Ein sympathischer Großstadt-Dandy trifft auf zwei alte Ladys, die es faustdick hinter den Ohren haben – und gemeinsam lösen sie jeden Fall im malerischen Dorf Bunburry. Hier duftet es verführerisch nach dem besten Fudge der Cotswolds, der Pub ist bekannt für sein leckeres Ale und das Verbrechen lauert direkt hinter dem nächsten Cottage. Denn auch hier in der schönsten Idylle gibt es Leidenschaft, Eifersucht, Hass und Mord – garniert mit einer guten Portion Humor.
Willkommen in Bunburry! Alfie McAlister – sympathisch, gutaussehend und Selfmade-Millionär – hat in dem malerischen Städtchen in den Cotswolds ein Cottage geerbt. Das kommt wie gerufen, will er London nach einer schlimmen persönlichen Tragödie doch so schnell wie möglich verlassen, um auf andere Gedanken zu kommen. Aber von Ruhe und Abgeschiedenheit keine Spur: Kaum in Bunburry angekommen, steckt Alfie schon mitten in einem Mordfall. Denn Liz und Marge, zwei alte Ladys und die besten Freundinnen seiner verstorbenen Tante Augusta, verpflichten ihn kurzerhand dazu, sich mit ihnen auf die Suche nach dem Täter zu machen. Doch dann gibt es einen zweiten Toten und die drei Amateur-Detektive müssen all ihre Schauspielkünste aufbieten, um den wahren Mörder zu entlarven …
Alfie McAlister entflieht der Londoner Hektik und tauscht sie gegen die Ruhe und Stille der Cotswolds ein. Leider ist die Idylle im Herzen Englands tödlicher als erwartet …
Margaret »Marge« Redwood und Clarissa »Liz« Hopkins leben schon ihr ganzes Leben lang in Bunburry. Sie sind bekannt für den besten Karamell der Cotswolds. Zwischen dem Afternoon Tea und dem abendlichen Gin sind sie kleineren Schnüffeleien nicht abgeneigt.
Emma Hollis liebt ihren Beruf als Polizistin. Was sie jedoch gar nicht liebt, sind die ständigen Verkupplungsversuche ihrer Tante Liz.
Betty Thorndike ist eine Kämpferin. Vor allem kämpft sie für Tierrechte. Sie ist das einzige Mitglied von Bunburrys Grüner Partei.
Oscar de Linnet lebt in London. Er ist der beste Freund von Alfie und versucht ihn zurück in die Stadt zu locken. Schließlich »kann auf dem Land jeder gut sein. Dort gibt’s keine Versuchungen.«
Augusta Lytton ist Alfies Tante. Auch nach ihrem Tod ist sie immer für eine Überraschung gut …
Harold Wilson zieht ein (oder zwei) Pint seinem Job als Polizeichef vor.
BUNBURRY ist ein malerisches Dorf in den englischen Cotswolds. Doch hinter der perfekten Fassade lauern finstere Geheimnisse …
Helena Marchmont ist das Pseudonym von Olga Wojtas. Die schottische Schriftstellerin hat 2015 den Scottish Book Trust New Writers Award gewonnen und bereits über 30 Kurzgeschichten veröffentlicht. Gerade ist auf Englisch ihr erster Roman »Miss Blaine’s Prefect and the Golden Samovar« erschienen.
Vorhang auf für einen Mord
Aus dem Englischen von Sabine Schilasky
beTHRILLED
Deutsche Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titel der britischen Originalausgabe: Murder at the Mousetrap
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Arno Hoven
Idee und Serienkonzept: Rebecca Schaarschmidt & Kathrin Kummer
Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt
Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven
© shutterstock: JeniFoto | FreeProd33 | Canicula | Sk_Advance studio | ivangal | Nikola Barbutov
eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-6332-6
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
»Auf dem Land kann jeder gut sein. Dort gibt’s keine Versuchungen.«
Oscar Wilde
Der Sturm wurde schlimmer, und ruckelnd kam der Zug auf freier Strecke zum Stehen. Alfie spähte hinaus in die schwarze Nacht, konnte jedoch nichts sehen außer dem Regen, der gegen das Fenster prasselte. Nichts hätte seinen Erinnerungen an die Cotswolds ferner sein können. Über dreißig Jahre lagen jene idyllischen Sommerferien nun zurück, die er bei seinen Großeltern verbracht hatte. Endlose sonnige Tage, an denen er auf den Hügeln umhertollte, Wälder erkundete und sich in Bächen abkühlte. Er war glücklich gewesen, weil es keinen Grund gegeben hatte, betrübt zu sein. Als Junge hätte er sich niemals den Kummer vorstellen können, der noch kommen sollte.
In seinem Gedächtnis waren ausschließlich Erinnerungen an Wochen im Juli und August, heute war jedoch ein Tag im November. Wie hieß es noch in diesem Gedicht? Keine Wärme, keine Heiterkeit, keine Früchte, keine Blumen, kein Laub, keine Vögel – November.
Seine Gedanken wurden von der Durchsage unterbrochen, die mit einem lauten Knistern begann: »Wir bitten um Entschuldigung für die Verspätung. Es liegen umgestürzte Bäume auf dem Gleis.«
Alfie fand, dass diese Begründung zumindest ein wenig besser war als die übliche, allenthalben verhöhnte Ausrede für Zugverspätungen, es gebe »Laub auf dem Gleis«.
Die blecherne Stimme, deren Nervosität bei allem Knarzen unüberhörbar war, fuhr fort: »Die umgestürzten Bäume sind auf den Sturm zurückzuführen, einen Umstand, der außerhalb unserer Kontrolle liegt. Wir warten darauf, dass die Strecke frei gemacht wird, und entschuldigen uns bei den Fahrgästen für die Unannehmlichkeiten.«
Im Waggon brach finsteres Gemurmel aus, das den Unmut der britischen Öffentlichkeit kundtat.
»Also wirklich!«, brummelte jemand.
»So dicht bei den Gleisen dürften überhaupt keine Bäume stehen«, murmelte ein anderer.
Alfie schlug sein Buch wieder auf, eine neue Oscar-Wilde-Biografie, die in sämtlichen Zeitungen hymnisch gelobt worden war. Wie er nach einer Weile feststellte, war er so in Gedanken versunken, dass er automatisch die Seiten umblätterte, ohne die Worte aufzunehmen. Als er zum Anfang zurückkehrte, klappte das Buch auf der Titelseite auf. Schmunzelnd fragte er sich, was andere Leute von der in Tinte geschriebenen Widmung wohl halten würden:
Für Alfie
Genieße das Bunburrysieren
Oscar
Manchmal überlegte er, ob Oscar sich für eine Art Reinkarnation seines Namensvetters hielt. Sein Freund war besessen von allem, was mit dem berühmten Schriftsteller Oscar Wilde zu tun hatte, zitierte ihn in einem fort und war bekannt dafür, seinen Dandy-Look mit einer grünen Nelke abzurunden, dem Markenzeichen des wahren Wilde-Kenners. Wenn Oscar sagte, dies sei das beste Buch, das jemals über Wilde geschrieben wurde, dann würde Alfie nicht widersprechen.
Als er sich gerade daranmachte, richtig zu lesen, glitt die Waggontür mit einem leisen Zischen auf, und ein junger Schaffner kam herein, der merklich besorgt wirkte. Alfie vermutete, dass ihm die körperlose Stimme gehörte, die vorhin die Durchsage gemacht hatte. Unsicher erklärte der junge Mann, dass es mindestens eine Stunde dauern würde, bis die Gleise frei geräumt waren.
Es wurde lauthals protestiert; die Fahrgäste klagten über verpasste Anschlüsse, besorgte Ehepartner und ruinierte Einladungen zum Abendessen. Der unglückliche Schaffner, der bereits einen Spießrutenlauf durch die anderen Wagen hinter sich haben musste, sah aus, als erwöge er ernsthaft, wegzulaufen und zum Zirkus zu gehen.
Alfie sprang ihm bei. »Es ist nicht Ihre Schuld, nur Pech«, verkündete er mit leicht erhobener Stimme, damit ihn die anderen Fahrgäste hörten. »Sagen Sie, ist der Bistrowagen noch unterwegs?«
»Direkt hinter mir, Sir«, antwortete der Schaffner eifrig.
»Großartig«, sagte Alfie. »Nach einer Tasse Tee sieht alles gleich besser aus.«
»Dann haben Sie den hier noch nicht probiert, Freundchen – das ist Plörre!«, ertönte eine Stimme vom anderen Ende des Waggons.
»Danke für die Warnung!«, rief Alfie zurück. »In dem Fall werde ich auch einen Gin-Tonic nehmen, und alles sieht noch viel besser aus.«
Es wurde gekichert, und Leute begannen sich zu unterhalten.
»Den Tee hatte ich noch nicht, aber der Kaffee ist wirklich nicht schlecht.«
»Nein, ich glaube, sie benutzen diese Arabica-Bohnen, Sie wissen schon, die guten.«
»So spät darf ich keinen Kaffee mehr trinken. Dann bleibe ich die ganze Nacht wach.«
»Bei dem sicher nicht. Arabica hat viel weniger Koffein. Es ist dieses Instant-Zeug, das einen umbringt.«
»Haben Sie die Haferriegel probiert? Die sind lecker.«
»Nein, ich bin nicht so für Süßes. Ich mag lieber Salt-and-Vinegar-Chips.«
Der Schaffner sah Alfie dankbar an, weil er die Situation entschärft hatte. »Kann ich Ihnen bei Ihrem Anschluss helfen, Sir?«, fragte er.
Alfie schüttelte den Kopf. »Ich steige an der nächsten Haltestelle aus.«
»Oh, in Bunburry? Wir dürften keine fünf Meilen mehr davon entfernt sein. Sie könnten praktisch zu Fuß gehen.«
Weiterhin trommelte der Regen gegen die Fensterscheiben. Alfie stellte sich vor, wie er sich auf den Weg durch die Dunkelheit machte, seinen Koffer hinter sich herziehend. Im Geiste sah er sich von einer wütenden Herde Kühe zu Tode getrampelt und erschauderte. Keine erheiternde Vorstellung. Denk an etwas anderes!
Eine neue Stimme erklang. »Wünschen Sie etwas, Sir?«
Erleichtert wandte Alfie sich dem Bistrowagen zu. Er könnte einen Gin-Tonic bekommen, wenn er wollte, doch angesichts des scheußlichen Wetters war ihm eher nach einem Heißgetränk. Er entschied sich für Kaffee, dazu ein Schinken-Käse-Brötchen und einen Haferriegel. Der Kaffee war genießbar, aber eindeutig ein Instantgetränk. Er dachte über die unerschöpfliche menschliche Fähigkeit nach, sich von etwas zu überzeugen, das definitiv nicht der Wahrheit entsprach; einer der vielen Aspekte, die ihn während des Psychologiestudiums fasziniert hatten. Er bezweifelte nicht, dass seine Mitreisenden problemlos schlafen würden, obwohl sie dieses sehr koffeinhaltige Zeug tranken.
Das Brötchen war sättigend, aber nicht besonders köstlich. Doch als er in den Haferriegel biss, hatte Alfie das seltsame Gefühl, in der Zeit zurückzureisen und wieder acht Jahre alt zu sein. Es war nicht das Gleiche, und doch war da etwas an dieser Bissfestigkeit und Süße, was ihm vertraut vorkam. Er sah sich in der Küche seiner Großmutter, wie er das erste Mal einen zögerlichen Bissen von einer viereckigen Süßigkeit nahm, bevor er sich den Rest in den Mund stopfte, um sie vollständig auszukosten. Seine Mutter, die ihn zu den Großeltern gebracht hatte, lächelte ihn an. »Gut, nicht? Das ist Bunburry-Karamell, das beste Karamell in den Cotswolds.«
Bis zu diesem Augenblick hatte er das Bunburry-Karamell vollkommen vergessen. Wahrscheinlich hatten sich auch alle anderen nicht mehr daran erinnert. Noch ein Teil seiner Kindheit, der nicht wiederkäme. Er aß den Rest des Riegels und wandte sich erneut dem Oscar-Buch zu.
Als er knapp das erste Kapitel gelesen hatte, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung ging durch den Waggon, begleitet von spärlichem Applaus. Keine zehn Minuten später erklang die Stimme des Schaffners über die Sprechanlage, diesmal entspannter. »Nächster Halt: Bunburry. Wenn Sie den Zug verlassen, achten Sie bitte darauf, all Ihre persönliche Habe mitzunehmen.«
Während Alfie seinen Mantel überzog, fragte er sich vage, was unpersönliche Habe sein könnte. Er hob seinen Koffer aus dem Gepäcknetz, verstaute das Buch sorgfältig im vorderen Fach und nahm seinen Taschenschirm heraus.
Er war der Einzige, der in Bunburry ausstieg. Auf dem Bahnsteig peitschte ihm sogleich ein Schwall Wasser ins Gesicht. Er mühte sich ab, den Schirm auszuklappen, während der Zug in Richtung Cheltenham wegtuckerte. Sein Mantel war nicht wasserfest, und bereits jetzt rannen ihm Regentropfen den Nacken hinab.
Nirgends war ein Lebenszeichen zu sehen. Bunburrys Bahnhof war nicht mit Personal ausgestattet. Die Lichter verschwammen im herabprasselnden Regen, und Alfie konnte nicht erkennen, was sich hinter ihnen befand. Ihm wurde bewusst, dass er sich so gut wie gar nicht an den Ortsplan des Dorfes erinnern konnte. Allerdings war er sicher, dass er über die Eisenbahnbrücke musste. Dort hatte er oft mit Kindern aus dem Ort gestanden und zugesehen, wie die Züge unter der Brücke hindurchdonnerten, während die Sonne am Himmel strahlte. Jetzt aber, als er die Eisenstufen hinaufstieg, erwischte ihn eine Sturmbö und entriss ihm den Schirm. Er blickte dem davonwirbelnden Regenschutz hinterher, der wohl zu einer neuen Ursache von Zugverspätungen werden könnte: Schirme auf den Gleisen.
Auf der anderen Seite der Brücke fand er eine schlecht beleuchtete Anschlagtafel mit der Überschrift »Informationen für den Weitertransport«. Er benutzte das Licht seines Handys, um sie zu lesen. »Es gibt keinen Taxistand in Bahnhofsnähe«, stand dort. »Die nächste Bushaltestelle befindet sich vor dem Postamt, ca. 750 m von hier. Das Dorfzentrum ist 1,2 km entfernt – ca. 15 Minuten Fußweg.«
Darunter befand sich eine Karte, auf der jedoch weder ein Postamt noch eine Bushaltestelle oder sonstige Orientierungshilfen markiert waren. Alfie schob die Holzpforte unter dem Schild »Ausgang« auf und ging vorsichtig durch eine schmale dunkle Gasse. Sein Mantel war bereits vollkommen durchnässt. Seine teuren italienischen Lederschuhe waren für Promenaden oder Kunstgalerien gemacht, nicht für eisige Pfützen oder tückisches Kopfsteinpflaster. Inzwischen waren auch seine Socken ganz nass, und er wünschte, er wäre wieder im Zug, am liebsten auf dem Rückweg nach London.
Er stapfte bis zum Ende der Gasse und betrachtete das Gewirr regengesprenkelter Häuser. Es fühlte sich sehr viel länger als fünfzehn Minuten an, bis er sich in halbwegs vertraut scheinender Umgebung wiederfand. Er war sich ziemlich sicher, dass er, wenn er am Ende der Straße nach rechts bog, zu seinem Zielort gelangen würde, dem Drunken Horse Inn. Er war noch nie in dem Pub gewesen, doch er galt als feste Institution im Dorf.
Als er in die, wie er hoffte, richtige Richtung ging, bemerkte Alfie ein Werbebanner, das erbärmlich im Regen und Wind flatterte. Es war nur an einer Seite befestigt, sodass es sich um sich selbst gewickelt hatte und unmöglich zu lesen war. Eine ziemlich ineffektive Form der Werbung, dachte er. Zwischen Zurückhaltung und Inkompetenz verlief manchmal nur eine schmale Linie. Sah so das Dorfleben im Allgemeinen aus? Und, wichtiger noch, war dies die beste Übernachtungsadresse in diesem Ort?
Er bog um die Ecke, und dort war das Drunken Horse am Ende der Straße. Das Wirtshaus sah betrunkener aus, als Alfie es in Erinnerung hatte. Das Gebäude war regelrecht in Schieflage: Es stellte eine Verbindung aus drei oder vielleicht auch vier Trakten dar, die teils ein-, teils zweigeschossig waren und die nur lose miteinander verbunden schienen. Er hoffte, der Bau würde den Sturm besser überstehen als das Banner.
Fröhlicher Lärm drang aus dem Pub, als er sich der Eingangstür näherte. Alfie war klar, dass die Geräusche verstummen würden, sobald er eintrat. Pints blieben unangerührt, wenn sämtliche Einheimischen den Neuankömmling beäugten. Das hatte er so an London gemocht – die Anonymität der Großstadt. Keiner wusste, wer man war, und, noch besser, es war allen egal. In Bunburry würde Alfie öffentliches Eigentum sein.
Er schlang seinen tropfenden Mantel fester um sich, packte den Griff seines Koffers energischer, holte tief Luft und drückte die Tür auf.
Niemand beachtete ihn. Ebenso gut hätte er unsichtbar sein können. Er ging hinüber zu dem altmodischen Holztresen, an dem mehrere Männer hockten und sich über den Gemeinderat beklagten. Sie ignorierten Alfie, als er sich an ihnen vorbeibeugte, um zu sehen, ob jemand bediente.
»Verzeihung!«, rief er der Bedienung zu, die am anderen Ende mit einem Gast plauderte. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte freundlich. Das passierte Alfie oft, und es machte einen Großteil seines Charmes aus, dass er schlicht annahm, es ginge allen so. Er hatte wirklich keine Ahnung, was für ein attraktiver Mann er war oder welche Wirkung er auf viele vom anderen Geschlecht und einige von seinem eigenen hatte.
»Hallo«, grüßte er, als die Bedienung näher kam. »Ich bin Alfie McAlister. Ich habe ein Zimmer für zwei Nächte gebucht.«
Sie kramte unter der Theke herum und holte eine Art Kassenbuch hervor. Das schlug sie auf und wanderte eine Seite mit dem Finger ab. »Ah ja«, sagte sie. »Mr McAlister.« Anscheinend hielt man im Drunken Horse nichts von Online-Reservierungen. Sie griff nach oben zu einem Schlüssel, an dem ein Stück Holz hing. Es diente als Schlüsselanhänger, in das die Information »Zimmer 3, Drunken Horse Inn, Bunburry« geschnitzt war. Von Schlüsselkarten hielt man hier offenbar auch nichts. Was sich nicht gut anließ.
»Ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer.«
Alfie folgte ihr durch eine Tür hinten im Raum.
»Sind Sie zum ersten Mal in Bunburry?«, fragte sie, als sie vor ihm eine enge Holztreppe hinaufstieg.
»Als Kind war ich oft hier, um meine Großeltern zu besuchen.«
»Ah, das ist nett. Besuchen Sie sie jetzt auch?«
»Nein«, antwortete Alfie. »Sie sind vor einigen Jahren gestorben.« Vor dreißig Jahren, um genau zu sein, als Alfie zwölf war.
»Wie schade«, sagte die Bedienung. »Aber so ist es eben mit Großeltern, nicht?«
»Ja, das stimmt«, pflichtete Alfie ihr höflich bei.
Sie gingen jetzt durch einen Korridor, der sich bedenklich neigte.
»Dann sind Sie nur fürs Wochenende hier, um Erinnerungen aufzufrischen?«
»Vielleicht länger«, erwiderte Alfie. »Ich besitze ein Cottage in der Love Lane, allerdings habe ich das noch nicht gesehen. Ich habe es vor Kurzem von meiner Tante Augusta geerbt.«
Die Bedienung fuhr herum und sah ihn betroffen an. »Es tut mir so leid; ich habe ja nicht geahnt, dass Sie der Neffe aus London sind«, hauchte sie. »Wir alle vermissen sie schrecklich, aber für Sie als Verwandten muss es noch viel schlimmer sein. Im Namen aller im Drunken Horse – unser aufrichtiges Beileid.«
»Danke, das ist sehr freundlich«, murmelte Alfie.
Sie hatten das Ende des Korridors erreicht und waren nun in einem der Seitentrakte. Die Bedienung steckte den Schlüssel ins Schloss von Zimmer 3 und drehte ihn herum. Alfie wappnete sich für das Grauen, das ihn hinter der Tür erwarten mochte. Alles, was er brauchte, war ein Platz zum Schlafen. Und egal, wie furchtbar dieser Raum auch sein mochte, es musste zumindest ein Bett drinnen sein. Die zweite Nacht könnte er morgen immer noch stornieren.
»Sie sind noch rechtzeitig für ein Abendessen unten gekommen«, teilte die Bedienung ihm mit, als sie die Tür öffnete.
Alfie hatte keine Lust auf ein schlechtes Fertiggericht, das in der Mikrowelle erhitzt worden war. »Danke, ich habe im Zug gegessen.«
»Für Tee und Kaffee finden Sie alles im Zimmer«, sagte sie und trat beiseite, um ihn durchzulassen.
Alfie stand ungläubig da. Dicke Deckenbalken und weiß getünchte Wände. Polierter Dielenboden mit antiken Teppichen. Ein Himmelbett mit Samtvorhängen. Dezente, aber effektive Zentralheizung. Ein Flachbildfernseher. Eine sehr moderne Kaffeemaschine.
»Alle Zimmer haben ein direkt angeschlossenes Bad«, fuhr die Bedienung fort und öffnete eine weitere Tür. Das Badezimmer war verblüffend modern mit Wanne und Dusche sowie mit Spiegeln, die vom Boden bis zur Decke reichten. Ein großer Bademantel hing an der Wand, aus dessen Tasche ein Paar Frottee-Hausschuhe lugte.
»Ich hoffe, es ist zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte die Bedienung unsicher.
»Bestens«, antwortete Alfie. »Bestens.«
»Morgen ist Samstag, also gibt es Frühstück erst ab halb acht und bis halb elf«, teilte sie ihm mit und legte den Schlüssel auf die Mahagoni-Kommode. »Falls Sie irgendetwas brauchen, wählen Sie einfach die Null. Und das mit Ihrer Tante tut mir leid. Wenigstens hatte sie ein gutes Leben, und es muss ein Trost für Sie sein, dass sie im Schlaf gestorben ist.«
»Ja, ein großer Trost«, sagte Alfie, der dies zum ersten Mal hörte. »Vielen Dank!«
»Dann gute Nacht«, verabschiedete sich die Bedienung und ging zurück nach unten.
Sowie er allein war, zog Alfie seine durchnässten Sachen aus und gönnte sich ein heißes Bad. Er hatte der sympathischen Bedienung nicht sagen wollen, dass er sich so gut wie gar nicht an seine Tante Augusta erinnerte. Ihm war vage das Bild von einer großen Frau im Gedächtnis haften geblieben, die seltsame, grellbunte Kleidung getragen hatte und hin und wieder seine Großeltern besuchen kam. An ihr Gesicht konnte er sich überhaupt nicht erinnern. Noch vager – so vage, dass es vielleicht nicht mal stimmte – war die Erinnerung an irgendeinen Streit zwischen ihr und seiner Mutter. Seine Mutter hatte nie wieder von seiner Tante gesprochen, doch eigentlich hatte sie insgesamt wenig von ihrer Familie geredet. Es gab so vieles, was er gerne wissen würde, und er wünschte sich, dass er sie hätte fragen können.
Und es gab auch so vieles, was er Tante Augusta hätte fragen wollen. Gewiss hatte er nie erwartet, irgendwas von ihr zu erben, von einem ganzen Cottage ganz zu schweigen. Ein Cottage, von dem er hoffte, dass es die ideale Zuflucht für ihn wäre, solange er ergründete, was er als Nächstes tun wollte. Zumindest fühlte er sich nun ein wenig zuversichtlicher, was dieses Unterfangen anging – trotz Oscars Skepsis.
Er trocknete sich ab, zog den Bademantel und die Hausschuhe an, nahm sein Handy und machte ein Foto von dem stattlich eingerichteten Schlafzimmer. Das Bild schickte er an Oscar mit der Nachricht: »Bunburrysieren hat angefangen. Alles gut.«
Innerhalb einer Minute war Oscars Antwort da: »Auf dem Land kann jeder Mensch gut sein. Dort gibt’s keine Versuchungen.«
Kopfschüttelnd wandte Alfie sich der Kaffeemaschine zu, die einen exquisiten Cappuccino zubereitete. Auf einem Tablett neben der Maschine waren eine Auswahl edler Teebeutel, weißer und brauner Zucker, Süßstoff und eine kleine Zellophantüte mit einer roten Schleife. Alfie hob sie hoch. Das waren doch bestimmt nicht …? Doch, waren es. Er zog die Schleife auf, öffnete die Tüte und griff nach einem der beigen Quadrate. Sogleich biss er hinein. Es war genauso, wie er es in Erinnerung hatte. Schiere Ekstase. Das beste Karamell in den Cotswolds.