Ilona Andrews
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Bernhard Kempen
Zu diesem Buch
Als Gemahlin von Curran, dem Herrn der Bestien, hat die ehemalige Söldnerin Kate Daniels mehr Baustellen, als sie eigentlich bewältigen kann. Sie kämpft nicht nur darum, ihre Detektei weiter am Laufen zu halten, auch die Angelegenheiten des Rudels erfordern immer wieder ihre Aufmerksamkeit. Denn Roland, ein uraltes, grausames Wesen mit gottähnlichen Kräften und zu allem Überfluss auch noch Kates Vater, hat von ihrer Existenz erfahren und es nun auf sie und die Gestaltwandler von Atlanta abgesehen. Während die Bedrohung immer näher rückt, wird Kate zu einem Treffen der Anführer sämtlicher übernatürlicher Fraktionen der Stadt gerufen. Und als einer der Herren der Toten ermordet aufgefunden wird und alles auf einen Gestaltwandler als Täter hindeutet, bleiben Kate nur vierundzwanzig Stunden, um den Mörder zu finden. Sollte sie dabei scheitern, droht ein Krieg, der alles und jeden zerstören könnte, der ihr am Herzen liegt.
Für Anastasia und Helen.
Liebe Leserinnen und Leser,
wir möchten uns bei Ihnen bedanken, dass Sie nun schon seit sieben Jahren Kates Abenteuer lesen. Ihre Unterstützung und Ihr Enthusiasmus für die Serie lässt uns weitermachen.
In diesem Buch passieren gewaltige Dinge. Es liest sich, als wäre es das Ende der Serie, aber das ist es nicht. Während wir dies schreiben, sind wir für drei weitere Bücher unter Vertrag. Ein Feind aus alter Zeit schließt zwar den Handlungsbogen ab, beendet aber nicht die Geschichte. Für diejenigen unter Ihnen, die neu auf die Serie gestoßen sind, haben wir eine Zusammenfassung der Handlung aus Sicht einer der populärsten Nebenfiguren beigefügt und im Anhang ein Personenverzeichnis aufgenommen. Wenn Sie schon lange Fan der Serie sind, kommen Ihnen die Informationen in diesen beiden Teilen wahrscheinlich bekannt vor, und wenn Sie sie lieber überspringen möchten, werden Sie nichts verpassen.
Einige Geschichten sind von großer Bedeutung, wenn die Zukunft der Welt auf dem Spiel zu stehen scheint, während andere klein, aber nicht weniger wichtig sind. Weil Ein Feind aus alter Zeit eine der großen Geschichten ist, wollten wir Ihnen auch noch eine kleinere anbieten. »Magische Prüfungen« ist eine Kurzgeschichte über Julies Abenteuer in einer neuen Schule. Das Schicksal der Welt steht zwar nicht auf dem Spiel, aber das Leben eines Kindes, und wir hoffen, dass Sie den Kontrast zwischen den beiden Erzählungen mögen.
Wie immer möchten wir denjenigen danken, die geholfen haben, diese Geschichte zu Ihnen zu bringen: unserer wunderbaren Lektorin Anne Sowards und unserer Agentin Nancy Yost, die beide bemüht sind, uns auf Linie zu halten; der Herstellerin Michelle Kasper und ihrer Assistentin Julia Quinlan; der Grafikerin Judith Lagerman, der Künstlerin Juliana Kolesova, die für das Titelbild der amerikanischen Originalausgabe verantwortlich ist, und dem Coverdesigner Jason Gill.
Wir möchten dem Rechtsanwalt Jonathon Frisby und seiner Frau danken, der Rechtsanwältin Veronique Cantrell-Avloes, der Rechtsanwältin Noel Goudreau und ihrem Mann, den Rechtsanwältinnen Sarah Javaheri, Carol Najera, Tiffany Murphy, Nina Javan und anderen für ihre unglaubliche Großzügigkeit, ihre Fachkenntnisse und Bereitschaft, hypothetische, kriminelle Fallstudien mit einem Wermungo-Anwalt zu entwickeln. Wir sind zutiefst dankbar. Etwaige gedankliche oder rechtliche Fehler stammen aus unserer Feder.
Wir möchten uns auch bei unseren Beta-Lesern bedanken, die freundlicherweise ihre Zeit und Sachkenntnis zur Verfügung gestellt haben, um das Buch zum bestmöglichen zu machen. Das sind in willkürlicher Reihenfolge: Ying Dallimore, Carrie Wassenaar, Omar Jimenez, William Stonier, Stella Won, Julie Heckert, Laura Hobbs, Antoinette Hodges, Nicole Walford, Michelle Kubecka, Melody LeBaron, Wendy Baceski, Shannon Daigle, Cathy Thilmany, Jeanine Rachau und andere.
Und schließlich möchten wir nochmals Ihnen danken, unseren wunderbaren Lesern.
Aus dem Tagebuch von Barabas Gilliam
Ich heiße Barabas. Ich wurde so genannt, weil meine Mutter ehrgeizig war. Es könnte schlimmer sein. Einer meiner Cousins heißt Luzifer. Ich fragte einmal meine Tante danach, und sie sagte: »Weil ich wollte, dass er gut aussieht und nur an sich denkt.« Boudas oder Werhyänen, wie uns die meisten Leute nennen, haben eine interessante Sicht auf die Welt. Eigentlich bin ich gar kein Bouda. Ich bin ein Wermungo, aber meine Mutter ist eine Bouda, und ich bin bei Boudas aufgewachsen.
Zum Zeitpunkt, als ich dies schreibe, bin ich neunundzwanzig Jahre alt. Ich habe einen Abschluss in Rechtswissenschaften von der University of Virginia und wohne zurzeit in Atlanta. Ich bin als Rechtsanwalt des Rudels tätig und somit Mitglied der größten Gestaltwandler-Organisation in den Südstaaten und der zweitgrößten auf dem nordamerikanischen Kontinent. Außerdem arbeite ich als Berater für die Gemahlin des Rudels. Die Gemahlin nennt mich manchmal ihren Babysitter, und ich finde den Ausdruck sehr passend. Am liebsten würde ich ihr eine dieser grässlichen Kinderleinen anlegen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mir dann den Arm abhacken würde.
Ich lebe in einer merkwürdigen Zeit. Vor meinen Augen geschieht etwas von großer Tragweite, etwas, das vermutlich die Zukunft nicht nur des Rudels, sondern auch meiner Generation und künftiger Generationen drastisch verändern wird. Ich habe einen Platz in der ersten Reihe. Ich bin mittendrin. Doch niemandem um mich herum scheint bewusst zu sein, dass unsere Nachfahren auf diesen Moment zurückblicken und sich fragen werden, wie das alles passiert ist. Jemand muss es dokumentieren. Schließlich wird Geschichte von und für die Überlebenden geschrieben, und zurzeit bin ich mir nicht sicher, wer diese Überlebenden sein werden. Versteht mich nicht falsch, ich habe nicht vor, mich abzuwenden und gelassen in die gute Nacht zu gehen. Ich werde mit den Besten von ihnen rasen, genau wie uns Dylan Thomas’ Gedicht rät. Aber wenn wir schlimmstenfalls nicht erfolgreich sein sollten, muss aufgezeichnet werden, wie hart wir gekämpft haben. Wie es aussieht, werde ich es dokumentieren, da sich sonst niemand dafür interessiert. Merkwürdig, dass es eigentlich immer so kommt.
Am besten fange ich mit dem Anfang an. Die Welt hat eine magische Apokalypse erlebt. Wie zu erwarten war, waren wir allein schuld daran.
In alten Zeiten ergänzten sich Technik und Magie in perfekter Harmonie, doch dann kam das Menschengeschlecht. Es baute eine auf Magie basierende Zivilisation auf. Ungeheuer und Fabelwesen durchstreiften das Land. Zauberer mit gottähnlicher Macht errichteten über Nacht ganze Städte und ließen geflügelte Schlangen und geschmolzenes Metall auf ihre Feinde regnen. (Nur so am Rande, diese Zeiten müssen ein Albtraum gewesen sein. So viel Macht in den Händen einzelner Menschen? Das konnte nur schiefgehen und zu schrecklichem Blutvergießen führen. Man muss nur die Bibel lesen.) Magie und Technik gerieten so sehr aus dem Gleichgewicht, dass die Magie schwand. Die durch Magie erschaffenen Städte zerfielen, ihre Wunder wurden zu Staub und ihre Bestien zu Mythen.
Fünftausend Jahre später. Wir befinden uns am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts und haben eine auf Technik basierende Zivilisation. Wir sind wieder einmal aus dem Gleichgewicht geraten, die Magie schlägt zurück und zieht uns rachsüchtig eins über den Schädel. Sie überflutet den Planeten in Wogen. In diesem Moment regiert die Technik, Verbrennungsmotoren funktionieren, Gewehre schießen, und die Elektrizität hält die Monster fern. Im nächsten überschwemmt eine unsichtbare Woge der Magie das Land, lässt Gewehre versagen und bringt Wesen mit albtraumhaften Zähnen und starkem Appetit hervor. Dann verschwindet die Magie plötzlich und ohne Vorwarnung, das Sondereinsatzkommando der Magier hört auf, Feuer zu speien, und kehrt wieder zu den Gewehren zurück.
Diese Apokalypse wird die Wende genannt. Die Wende hat die technologische Zivilisation zerstört. Luftfahrt ist nicht mehr möglich, weil die Flugzeuge vom Himmel fallen, wenn die Magie einsetzt. Das Internet ist tot, weil wir die meiste Zeit ohne Elektrizität sind und die Magie Computerteile zu Staub zermahlt. Handys funktionieren nicht, außer man ist beim Militär und hat eine hohe Sicherheitseinstufung. Hochhäuser und Wolkenkratzer sind eingestürzt, vom Zahn der Magie zernagt, aber das Leben der Menschen geht weiter. Und im neuen Atlanta nach der Wende kommen neue Interessengruppen und Mächte ins Spiel.
Da ist erstens das Rudel. Ich bin, wie gesagt, ein Gestaltwandler und arbeite für das Rudel, darum liegt mir persönlich viel daran, genau zu erklären, wer wir sind und was wir tun. Das Rudel ist die zweitgrößte Gestaltwandler-Organisation im Land und hat über tausendfünfhundert Mitglieder. Es ist nach Tierarten in sieben Clans unterteilt, also in Boudas, Wölfe und so weiter. Jeder Clan wird von einem Alpha-Paar geleitet. Alle Alphas zusammen bilden den Rudelrat. Aber wie uns Disney gelehrt hat, muss es einen König geben, doch hat unser König den Titel Herr der Bestien, denn wir dynamischen Amerikaner haben ein Problem mit der Monarchie. Sein Name ist Curran Lennart. Curran übernahm mit fünfzehn die Verantwortung für das Rudel, nachdem er einen durchgedrehten Werbär besiegt hatte, dem sonst niemand etwas anhaben konnte. Er einte uns. Er überredete die Alphas, gemeinsam Land zu kaufen und die Festung zu bauen, damit wir einen sicheren Ort haben, wo wir unter uns sein können. Er gab uns Vorschriften und Gesetze und lehrte uns, dass Zuwiderhandlungen nicht toleriert werden. Dank ihm leben wir in relativem Wohlstand zusammen. Wenn Curran sagt, wir sollen springen, springen wir, dass der Boden wackelt. Was nicht heißt, dass er sich nicht auch mal wie ein Arschloch verhält, aber alles in allem klappt es ganz gut mit ihm. Er ist aber auch ein schrecklicher Mistkerl, der nach dem Motto regiert: »Entweder du tust, was ich sage, oder du fliegst raus.« Mehr dazu später.
Wir Gestaltwandler werden vom restlichen Atlanta argwöhnisch betrachtet. Wir verdanken unsere Existenz dem Lyc-V-Virus, doch manchmal überwältigt uns das Virus, und wir verwandeln uns in Loups. Das sind bösartige, verrückte, kannibalische Mörder. Loupismus ist nicht heilbar, darum leben wir alle sehr diszipliniert und konditionieren uns mental, um unsere Gefühle im Zaum zu halten. Wenn alles nicht hilft, bleibt nur noch das Wundermittel, ein Zaubertrunk aus Heilpflanzen. Es kann Loupismus zwar nicht heilen, aber in dreißig Prozent aller Fälle macht es die gerade einsetzende Verwandlung rückgängig. Auch dazu später mehr. In den Augen der Öffentlichkeit ist jeder Gestaltwandler potenziell ein Loup, und »Werwolf« ist immer noch ein negativ besetztes Wort.
Als Nächstes kommen wir zum Volk, auch Freie Menschen genannt. Es ist eine landesweite Organisation mit Niederlassungen in jeder größeren Stadt. Das Volk steuert die Untoten, im Besonderen die Vampire, zum Vergnügen und um Gewinn zu erzielen, aber wenn man sie fragt, geben sie einen zweifelhaften wissenschaftlichen Zweck vor. Vampire haben keinen freien Willen. Der Immortuus-Erreger, der zum Tod und zur nachfolgenden Wiederbelebung des Opfers führt, reinigt seinen Körper von allem, was nicht gebraucht wird, wie innere Organe, Haare, Genitalien und Bewusstsein. Ein Vampir ist eine von unersättlichem Hunger getriebene Fressmaschine. Er spricht nicht, er denkt nicht, er tötet impulsiv alles, und um ihn aufzuhalten, ist eine schwere Hochleistungshaubitze erforderlich, oder man muss ihn enthaupten. Es soll auch funktionieren, wenn man ihn in kleine Stücke hackt, wie die Gemahlin bei vielen Gelegenheiten bewiesen hat. Wenn ein Vampir ausbricht, wird die Stadt in einem Radius von zehn Blocks evakuiert und mehrere Noteinheiten der Polizei werden losgeschickt, weil einem einzelnen Sonderkommando die Munition ausgehen würde, bevor er erledigt ist.
Die Nekromanten – die lieber Navigatoren genannt werden möchten – bemächtigen sich des leeren Geistes eines Vampirs mittels Telepathie und projizieren ihren Willen auf diese weiße Leinwand. Man nennt es »Steuern«. Die Navigatoren benutzen die Vampire wie ferngesteuerte Autos. Sie sehen, was der Untote sieht, sie hören, was er hört, und wenn der Vampir spricht, kommt aus seinem Mund die Stimme des Navigators. Sie können den Vampir in gefährliche Gebiete schicken, während sie im gepanzerten Innern des Casinos einen Kaffee trinken. Die besten Navigatoren bezeichnen sich als Herren der Toten, denn Bescheidenheit gehört nicht gerade zu ihren Tugenden.
Das Volk hat sein Hauptquartier im Casino aufgeschlagen, während unseres die Festung ist. In der Stadt ist das Volk die stärkste Konkurrenz des Rudels. Wenn wir aneinandergeraten, gibt es unweigerlich Tote. Um mögliches Blutvergießen zu verhindern, haben wir die Stadt offiziell in ihr »Territorium« und in unseres aufgeteilt. Bei einigen Straßen und Gegenden ist es etwas komplizierter, aber vereinfacht gesagt, gehören der Norden und Nordosten uns und der Süden und Südwesten ihnen. Das ist also gemeint, wenn wir von »Stadt-Territorium« reden. Im jeweils anderen Territorium besitzen wir keine Immobilien, und wir patrouillieren an unseren imaginären Grenzen.
Das Volk ist derzeit mit einem inneren Machtkampf beschäftigt. Der Chef von Atlanta ist abgetreten – vielleicht wurde er auch ermordet, keiner weiß es –, und zwei Herren der Toten manövrieren sich gerade an die Spitze. Der eine ist Ghastek, der brillant, kompetent und äußerst gefährlich ist und sich in lebensüberdrüssige Arroganz hüllt. Im Grunde ist er ein Rechthaber mit Sachverstand und einem Vampirrudel als Unterstützung. Der andere ist Mulradin, von dem wir nur wenig wissen, außer dass er ein Familienmensch ist und sich aufregt, wenn jemand in Hörweite seiner Frau harmlose Sachen wie »Verdammter Mist!« sagt, da man sie nicht mit solchen Derbheiten besudeln darf. Der kann mich mal!
Und jetzt kommt der Hammer: Die wenigsten wissen es, aber das gesamte Volk muss sich vor einem Mann verantworten. Erinnert ihr euch an das Zeitalter der Magie und der Magier mit gottähnlicher Macht? Angeblich sind beim Verschwinden der Magie aus der Welt nicht alle Magier gestorben. Einige von ihnen sind in die Hibernation gegangen, vergleichbar dem Winterschlaf. Jahrtausende später hat die Wende einen von ihnen auferweckt. Man stelle sich vor: ein Mann losgelöst von ethischen und moralischen Werten. Ein Mann, der früher ein Imperium regierte. Ein Zauberer-König, der sich seine eigenen Gesetze machte, und der seit Jahrtausenden die Macht hat, mit einer einzigen Zauberei das Leben Abertausender auszulöschen. Eine wandelnde Atombombe. Ein so mächtiger Mann, dass er keinen Namen braucht. Man bezeichnet ihn als den Vater der Untoten, den Erbauer der Türme.
Er nennt sich jetzt Roland. Ich fragte die Gemahlin danach, und sie zeigte mir das Rolandslied. Ein Versepos aus dem zwölften Jahrhundert über einen Ritter, der aufgrund eines Verrats aus dem Hinterhalt überfallen wurde und sich aus Stolz so lange weigerte, mit dem Signalhorn um Hilfe zu rufen, bis all seine Soldaten tot waren. Schließlich blies er so heftig, dass seine Schläfen platzten und er als Märtyrer starb. Die Interpretation überlasse ich euch.
Vor Jahrtausenden erschuf Roland die Vampire, und jetzt regiert er das Volk von seinem Territorium im Mittleren Westen der USA aus. Es ranken sich viele Gerüchte und Sagen um ihn, in denen er unter verschiedenen Namen im Volksmund, in der Thora, in der Bibel und in anderen heiligen Büchern genannt wird. Roland hat angeblich zwei Leidenschaften. Erstens ist er ein Baumeister. Er baut Weltreiche auf. Er kann nicht anders. Er glaubt, dass wir nur unter seinem Regime Erleuchtung erlangen können. Er hält nicht viel von Demokratie, was für uns eine sehr schlechte Nachricht ist. Zweitens wird er von Liebe getrieben. Er verliebt sich oft und zeugt übermächtige Kinder, die sich früher oder später gegen ihn wenden, sodass er sie umbringen muss. Abraham war zum Beispiel einer von ihnen. Sie hatten einen Streit, worauf Roland ihn ins Exil verbannte, wo er später in Armut starb. Nicht unbedingt so, wie es uns die Bibel lehrt, aber was soll’s.
Bevor Roland in die Hibernation ging, schwor er der Fortpflanzung ab. Aber als er während der Wende aufwachte, muss ihn die Euphorie, dass er noch am Leben war, gepackt haben. Vermutlich aus dem gleichen Grund, warum Leute nach Beerdigungen Sex haben. Roland verliebte sich in eine Frau namens Kalina. Sie wollte Kinder, und er sah das ganz entspannt, bis ein Kind unterwegs war, eine Tochter, worauf Roland beschloss, kurzen Prozess zu machen und sie im Mutterleib zu töten. Kalina besaß ihre eigene Magie, sie konnte jeden betören und wollte unbedingt ihr Baby retten. Sie behexte Rolands Kriegsherrn Voron, sodass er glaubte, er wäre in sie verliebt. Dann rissen sie zusammen aus. Kalina brachte ihr Baby zur Welt, aber Roland holte sie schließlich ein. Kalina dachte, dass von ihnen beiden Voron die besseren Chancen hätte, zu überleben und das Baby großzuziehen, also befahl sie ihm, mit dem Baby wegzulaufen. Sie blieb zurück und trat Roland entgegen. Sie stach ihm ein Auge aus, und er tötete sie.
Keine schöne Geschichte.
Voron war ein kaltblütiger Bastard und ein talentierter Kämpfer, der eigentlich Rolands Heere hätte anführen sollen. Ein Kerl, der wahrscheinlich Hunderte von Menschen getötet hatte, um so gut zu werden, allein mit diesem Baby. Sein Gehirn ist von Kalinas Magie für immer durchgeschmort. Also sieht er sich das kleine gurrende Baby an, die Tochter der wahrscheinlich einzigen Frau, die er jemals geliebt hat, und sagt sich nicht: »Es ist mir wenigstens etwas von ihr geblieben. Ich werde das Kind großziehen und alles in meiner Macht Stehende tun, um es zu beschützen und es zu lieben, damit es ein glückliches Leben hat.« Nein, er sieht es an und denkt: »Ich werde mich rächen.« Denn er ist ein kaltblütiger Bastard.
Er nimmt das Baby auf, er formt und bildet es aus, bis es zu einer lebenden Waffe geworden ist. Sie kann mit ihrem Schwert töten. Sie kann mit einem Zahnstocher töten. Sie kann mit bloßen Händen töten. Ich bin ein Wermungo. Ich bin verdammt schnell. Wenn ich mich langweile, spiele ich mit meiner Lieblingskobra, und das meine ich nicht im übertragenen Sinn. Ich werde nie gebissen, weil ich schnell genug bin, einem Schlangenangriff auszuweichen. Wenn Kate das Schwert schwingt, kann ich es manchmal nicht sehen. So schnell ist sie.
Während das kleine Mädchen also heranwächst, zieht es mit Voron durch Nord- und Südamerika. Sie bleiben nie lange an einem Ort. Sie trainiert einen Monat in Oklahoma, im nächsten ist sie auf einem Gladiatorenkampfplatz in Brasilien. Die ganze Zeit erzählt er ihr, dass ihr Vater ihre Mutter getötet hat und auch sie töten wird, sobald er sie ausfindig gemacht hat. Das ist alles wahr. Aber Voron erzählt ihr auch, dass sie nur überleben kann, wenn sie Roland tötet. Noch bevor sie in die Pubertät kommt, lernt sie, wie man Menschenleben beendet. Der Schaden, der ihr als Kind zugefügt wurde, ist enorm. Aber das ist noch lange nicht das Schlimmste.
Voron machte aus ihr eine perfekte Mörderin, aber er konnte ihr keine Magie beibringen. Er selbst benutzte die Magie nicht, also erlernte sie einige grundlegende magische Fähigkeiten von Hexen und von Magiern, aber sie übte sich nicht in der Blutmagie, was Rolands Ressort war – erstens, weil es ihr niemand beibringen konnte, und zweitens, weil sie dachte, es würde sie verraten. Und es gibt noch einen dritten Grund. Es bestand dazu keine Notwendigkeit, denn Voron wusste, wozu Roland in der Lage war. Er wusste, dass Kates Fähigkeiten ausreichten, um sich zu Roland durchzukämpfen, aber sie würde gegen ihren Vater keine Chance haben. Das war der Haken an seiner Rache. Er hatte dieses Kind vom Babyalter an nur aufgezogen, damit er eines Tages zusehen konnte, wie Roland sein eigen Fleisch und Blut tötete oder getötet wurde. Mehr will ich dazu nicht sagen.
Doch er selbst sollte es nicht mehr erleben. Roland suchte sich einen neuen Kriegsherrn und nahm Vorons besten Schüler, den Jungen, den er wie einen Sohn aufgezogen hatte, und ernannte ihn zum Kriegsherrn. Sein Name ist Hugh d’Ambray oder »krankes Ekel«, was besser zu ihm passt. Hugh d’Ambray hatte Voron seit seinem Verrat gejagt. An einem Tag, als Kate nicht im Haus war, fand Hugh ihn und tötete ihn. Er behauptet zwar, er wäre deswegen untröstlich, aber man darf dem verlogenen Mistkerl kein Wort glauben.
Nach Vorons Tod war Kate auf sich allein gestellt. Ein Ritter des Ordens der mildtätigen Hilfe übernahm vorübergehend die Vormundschaft über sie und wollte sie an die Akademie des Ordens schicken, aber dann schied sie vorzeitig aus. Der Orden ist eine halbamtliche Strafverfolgungsbehörde. Sein Rechtsstatus ist undurchsichtig, wie ich jedem erzähle, der es hören will. Es sind Fanatiker mit einer starren Geisteshaltung, die jeden, der vom durchschnittlichen Homo sapiens abweicht, als nichtmenschlich einstufen.
Ihr habt gelesen, was ich geschrieben habe. Haltet ihr mich für menschlich?
In den Augen dieser Typen sind Charles Manson und Jack the Ripper menschlicher als ich. Wäre unsere Polizei nicht überfordert, würde ihre Anwesenheit nicht toleriert werden. Man sollte sie erst gar nicht zulassen. Aber es ist nun mal so, wenn sich jemand anbietet, den lästigen Greif zu beseitigen, der in der Nachbarschaft mordet, und dazu noch kostenlos, wenn man es sich beim besten Willen nicht leisten kann, dann schauen die wenigsten dem geschenkten Gaul ins Maul.
Kate fand, dass die Gehirnwäsche des Ordens nichts für sie war. Sie vagabundierte in Georgia herum und kam immer wieder nach Atlanta. Sie arbeitete eine Weile für die Söldnergilde. Das sind die Jungs, die man rufen kann, wenn man Geld und ein Ungeheuer im Garten hat, während die Polizei alle Hände voll mit einer giftigen, fliegenden Qualle in der City zu tun hat. Sie versuchte, in der Schusslinie unsichtbar zu bleiben. Es wäre ihr vermutlich gelungen, wenn sie nicht auf den Herrn der Bestien gestoßen wäre. Wie ich bereits sagte, ist er ein furchterregender, herrischer Typ. Sie dagegen hasst jede Autorität. Er sagte: »Spring!« Sie sagte: »Leck mich!« Natürlich mussten sie sich heftig ineinander verlieben. Und wenn ich heftig sage, meine ich es auch so.
Kate gibt sich niemals mit halben Sachen zufrieden. Ich bin mir sicher, dass Voron eine Psychopathin aus ihr machen wollte, aber das ist ihm nicht gelungen. Kate würde sich in jeder Gefahrensituation vor den ersten idiotischen Schaulustigen schmeißen. Sie fand das halb verhungerte Kind einer Alkoholikerin auf der Straße und wäre fast gestorben, als sie es vor Dämonen rettete, worauf sie es adoptierte. Julie ist in jeder Hinsicht ein außergewöhnliches Kind, auch was den Ärger betrifft, den sie einem bescheren kann. Sie ist nicht leicht großzuziehen. Doch ich habe nie Klagen von Kate gehört.
Kate zählt mich zu ihren Freunden. Das ist ein Privileg. Es bedeutet, dass ich über mehrere Bundesstaaten Entfernung anrufen und sagen kann: »Ich sitze in der Patsche.« Dann kommt sie mit ihrem Schwert und holt mich raus, ohne dass sie dafür eine Gegenleistung erwartet. So etwas ist selten. Curran mag zwar der Herr der Bestien sein und ein Sturkopf dazu, aber er wusste sofort, was er an ihr hatte, als er ihr zum ersten Mal begegnete. Deshalb ist sie nun die Gemahlin des Rudels. Wir hätten schon vor sehr langer Zeit eine Gemahlin gebraucht. Jemanden, der dafür sorgt, dass Curran ausgeglichen bleibt. Dann kam sie, die vernünftig und auf Gerechtigkeit bedacht ist. Eine Zeitlang lief alles bestens.
Erinnert ihr euch an das Wundermittel, das ich erwähnte, die Kräutermedizin, die verhindert, dass wir uns in Loups verwandeln? Bis vor Kurzem blieb es uns verwehrt. Es wurde irgendwo in Europa hergestellt, und man wollte es uns auf gar keinen Fall verkaufen. Im letzten Sommer erhielten der Herr der Bestien und seine Gemahlin plötzlich die Einladung, in einem kleinen Land am Schwarzen Meer den Zwist in einer Familie von Gestaltwandlern zu schlichten. Man wollte sie mit dem Wundermittel bezahlen. Wir alle wussten, dass es eine Falle war, und wir alle wollten sehen, wer dahintersteckte. Es war Hugh d’Ambray. Er war den Brotkrumen gefolgt und hatte Kate gefunden. Eine Frau, die von dem Mann ausgebildet worden war, den er als seinen Vater betrachtete. Sie konnte besser mit dem Schwert umgehen als er. Sie ist die Tochter des Kerls, den er verehrt. Merkt ihr, worauf ich hinauswill? Hugh will sie haben, und er wird kein Nein akzeptieren. Sie hasst ihn, weil er ein krankes Ekel ist und ihren Sensei getötet hat. Es wurde schnell ungemütlich und endete mit einem gewaltigen Gefecht und einer Burg in Flammen.
Wir bekamen das Wundermittel nicht, aber wir retteten Christopher, einen verrückten Magier, den Kate aus einem Käfig befreit hatte, in dem Hugh ihn langsam verhungern lassen wollte. Christopher ist nicht ganz bei sich. Doch wie sich herausstellte, konnte er das Wundermittel herstellen, womit wir jetzt Selbstversorger sind, aber der Preis war hoch. Wir verloren Tante B, die Alpha des Bouda-Clans. Boudas sind Außenseiter. Die anderen Gestaltwandler vertrauen uns nicht. Wir handeln unorthodox. Tante B hatte sich um uns gekümmert. Um mich. Ich kann gar nicht sagen, was sie mir bedeutet hat. Sie ist nicht mehr da. Kate sah sie sterben. Es nagt an ihr. Ich kann es ihr ansehen. Sie sucht das Grab von Tante B öfter auf als ihr Sohn, und Raphael ist dort, wann immer er kann.
Jetzt stehen wir wieder an einem Scheideweg. Wir wissen nicht, ob Hugh noch lebt oder gestorben ist. Curran hatte Hugh das Genick gebrochen und ihn ins Feuer geworfen, aber Kate glaubt, dass er sich rechtzeitig herausteleportiert hat. Wir wissen, dass die Tage des Versteckens gezählt sind. Roland wird seine Tochter holen. Er hat das Rudel schon mehrmals durch seine Agenten angegriffen. Er mag uns nicht, weil wir wachsen und schlagkräftiger werden. Doch ganz gleich, ob Hugh überlebt hat oder nicht, jetzt wird Roland mit Sicherheit kommen. Falls Hugh tot ist, wird Roland kommen, um herauszufinden, wer ihn getötet hat. Falls Hugh am Leben ist, wird er Roland von seiner Tochter erzählt haben, und Roland wird sie aufsuchen.
Wie gesagt, jetzt ist der Moment, wo alles in der Schwebe ist. Wenn Roland uns angreift, werden wir nicht nur für die Gemahlin kämpfen, sondern auch um unser Überleben, so dramatisch es klingen mag. Roland versteht zwar das Konzept der Freiheit der Person. Er hält es nur für total überbewertet. Uns bedeutet die Freiheit alles. Wir wollen keine Sklaven sein. Kate ist unsere große Hoffnung, um ihn aufzuhalten, aber – wenn dieses lästige Wörtchen nicht wäre! – sie weiß, dass sie ihm mit ihrer Magie nicht ebenbürtig ist. Die Hexenzirkel von Atlanta unterstützen sie, indem sie sie mit dem Blut von Untoten versorgen, damit sie sich in der Blutmagie ihres Vaters üben kann. Sie lernt dazu, aber ich fürchte, nicht schnell genug. Wenn Roland Atlanta einnimmt, werden andere Städte folgen. Wir als Rudel haben die besten Chancen, ihn abzuwehren.
An unserem Horizont zieht ein Sturm auf. Wir werden Widerstand leisten, aber niemand weiß, ob es am Ende etwas nützen wird.