.« Er überlegte einen Moment. »Sind eigentlich die Pachtbeträge für das erste Vierteljahr von den Großens eingegangen?«, erkundigte er sich dann.
Gertrud nickte.
»Es geht der Familie nicht gut. Bis sich die Schafzucht wirklich rentiert, werden noch einige Jahre ins Land ziehen. Nein, Frau Meister, erwähnen Sie nichts von den an die Großens vermieteten Stallungen. Herr Berger soll selbst eine andere Lösung finden.«
Da ging die Tür auf. Tessa Traubnitz kam ins Büro. Wie meistens trug sie auch heute einen dunkelgrünen Overall, der mit einem sehr einfachen Gürtel in der Taille zusammengehalten war.
»Du bist noch hier?«, fragte Kurt Traubnitz seine Frau verwundert. »Aber ich sah den Wagen von Mutter doch schon aus dem Gutshof fahren.«
»Ich habe sie nicht begleitet, Kurt, wie du siehst. Meine reizende Schwester Beate und ihre Tochter Anka kommen mir noch früh genug unter die Augen.« Ihr schmales Gesicht verriet angespannte Neugier, als sie dann fortfuhr: »Von wem hast du gerade gesprochen? Von Herrn Berger?«
Gertrud erhob sich sofort und reichte ihr den Brief. Und kaum hatte Kurt einige erklärende Worte hinzugefügt, reichte Tessa das Schreiben mit einem mokanten Lächeln zurück.
»Soll er sehen, wo er seine Pferde unterbringt. Wir wollen nichts mit ihm zu tun haben, Kurt.«
»Du kennst ihn also?«
»Er ist ein furchtbarer Mensch, ein Playboy, ein Nichtsnutz, ein Emporkömmling. Mein Vater hat ihn verachtet, meine Mutter ließ ihm vor Jahren, nachdem mein Vater gestorben war, einen Brief zukommen, in dem sie ihn bat, unseren Grund und Boden nicht mehr zu betreten. Seitdem herrscht Ruhe. Woher der Mann die Frechheit nimmt, einen Brief an uns zu schreiben, ist mir ein Rätsel.«
Kurt trat auf seine Frau zu.
»Das muss fast zehn Jahre her sein. Vielleicht hat er es vergessen.«
Tessa Traubnitz, geborene Schäfer, war eine kühle Schönheit. Trotz ihrer großen braunen Augen und den vollen Lippen lag ein leicht bitterer Zug auf ihrem Gesicht. Das Personal fürchtete ihre Unduldsamkeit, ihre Mutter Margaret Schäfer mied ihre Gegenwart, wann immer es möglich war. Zwar kam es nie zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden, aber keinem im großen Gutshaus blieb doch verborgen, welch eisige Atmosphäre zwischen den beiden herrschte.
»Ich habe es nicht vergessen, Kurt«, erwiderte sie spitz und verließ den Raum.
Sie durchquerte die hohe Halle und ging dann langsam die breite Eichentreppe in den ersten Stock. Im östlichen Seitenflügel befand sich die Wohnung des Ehepaars Traubnitz, auf der anderen Seite bewohnte ihre Mutter drei Zimmer. Daran ging sie jetzt vorbei, bis sie die etwas schmalere Treppe erreichte, die in den zweiten Stock führte.
Hier wohnten die Dienstboten. Senta, die Haushälterin, die schon seit zwanzig Jahren bei den Schäfers arbeitete und wie zur Familie gehörte, sowie der alte Karl, der längst auf Rente war, sich aber doch noch immer im Betrieb nützlich machte. Ein kleines Zimmer mit schrägem Dach war Toni, dem landwirtschaftlichen Praktikanten, zugewiesen worden.
»Guten Morgen, Frau Traubnitz!«
Rita Stolz, eine junge Frau aus dem Dorf, kam täglich, um die gröberen Arbeiten im Gutshaus zu verrichten und um der alten Senta zur Hand zu gehen. Sie war eine immer fröhliche Person und lachte Tessa nun entgegen, als sie sich auf der schmalen Treppe begegneten.
»Ich habe oben in die drei kleinen Räume für Ihre Schwester noch Blumen gestellt. Die Tulpen im Garten sind noch nicht aufgeblüht. Ich habe welche aus dem Treibhaus geholt.«
»Wer hat Ihnen das erlaubt, Rita?«
»Erlaubt? Frau Schäfer bat mich darum. Sie kam nicht mehr dazu. Und die Räume für ihre Schwester und die kleine Anka sollen doch so hübsch wie möglich hergerichtet werden.«
Tessa erwiderte nichts, sondern ging weiter nach oben. Vor fünf Wochen war der entscheidende Brief ihrer Schwester Beate Hillmer aus Buenos Aires eingetroffen. Er hatte Tessas Leben entscheidend verändert. Nichts konnte sie mehr freuen oder erheitern. Fast stündlich durchfuhr sie ein Gefühl der Angst oder der Verbitterung.
Warum kam Beate zurück? Wie konnte es sein, dass die kleine Anka, deren Geburt doch so viel Unglück über sie gebracht hatte, von nun an hier leben sollte? Ihre Gegenwart würde sie doch immer an Ottmar, den verstorbenen Vater des Kindes, erinnern. Anka würde sie ständig dazu veranlassen, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Ihre Gedanken mussten in die Zeit zurückwandern, da Ottmar und sie ein glückliches Liebespaar gewesen waren und schon Zukunftspläne geschmiedet hatten.
Bis Beate sich mit allen Mitteln an ihn herangemacht, ihn verführt und schließlich sogar ein Kind von ihm erwartet hatte. Woher nahm ihre Schwester nur den Mut, mit diesem Kind, der kleinen Anka, wieder auf Gut Erlenfeld zurückzukehren?
Sie betrat die Räume, die für Mutter und Kind vorbereitet waren. Das kleine Mittelzimmer sollte ihr Wohnraum sein, daran schlossen sich jeweils ein Schlafzimmer. Das Bad gegenüber war neu installiert worden, und gleichzeitig hatte man einen Teil für eine winzige Kochnische abgeteilt. Eine Unmenge Geld hatte das alles gekostet!
Aber Beate, oberflächlich, kokett und immer fröhlich, war ja seit jeher der Liebling ihrer Mutter gewesen. Was auch immer sie anstellte, die Eltern haften ihr verziehen. Nicht einmal Wilhelm Schäfer, nun seit acht Jahren verstorben, hatte sich, wenn es um die hübsche Beate ging, an seine Prinzipien gehalten.
Und so hatte die Familie vor zehn Jahren schweigend vor Betroffenheit und wie gelähmt vor Schrecken, widerstandslos hingenommen, dass Ottmar sich von ihr, Tessa, abwandte und heimlich hinter ihrem Rücken Beate heiratete. Nun ja, weil Anka eben unterwegs war. Anka, dieses Unglückskind!
Sie beugte sich aus dem offenen Fenster. Von hier aus reichte der Blick über die Koppeln und Wiesen zu dem reichlich schäbigen Anwesen der Familie Groß. Im Licht der Sonne wirkte das alte Kutscherhaus mit dem Stall daneben nicht ganz so heruntergekommen. Das frische Grün legte sich wie ein zarter Schleier über das schmutzige Grau der Hauswand.
Tessa seufzte. Von Anfang an hatte sie sich gegen den Pachtvertrag mit der Familie Groß gewehrt. Was war von einem so jungen Ehepaar mit drei Kindern schon zu erwarten? Konnten die nicht froh sein, wenn sie ihre beiden Buben und das neugeborene Mädchen satt bekamen?
Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Aber sie spürte die Wärme nicht. Ihr Inneres befand sich einem Zustand von bitterer Kälte. Und da war es nur ein schwacher Trost, wenn sie sich jetzt noch für wenige Stunden als alleinige Herrscherin auf dem Gut fühlen konnte.
*
»Wo ist Anka geblieben?«, fragte Margaret Schäfer, kurz nach der überaus herzlichen Begrüßung mit ihrer Tochter Beate.
Noch standen sie im dichten Gedränge der gerade angekommenen Passagiere in der Flughafenhalle. Margaret Schäfer aber geriet schon in Panik. Innerhalb von Sekunden musste ihnen die kleine Anka abhanden gekommen sein.
»Sie ist mit der Familie Goarez in die Ladenstraße gegangen, Mutter. Ich habe es ihr erlaubt. Wir trafen die Familie zufällig im Flugzeug. Und da Anka den kleinen Fernando kannte, wollten ihr seine Eltern ein Abschiedsgeschenk kaufen. Sie wussten nicht, dass wir Buenos Aires für immer verlassen.«
Margaret Schäfer hatte diesen Tag kaum erwarten können. Jetzt atmete sie erleichtert auf. Und während Beate die Gepäckstücke zählte, betrachtete sie ihre Tochter etwas genauer.
Beate trug immer noch Schwarz, aber da sie blondes Haar hatte, stand ihr das ausgezeichnet. Sie sah auch nicht so elend und bekümmert
aus, wie Margaret es befürchtet hatte.
»Fünf Koffer und zwei große Taschen«, hörte sie Beate einem Dienstmann mit fahrbarem Untersatz erklären. »Bringen Sie es in den Wagen meiner Mutter. Er steht auf dem Parkplatz.« Sie hielt ihr die Hand hin, Margaret legte den Autoschlüssel hinein und nannte das Kennzeichen. »Den Schlüssel«, fuhr Beate fort, »geben Sie dann an der Bar ab. Dort erwarten wir Sie.«
Der Mann schob mit dem Gepäck ab.
»An der Bar?«, fragte Margaret erstaunt.
»Ja, Mutter. Dort sind wir mit der Familie Goarez verabredet. Sie werden Anka dorthin zurückbringen.«
So war Beate ja immer gewesen. Schnell entschlossen und zu jeder Abwechslung bereit. Sie nahm den Arm ihrer Mutter, presste ihn an sich, lachte und zog sie mit sich.
»Hör mal, Beate«, begann Margaret Schäfer, als sie ihre etwas rundliche Gestalt auf den Barhocker gehievt und eine Tasse Espresso vor sich stehen hatte, »es ist ganz gut, dass wir jetzt schon allein sind. Ich muss dir etwas sagen.«
»Ich weiß schon, Mutter. Ottmar ist seit einem Jahr tot. Du glaubst, ich könne die schwarze Kleidung jetzt in den Kleiderschrank verbannen.«
»Nein, mein Kind.« Margarets Augen wurden feucht. Sie hatte ihren Schwiegersohn Ottmar Hillmer in allerbester Erinnerung. Und die Nachricht von dem Unglück, bei dem er ums Leben gekommen war, hatte sie schwer getroffen. »Du musst die Trauerkleidung tragen, bis dein Herz seinen Tod überwunden hat. Ihr wart so glücklich. Ottmar war ein so liebevoller Ehemann und Vater.«
»Er war in erster Linie ein Mann, auf den man sich verlassen konnte, Mutter.«
Margaret Schäfer horchte auf. Mit ihren zweiundsechzig Jahren war sie noch weit von dem Alter entfernt, in dem einige Menschen fürchten, die Welt nicht mehr zu verstehen. Jetzt aber stellten sich ihr unzählige Fragen, aber nur eine davon richtete sie an Beate: »Du hast ihn doch geliebt?«
»Geliebt? Selbstverständlich. Ottmar brachte mir ungeheuer viel bei. Auf seine Veranlassung studierte ich ja noch und wurde seine Assistentin. Wenn er noch lebte, Mutter, könnte ich immer noch am Institut in Buenos Aires arbeiten.«
»Warum denn jetzt nicht mehr?«
Beate zuckte mit den Schultern. »Als junge Witwe hat man es dort drüben schwer. Ist es eigentlich das, was du mit mir unter vier Augen besprechen wolltest?«
»Nein, nein«, entgegnete ihre Mutter milde. »Es geht um Anka. Als ich sie auf mich zustürmen sah und sie dann in den Armen hielt, Beate, da war ich überglücklich, endlich mein einziges Enkelkind bei mir zu haben. Nur fürchte ich, sie wird sich nicht leicht auf Gut Erlenfeld einfügen. Weißt du, ihre Kleidung passt so gar nicht zu uns aufs Land und zu den Kindern im Dorf.«
In einem zinnoberroten Mäntelchen mit Glockenrock und pelzbesetzter Pelerine war Anka ihr entgegengeeilt. Dazu hatte sie ein gleichfarbiges Hütchen auf das goldenschimmernde Blondhaar gestülpt. Und dessen pelzbesetzte Krempe war noch mit einem Schleifchen dekoriert. Aber nicht nur wegen des Hütchens hatte Anka viele Blicke auf sich gezogen.
Margaret wusste nicht, ob sie schmunzeln oder stöhnen sollte. Denn Anka trug ja auch noch goldfarbene Strümpfe und Schuhe aus Lackleder dazu, die mit goldenen Agraffen verziert waren. Wie sollte sich die Neunjährige unter ihren zukünftigen Spielkameraden und Mitschülern einfügen? Man würde sie hänseln oder nicht ernst nehmen und sie früher oder später in die Rolle einer Außenseiterin drängen.
»Du denkst an das Mäntelchen und Hütchen dazu?«, erriet Beate und bedachte ihre Mutter mit einem belustigten Blick. »Das habe ich ihr extra für die Reise gekauft. Bei uns beginnt ja jetzt die kalte Jahreszeit. Und Anka sollte etwas bekommen, das ihr den Abschied von Buenos Aires und ihren vielen Freunden erleichtert.
»Hat sie noch mehr von solchen auffallenden Kleidungsstücken?«
»Natürlich. Anka war doch unser Prinzesschen. Sogar noch nach Ottmars Tod wurde sie weiterhin zu den vielen Kinderfesten eingeladen. Du darfst nicht vergessen, welchen Ruf Ottmar als Professor an der Universität genoss. Alle rissen sich um uns. Anka hatte Reit- und Klavierunterricht, sie spielte Tennis und bekam Tanzstunden. Einmal wurde sie sogar zur Königin des Kinderballs erwählt.«
Vor sechs Jahren, nachdem ihre älteste Tochter Kurt Traubnitz geheiratet hatte, war Margaret bei Beate, ihrem Mann und der damals vierjährigen Anka in Buenos Aires zu Besuch gewesen. Schon bei diesem Aufenthalt hatte sie feststellen müssen, dass das Leben ihrer Tochter mit dem auf Gut Erlenfeld überhaupt nicht zu vergleichen war.
Die Hillmers wohnten in einer riesigen Villa inmitten eines weitläufigen Parks, und das ganze Haus schien nur so von dienstbaren Geistern zu wimmeln. Kaum ließ man sich in einem der Salons sehen, tauchte auch schon jemand auf leisen Sohlen auf und fragte nach den Wünschen oder servierte ohne jeglichen Anlass Drinks, Tee oder Kaffee.
»Bei uns auf Gut Erlenfeld gibt es das nicht, Beate. Anka wird ein ganz anderes Leben führen müssen.«
Beate lachte. Sie hatte auffallend blaue leuchtende Augen, ein noch sehr junges Gesicht und einen wunderschön geformten Mund, auf dem fast jede ihrer Regungen abzulesen war. Der schien nur dafür geschaffen, mit seinem Lachen alle Anwesenden in gehobene Stimmung zu versetzen.
»Sorg dich doch nicht, Mutter! Ganz anders wird es sein. Anka und ich wollen uns bemühen, das gesamte Leben auf dem Gut umzukrempeln. Sind die Räume immer noch so schlicht eingerichtet? Stehen immer so viele Möbel aus dem Haushalt unserer Großeltern herum?« Sie lachte. »Tessa wird sich auch nicht viel verändert haben. Mehr als einmal jährlich sucht sie den Friseur nicht auf, stimmt’s?«
Dann schüttelte Beate ihre blonde Mähne mit einer übermütigen Bewegung in den Nacken.
»Tessa arbeitet viel, Beate. Sie leitet die Rinderzucht. Vergiss doch nicht, dass sie ausgebildete Tierärztin ist!«
Beate beeindruckte das wenig. »Und ihr Mann? Dieser Kurt? Ist er wenigstens charmant?«
»Beate, bitte!«, stieß Margaret warnend aus. Aber weiter kam sie nicht. Jetzt stürmte Anka durch die Halle auf die Bar zu. Sie hielt einen babygroßen rosafarbenen Teddy im Arm.
»Schau, Omi, was ich bekommen habe!«, jubelte sie stolz. Und während Beate zum letzten Abschied zu der Familie Goarez trat, zog Margaret ihre Enkelin gerührt an sich und sah ihr in die tiefbraunen Augen, die noch vor einer halben Stunde viel trüber und müder dreingeschaut hatten. Behutsam nahm sie ihr den Hut ab und wollte ihr über das Haar streichen.
»Nicht die Locken in Unordnung bringen, Omi!«, bat Anka, überließ ihr den Teddy und stob schon wieder davon, um sich auf spanisch von der Familie aus Buenos Aires zu verabschieden.
Kaum saß sie dann aber mit dem Teddy im Arm im Auto ihrer Großmutter, entwich Anka ein Seufzer aus tiefstem Herzen.
»Ich bin überhaupt nicht traurig«, meinte sie, »weil ich Fernando nun nie wiedersehe. Der hat immer so getan, als kann er alles besser als ich. Besonders Klavierspielen.«
»Aber das kann er doch auch, mein Liebling!«, widersprach Beate ihrer Tochter. »Darum fliegen seine Eltern jetzt mit ihm nach Stockholm weiter, damit er dort einem Pianisten vorspielt, der ihn dann wahrscheinlich unterrichten wird.«
»O jemineh!«, seufzte Margaret Schäfer, was Anka wiederum sehr erheiterte.
»Dabei hat der ganz blöde geklimpert, Omi. Wirklich! Und tanzen kann er auch nicht. Wenn ich im gemischten Doppel mit ihm spielen musste, wusste ich schon, dass wir verlieren. Und außerdem hat er auch noch Angst vor Pferden gehabt! Aber er hat schon eine richtige Visitenkarte. Er gab sie mir. Die zerreiße ich jetzt.«
Sie musste ihre kleine Handtasche geöffnet haben, wobei die ihr entglitten und zu Boden gerutscht war. Margaret, die gerade an einer Ampel hielt, schmunzelte über den kurzen spanischen Wortwechsel zwischen Tochter und Enkelin.
»Ich denke, wir sprechen hier nur deutsch, Mami?«, erkundigte Anka sich zwischen Rücksitz und Vorderlehne kauernd, um den Inhalt ihrer Tasche wieder einzusammeln. »Nein, dem Bild von Papi ist nichts geschehen. Schau, Omi!« Anka hielt Margaret ein Foto ihres Vaters im Silberrahmen mit Trauerflor vor die Nase. Margaret nickte flüchtig. Sie musste wieder anfahren.
»Wir haben nur dieses eine Bild mit Rahmen«, erklärte Beate.
Margaret fuhr weiter. Ja, Ottmar Hillmer war von ihnen gegangen. Ob es ihm gefallen würde, wenn Anka nun auf Gut Erlenfeld aufwuchs?
»Darf ich das Foto von meinem Papi neben mein Bett stellen,
Omi?«
»Natürlich darfst du das, Anka!«, antwortete die geistesabwesend. Sie musste sich jetzt nach rechts Richtung Landstraße einordnen und war froh, dem dichten Nachmittagsverkehr in der Großstadt entkommen zu können.
Aber schon an der nächsten Kurve bereute sie ihre schnelle Zusage. Was würde Tessa dazu sagen, wenn ihr das Gesicht Ottmar Hillmers aus dem Silberrahmen entgegenlächelte? Würde dieses Lächeln nicht schmerzhafte Erinnerungen in ihrer ältesten Tochter wachrufen?
Schon immer war Tessa mit ihrer ernsten, strebsamen Art ein sehr verschlossener Mensch gewesen. Darum hatte auch keiner in der Familie jemals gewagt, ihr ein Wort des Mitgefühls auszudrücken. Dabei wussten damals alle, wie sehr Tessa Ottmar Hillmer geliebt hatte.
»Wenn das Wetter morgen wieder so wunderschön ist wie heute«, meinte Beate in diesem Moment, »dann kannst du bestimmt reiten.«
»Au ja, darauf freue ich mich schon.«
»Wir haben keine Pferde mehr, Beate«, stellte Margaret richtig. »Schon seit fünf Jahren nicht mehr. Tessa und Kurt haben den Betrieb umgestellt. Kurt hat den Getreideanbau unter sich, Tessa als ausgebildete Tierärztin kümmert sich um die Rinderzucht.«
»Das sieht ihr ähnlich, Mutter!«, schnaufte Beate wütend. Das passte so gar nicht zu ihr, der hübschen, blonden Frau. »Die Pferde verkauft! Das hat sie nur getan, weil sie wusste, wie gern ich früher geritten bin.«
»Nein, Beate. Als wir uns dazu entschlossen, lebtest du schon fünf Jahre glücklich mit Ottmar in Buenos Aires. Keiner konnte wissen, ob du jemals wieder zu uns zurückkehren würdest.«
Margaret Schäfer war entschlossen, einige Dinge gleich von Anfang an klarzustellen. Seit dem Tod ihres Mannes hatte das Gut kaum noch Erträge abgeworfen. Wenn es nach einigen Veränderungen jetzt wieder bergauf ging, so war das der klugen Planung von Kurt und der emsigen Tüchtigkeit von Tessa zu verdanken.
»Wir werden uns alle von Herzen bemühen, in Harmonie zu leben und Verständnis füreinander aufzubringen«, sagte sie nach einer Weile. Es klang beschwörend, denn Margaret ahnte ja, dass mit Beates Rückkehr einige Wunden in Tessas Herzen aufgerissen werden konnten.
»Wo ist das Institut, das ich besuchen werde?«, fragte Anka gleich darauf. Dabei waren ihr schon die Augen halb zugefallen, während sie hinaus in die Landschaft sah. Beate lächelte und warf ihrer Mutter einen amüsierten Blick zu.
»Ein Institut wie in Buenos Aires gibt es hier nicht, Anka. Hier heißt es Schule. Sie befindet sich in Loberg, rund zehn Kilometer vom Gut entfernt. Ich habe sie auch besucht. Und ich werde dich jeden Morgen hinfahren.«
»Hat Omi denn keinen Chauffeur?«
Margaret schüttelte lachend den Kopf. »Nein, Anka. Aber deine Mami muss dich auch nicht fahren. Wir haben jetzt nämlich einen Schulbus, der alle Kinder aus dem Dorf hinbringt. Das wird dir Spaß machen, dann findest du auch gleich Freunde.«
Anka erwiderte nichts. Da sah Beate sich nach ihrem Töchterchen um. Die hatte ihr Köpfchen auf den Bauch des rosaroten Tedddys geneigt und war fest eingeschlafen. Flüsternd machte Beate Margaret darauf aufmerksam.
»Die Zeitumstellung wird Anka zu schaffen machen, Mutter. Und dann dieser Zwischenaufenthalt in Paris! Für Kinder ist so was eine rechte Strapaze. Schon heute früh ist sie eingenickt. Mir geht es ebenso. Auch ich bin todmüde.«
»Morgen sieht alles schon viel besser aus«, tröstete Margaret Schäfer. »Wenn ihr ausgeschlafen habt, werdet ihr euch bald auch heimisch fühlen.«
Beate nickte und gähnte. »Ich freue mich auf Tessa und ihren Mann. Ist Schwager Kurt nett? Warum haben die beiden keine Kinder?«
Margaret fuhr schweigend weiter. Die letzte von Beates Fragen konnte sie beim besten Willen nicht beantworten.
»Warum antwortest du nicht, Mutter?«, hakte Beate noch einmal nach, obwohl ihre Stimme immer schwächer klang. »Magst du Kurt nicht leiden?«
Da lächelte Margaret ein wenig. »Er ist ein herzensguter, ein sehr tüchtiger Mann, Beate. Ich verstehe mich prächtig mit ihm. Er wünschte sich auch Kinder. Ob Tessa jemals diesem Wunsch nachkommt, vermag ich nicht zu sagen. Die beiden scheinen ganz in der gemeinsamen Arbeit und Verantwortung für den Gutsbetrieb aufzugehen. Kurt liebt Tessa, das sehe ich. Aber ob Tessa …«
Sie hatte das Tempo verlangsamt und warf kurz einen Blick auf Beate. Die hatte ihren Kopf zur Seite geneigt, und die Augen waren ihr zugefallen.
Margaret schmunzelte.
Vielleicht war es sehr gut, wenn Beate ihre Überlegungen nicht mitbekommen hatte. Auf dem Gut waren ja immer Dinge geschehen, die am besten unter einem Mantel des Schweigens verborgen blieben. Nur so würde es ihnen gelingen, wie eine glückliche Familie in Ruhe und Harmonie zu leben und Anka zu helfen, mitten unter ihnen eine neue Heimat zu finden.
*
Als Anka am nächsten Morgen nach zwölf Stunden tiefsten Schlafs langsam erwachte, wusste sie zunächst gar nicht, wo sie war. Das Licht, das durch einen Spalt in den Vorhängen drang, ließ einen kleinen, niedrigen Raum erkennen. Neben ihrem Bett stand ein Tischchen mit einer Vase voller bunter Tulpen. Davor hatte sie noch vor dem Schlafengehen den Silberrahmen mit dem Foto ihres verstorbenen Vaters gestellt.
Vorsichtig richtete sie sich auf. Da knisterte etwas unter ihrem Arm. Anka rieb sich die Äuglein, dann holte sie ein Tütchen aus Zellophanpapier, das halb unter dem Kopfkissen steckte, hervor. Es war schon geöffnet. Und flups, griff sie wieder hinein und holte einen der köstlich weichen Karamell-Bonbons, die ihr die Großmutter noch gestern Abend als Betthupferl gebracht hatte, hervor. Sie wickelte ihn aus und ließ ihn in ihrem Mündchen verschwinden, dann legte sie sich aufatmend auf das Kissen zurück.
Ja, wirklich, sie war in Deutschland, auf Gut Erlenfeld, bei ihrer Omi! Und am Abend vorher hatte sie unten im Esssaal ihre Tante Tessa und ihren Onkel Kurt, sowie die alte Senta und noch drei andere Dienstboten kennengelernt.
Das Kalbsragout mit dem Kohlrabigemüse hatte sie nicht angerührt, die frische Milch aus dem Stall war ungetrunken stehengeblieben. Daran und an den kritischen Blick ihrer Tante Tessa konnte sie sich gerade noch erinnern. Die Müdigkeit hatte sie viel zu schnell übermannt. Aber der Karamell-Bonbon war sehr gut. Anka strich das Papier des Bonbons glatt und betrachtete die darauf abgebildete Kuh.
Ihre Mami hatte ihr erzählt, dass es auf Gut Erlenfeld fast hundert Kühe gab. Ob sie die heute mal ansehen sollte? Gerade wollte sie aus dem Bett springen, als ihr Blick auf ihre Fingernägel fiel. An einigen war der rosarote Lack abgesplittert.
»Carmen!«, rief Anka leise. »Carmen?«
Aber dann begriff sie sehr schnell, dass es hier keine Carmen gab. Carmen, ihr Kindermädchen, das sich in Buenos Aires seit Jahren um ihre Garderobe, ihre Frisur und um all die hübschen Kleinigkeiten ihres täglichen Lebens gekümmert hatte, war ja nicht mitgekommen. Aber wer legte ihr denn nun die Kleider für den Tag zurecht? Wer entfernte den Lack von ihren Nägeln und bestrich sie neu?
Neben ihr lag der große rosafarbene Teddy. Anka klebte ihm das Bonbonpapier auf die Nase und zog ihn dann an sich. Und weil er der Einzige war, dem sie in der morgendlichen Stille ihre Gedanken anvertrauen konnte, flüsterte sie ihm zu:
»Die Omi ist lieb, nicht? Und der Onkel Kurt auch. Ob die Senta mir beim Ankleiden hilft? Oder Tante Tessa? Mami darf ich nicht wecken, Teddy. Das mag die nicht …«
Ein Geräusch hinter ihr ließ sie verstummen. Ganz vorsichtig wandte sie sich um und bemerkte eine schlanke Gestalt, die mit einer sehr energischen Bewegung die Vorhänge aufzog. Ankas Herz blieb stehen. Das war Tante Tessa! Ob die ihr jetzt beim Ankleiden half? Mit furchtsam geöffneten Augen sah sie zu ihr hoch. Diese Tante, die Schwester ihrer Mami, machte ihr Angst. Aber die beachtete sie gar nicht. Die Tante mit dem strengen Blick hatte nämlich den Silberrahmen in die Hand genommen. Und wie gelähmt vor Schrecken beobachtete Anka, wie deren Finger am Silberrahmen entlangfuhr.
»Das … das ist mein Papi«, hauchte sie ängstlich. Ihr Mund fühlte sich ganz trocken an, denn den Bonbon hatte sie schon ganz schnell vor Schrecken heruntergeschluckt.
»Ich weiß«, sagte Tante Tessa. »Dein Vater, Ottmar Hillmer, ein berühmter Geologe und anerkannter Wissenschaftler.«
»Er … er ist gestorben. Im Himmel ist er und schaut immer herunter, ob ich auch lieb bin.«
Tessa stellte das Bild endlich zurück, und dann sah sie ihre Nichte lange prüfend an.
»Wenn du lieb sein willst, steh auf, Anka. Es ist schon nach neun Uhr. Denn hier auf dem Gut wird nicht gefaulenzt. Das gilt auch für so kleine verwöhnte Mädchen wie dich.«
Anka schluckte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals verwöhnt genannt worden zu sein. Drüben in Buenos Aires unterschied sie sich nicht von den Kindern der reichen Eltern, mit denen sie auf dem Institut und in der Freizeit zusammen gewesen war.
»Und … wo ist Mami?«, wagte sie zu fragen.
»Schon unterwegs bei einem Rundgang übers Gut. Ich habe ihr versprochen, nach dir zu sehen.«
Anka fühlte einen dicken Kloß im Hals. Von Tante Tessa, so forsch und eindrucksvoll sie wirkte, ging eine verletzende Kälte aus. Wer sollte sich denn nun um ihre Kleider und ihre Frisur kümmern?
»Und Senta?«
»Senta?« Tante Tessa hatte sich dem Kleiderschrank zugewandt und zupfte an dem Besatz des Mäntelchens herum, das dort hing. »Was willst du denn von Senta?«
Anka richtete sich auf und deutete auf die Kleider auf dem Stuhl.
»Sie soll mir Kleidung herauslegen. Wie Carmen. Die hat immer gewusst, wie kalt oder warm es draußen war und ob ich zum Reitunterricht oder zu einer Party musste.«
Tessa lachte. »Reitunterricht hast du hier nicht, und Partys gibt’s hier nicht. Also, los, steh auf.«
Anka war den Tränen nahe. Sie neigte den Kopf und sah auf ihre Fingernägel. Das Gefühl der Verlorenheit wurde nur noch größer.
»Mami soll kommen«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
»Deine Mutter ist entschlossen, sich hier auf dem Gut nützlich zu machen, Anka. Sie sucht sich eine Beschäftigung. Meinen Vorschlag, sich in Hamburg nach einer passenden Tätigkeit umzusehen, hat sie abgelehnt. Also wird sie sich dem Landleben anpassen müssen. Das gilt damit auch für dich.«
Sie hängte den Mantel wieder an den Kleiderschrank und beugte sich dann über den Koffer, der noch vollgepackt auf dem Stuhl am Ende des Bettes stand. Er war am Vorabend nur kurz geöffnet worden, um das Nachthemd für Anka herauszuholen.
»Nichts wie Firlefanz!«, fuhr Tessa fort und holte ein Kleid nach dem anderen hervor, um es mit spitzen Fingern hochzuheben und es dann auf den Boden fallen zu lassen. Das weiße Organza-Kleid mit der rosa Schärpe, das marineblaue mit der zarten Silberstickerei! Das kleine Stadtkostümchen aus hellgrauem Wollstoff mit den Lederrüschen und dem dazugehörigen Mützchen mit rotem Bommel – ein Teil nach dem anderen landete vor dem Bett.
»Irgendwo müssen doch ein paar Pullover und strapazierfähige Hosen stecken!«, wunderte Tessa sich und hatte weder einen Blick noch ein Gefühl des Mitleids für das kleine Mädchen übrig. »Einen ganzen Koffer voller Nutzlosigkeiten! Und drei davon stehen noch unten an der Treppe. Ist da wenigstens etwas Praktisches drin? Hosen und Pullover, oder ein Anorak?«
Anka, eingeschüchtert und völlig mit dem Herunterschlucken ihrer aufsteigenden Tränen beschäftigt, brachte nur einen kümmerlichen Piepser hervor.
»Antworte mir doch endlich!«, herrschte Tessa sie an. Nur so konnte sie sich des schmerzhaften Gefühls eines bohrenden Neides erwehren. Warum war Anka nicht ihr Kind? Warum blickten ihr aus dem Gesicht
des Mädchens die braunen Augen des Mannes an, den sie seit zehn Jahren vergeblich zu vergessen versuchte?
»Carmen … hat doch die Koffer gepackt.« Anka wischte sich über das Gesicht, mit der anderen Hand zog sie die Decke bis an ihr Kinn. Das war jetzt der einzige Schutz gegen die Gemeinheiten der Tante.
Tessa stieß einen gereizten Laut aus, griff mit spitzen Fingern von Neuem in den Koffer, und gleich darauf fiel ein winziger, mit Goldblümchen bedruckter Bikini zu Boden, dem folgte der passende Strandrock. Nun lachte Tessa wieder.
»Zum Zirkus solltest du gehen, Anka. Die Kleidung dazu hast du ja schon. Mein erster Eindruck gestern Abend war richtig. Du bist ein verzärteltes Püppchen. Ein Prinzesschen, dem man jeden Wunsch erfüllt und damit nur Schaden zugefügt hat. Damit sich das ändert, werde ich deine Mutter wohl mal zur Rede stellen müssen.«
In diesem Moment wurden draußen Schritte laut. Begleitet wurden sie von einem leisen Klappern. Dann flog die Tür auf, und Margaret Schäfer stand mit einem reichbeladenen Tablett im Raum.
»Omi!« Anka sprang aus dem Bett und eilte ihrer Großmutter entgegen, bis sie deren rundliche Hüften umklammern konnte.
»Du bist hier, Tessa?«, wunderte Margaret Schäfer sich und schob das Kind von sich, um erst mal das Tablett abstellen zu können. »Ich dachte, du begleitest Kurt und Beate beim Rundgang durch den Betrieb?«
»Beate zieht es vor, mit Kurt allein zu sein, Mutter. Sie gestattete mir, mich um das Prinzesschen zu kümmern.«
Anka setzte sich auf die Bettkante. Sie hörte die spitzen Worte der Tante und verstand immer weniger, was hier eigentlich vorging. Warum war Tessa so bös’ zu ihr, und warum brachte ihr die Großmutter dann das Frühstück ans Bett, wie sie es aus Buenos Aires gewohnt war? Dann schien es auf dem Gut der Großmutter doch nicht so anders zuzugehen, wie diese Tante ihr einzureden versuchte.
Margaret schob ihre Tochter am Arm aus dem Zimmer. Ein Blick in das tränennasse Gesicht ihrer Enkelin hatte genügt, um zu erkennen, dass Tessa ihre Missstimmung und ihre Abneigung gegen Kinder an dem kleinen Mädchen ausgelassen hatte.
»Warum quälst du die Kleine so, Tessa?«, fragte sie flüsternd. »Anka kann doch nichts dafür, dass sie Ottmars Tochter ist. Sie gehört zu uns, dies wird ihre Heimat sein, Tessa. Vergiss nicht, dass Beate Witwe ist, du aber einen liebevollen Mann an deiner Seite hast.«
Tessa lächelte spöttisch. »Augenblicklich befindet Kurt sich an Beates Seite, nicht an meiner, Mutter. Du siehst, es beginnt wieder alles so wie damals.«
Margaret konnte kaum atmen. So ängstigte sie das Benehmen ihrer Ältesten.
Und als sie ihr antwortete, musste sie die ganze Kraft ihres Herzens aufwenden, um ihrer Stimme einen bestimmenden Ton zu verleihen.
»Kurt ist ein sehr rechtschaffener Mann, Tessa. Ein wenig mehr Zärtlichkeit und Zuneigung von dir, und er wird nie eine andere Frau anschauen.« Sie holte jetzt ganz tief Luft. »Wie Beate uns gestern Abend noch verkündete, ist sie nicht bereit, sich eine Tätigkeit an der Universität in Hamburg zu suchen. Sie will bei uns bleiben. Und ich werde weder ihr noch Anka den Schutz unseres Hauses verwehren. Beate ist meine Tochter genauso wie du. Sie hat schwere Zeiten durchgemacht. Und außerdem bin ich sehr glücklich, endlich ein Enkelkind in meiner Nähe zu haben.«
»Uns, Mutter, hast du nie das Frühstück ans Bett gebracht!«, stieß Tessa leise hervor.
»Ich werde es auch nur heute tun, Tessa. Wir müssen Anka Zeit lassen, sich bei uns einzuleben. Sie ist maßlos verwöhnt worden. Aber sie ist ein liebenswertes Kind. Das wirst auch du noch begreifen.«
Tessa wandte sich ab. »Darauf hoffe nicht, Mutter. Anka sieht mich mit den Augen Ottmars an. Ihr braunes Haar, dieser Blick, diese schmale Nase …, alles das lässt alte Gefühle in mir aufbrechen. Warum nur hat Ottmar mir das angetan?«
»Weil sein Herz sich plötzlich für Beate entschied, Tessa. Wir können die Uhr nicht mehr zurückdrehen. Das Schicksal war ja nicht nur gegen dich, sondern ist auch Beate ein dauerhaftes Glück schuldig geblieben. Und nun geh zu deinem Mann und zu deiner Schwester. Beweise, dass du ein großes Herz hast, in dem außer für die Liebe zu Kurt auch noch ein wenig Raum für Beate und ihre Tochter bleibt.«
Tessas Gesicht drückte Trotz aus. Und als sie sich entfernte, schob sie ihre Schultern hoch, und ihre Stiefel verursachten harte Geräusche auf der Diele. Da wusste Margaret, dass ihre Älteste viel Zeit brauchen würde, um sich an die Gegenwart der kleinen Anka zu gewöhnen.
*
Zur gleichen Zeit traten Kurt Traubnitz und seine Schwägerin Beate aus einem der neuen Ställe ins Morgenlicht hinaus.
»Respekt, Respekt, Kurt!«, lächelte Beate ihn an. »Das alles ist ja neu gebaut worden. Auch die Treibhäuser und der Gemüsegarten sind neu angelegt worden. Wie habt ihr das nur schaffen können?«
»Deine Mutter hat mir alle Vollmachten übertragen. Und Tessa ist eine wundervolle Frau, Beate.«
»Ja, das ist sie.« Beate hatte sich schon in den frühesten Morgenstunden ein Paar Jeans und eine nicht mehr neue Lederjacke von ihrer Schwester geliehen. Sie sah einfach wundervoll aus in dieser schlichten Aufmachung. Kurt bedachte sie auch mit einem belustigten Blick.
»Das steht dir besser als die schwarze Kleidung, Beate. Wenn du uns wirklich beim Blumen- und Gemüse-Anbau zur Hand gehen wirst, brauchst du deine Koffer gar nicht erst auszupacken.«
Der neue Schwager hatte Beate vom ersten Augenblick an gefallen. Nun schlenderten sie auf eine der Wiesen zu. Die Sonne ließ Beates Haar golden aufschimmern, ihre Wangen hatten sich gerötet. Sie schob ihre Hände in die Hosentaschen und hob ihr Gesicht mit einem entschlossenen Ausdruck zu ihm auf.
»Ja, ich will, Kurt. Denn wenn ich in Hamburg arbeite, muss ich mich von Anka trennen oder sie in eine kleine Wohnung sperren, wo sie viel allein sein wird. Anka ist das nicht gewohnt. Ich habe in den letzten Jahren kaum Zeit für sie gehabt, aber immer waren Dienstboten um sie, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen.«
Kurt grinste. »Die Umstellung wird ihr auch hier schwerfallen, Beate. Aber was Tessa und ich bewältigen können, um Anka das Einleben zu erleichtern, werden wir tun.«
»Tessa auch?«, fragte Beate.
Da schob er seinen Arm unter ihren. »Tessa ist ein herber Typ, Beate. Sie ist der Meinung, sich nicht als Mutter zu eignen. Dabei wünsche ich mir Kinder. Aber meine Liebe zu deiner Schwester ist groß genug, um darauf verzichten zu können.«
Beate zog ihre kleine Nase kraus. »Das habe ich geahnt, Kurt. Darum bat ich sie ja, sich heute früh um Anka zu kümmern. Vielleicht werden die beiden doch noch Freundinnen.«
Sie blieb stehen und sah in die Landschaft hinaus. Dann hob sie den Arm und deutete auf das alte Kutscherhaus.
»Dort lebt also nun eine junge Familie, die es mit der Schafzucht versucht. Wie heißen die Leute noch?«
»Groß. Theo Groß und seine Frau Uta sind eigentlich recht sympathische Leute. Ob ihr Betrieb jemals etwas abwirft, ist schwer vorauszusagen. Die Pachtbeträge gehen nicht immer pünktlich ein. Aber ich dränge sie selten. Die jungen Leute haben drei Kinder zu ernähren. Darauf muss man Rücksicht nehmen.«
»Drei Kinder?«, wiederholte Beate begeistert. »Das ist ja herrlich. Dann hat Anka doch Spielkameraden in der Nähe.«
Kurt neigte den Kopf zur Seite, sein Gesicht drückte Skepsis aus. »Ob die deinem anspruchsvollen Töchterchen genügen werden? Es sind arme Leute. Jonathan ist zehn, er geht zur Schule, Ulf wird sechs. Und seit einem halben Jahr gibt es noch ein kleines Mädchen. Die Leute brauchen Hilfe. Und wenn Tessa ein wenig mehr Verständnis für Kinder aufbringen würde, hätte ich die beiden Buben schon gern manchmal in meiner Nähe. Ich bin eben ein Kindernarr. Und ich beobachte, wie gern die kleinen Jungens schon mit anpacken.« Er lachte leise und zog sie weiter auf die Wiese. »Übrigens«, fuhr er nach einer Weile fort, als folge er einem Zwang, das Thema zu wechseln, »erzählte mir Margaret gestern Abend, dass Anka gern reiten würde. Es tut mir leid, dass ich die Abschaffung der Reitpferde veranlasste. Aber um den Betrieb rentabel zu gestalten, musste es sein. Tessa hatte keinen Einfluss darauf. Sie beugte sich meinen Entscheidungen.«
Beate warf ihm einen Seitenblick zu. »Ist das wahr? Dann muss sie dich von ganzem Herzen lieben!«
Er lächelte glücklich. »Ich hoffe es.« Und dann, nach einem tiefen Atemzug, knüpfte er wieder an seine Gedanken an. »Um Anka aber eine Freude zu bereiten, solltest du ihr Reitunterricht geben lassen. In Loberg findet sich gewiss eine Gelegenheit dazu. Und wenn du bei uns arbeiten willst, bekommst du ja auch ein Gehalt, das solche Ausgaben ermöglicht.«
Beate blieb stehen. Mit ihren großen blauen Augen sah sie ihn erst ungläubig staunend an, dann brach sie, wie es so ihre Art war, in ein übermütiges Gelächter aus.
»Aber ich bin doch nicht auf euer Geld angewiesen, Kurt! Ottmar hat mir genug hinterlassen. Nein, ich brauche keinen Cent.«
»Aber warum willst du dann hierbleiben, in dieser Abgeschiedenheit? Warum beginnst du nicht in Hamburg ein neues Leben, wie es deinen Mitteln entspricht?«
»Weil ich hier zu Hause bin. Mit dem Gut verknüpfen sich wundervolle Erinnerungen. So glücklich wie hier war ich nie wieder in meinem Leben.«
Er stutzte. »Auch nicht als dein Mann noch lebte, dort drüben in Argentinien?«
Sie sah ihn nicht an. »Ottmar war immer viel unterwegs. Darum wendete ich meine ganze Liebe Anka zu. Als Ottmar begriff, wie einsam ich mich in den ersten Jahren fühlte, überredete er mich, einige Semester Botanik zu studieren. So wurde ich dann durch seine Fürsprache die Assistentin einer seiner Mitarbeiter.«
»Du hast ihn dann begleiten können?«
»Ottmar? Nein, Ottmar begleitete ich nie. Aber Dr. Paolo Sito. Nach Ottmars Tod war das nicht mehr möglich. Man wusste ja, dass meine Ausbildung im Grunde genommen nicht ausreichte.«
»So war das«, wunderte Kurt sich. »Und ich dachte, du und Ottmar …«
Irgend etwas in Beates Blick brachte ihn zum Schweigen. Dann aber bemerkte er, dass sie lächelte.