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HONORÉ DE BALZAC

Von Edelfedern, Phrasendreschern und Schmierfinken

Die schrägen Typen der Journaille

Herausgegeben

und aus dem Französischen übersetzt

von Rudolf von Bitter

MANESSE VERLAG

ZÜRICH

TYPENLEHRE DER PARISER PRESSE

(Monographie de la presse parisienne)

Mit einer synoptischen Tafel

der Klasse der Schriftsteller

HINWEIS FÜR RAUBDRUCKER

Nachdem sich das Volk der Schriftsteller (wie das der Schausteller) in einem Verband zum Schutz seines Eigentums zusammengeschlossen hat, musste dabei herauskommen, was in Frankreich bei vielen Institutionen herauskommt, nämlich ein Widerspruch zwischen Absicht und Ergebnis: Geistiges Eigentum wird mehr denn je gestohlen. Und da Frankreich mittlerweile genauso belgisch ist wie Brüssel,1 sehen wir Verleger, die wir noch dem allgemeingültigen Recht unterstehen, uns genötigt, schlicht zu erklären:

  1. – dass Die Typenlehre der Pariser Presse unser Eigentum ist,
  2. – dass deren Registrierung ordnungsgemäß erfolgt und
  3. – dass jede anderweitige Veröffentlichung dieses Werks bestraft wird, weil ein Nachdruck im Namen des Autors ausdrücklich untersagt ist.

Wir haben gehört, wie Victor Hugo mit der ihm eigenen Beredsamkeit einen Gedanken durchspielte, dessen Wiedergabe wir wie folgt riskieren:

Frankreich hat zwei Gesichter. So außerordentlich militärisch es sich zu Zeiten des Krieges aufführt, so machtvoll gibt es sich im Frieden kraft seiner Ideen. Die Feder und das Schwert sind seine bevorzugten Waffen. Frankreich ist erfinderisch, denn es verfügt über geistige Fähigkeiten; es ist künstlerisch, denn die Kunst ergänzt die Literatur; es treibt Handel, stellt her, baut an, weil eine Nation ihre Erzeugnisse hervorbringen muss wie eine Seidenraupe ihren Kokon. Doch auf diesen drei Gebieten hat es Rivalen, die ihm zurzeit noch überlegen sind, obwohl seine Armeen fünfzehn Jahre gegen die ganze Welt gekämpft haben und es dank der Macht seiner Gedanken die moralische Vorherrschaft hält.

Die Engländer haben eine reizende Redewendung für die Notwendigkeit, von sich selbst zu reden: Offenbar habe jemand, sagen sie, «seine Trompeter verloren».

Victor Hugo sprach für Frankreich.

Ist es nicht ein Jammer, dass die derzeitige Regierung mit ihrer Achtlosigkeit gegenüber der Literatur unseren großen Dichter so weit gebracht hat auszusprechen, was in Europa allenfalls gedacht werden durfte?

Wenn Frankreichs Federn eine solche Macht haben, ist es Zeit, das Volk der Schriftsteller (wie das der Schausteller) kritisch zu erfassen.

Und muss man nicht an die Spitze dieses Volkes die Ordnungen Publizist und Kritiker stellen, die mit ihren Gattungen und Arten die Pariser Presse ausmachen, diese gewaltige Macht, deren Niedergang durch die Unfähigkeit der Regierung regelmäßig hinausgezögert wird?

Grundsatz

Man richtet die Presse zugrunde, wie man eine Gesellschaft zugrunde richtet: indem man ihr alle Freiheit lässt.

Für diese Abhandlung vom Zweihänder in Gesellschaft haben wir unsere Aufmerksamkeit besonders jenem Bereich gewidmet, dem die Zoologie ihre Typenlehre über Ringelwürmer, Mollusken und Maden verdankt und dem es an eigenartigen Wesensformen gar nicht mangeln kann. Wir hoffen, dass dieses Stück sozialer Naturgeschichte in anderen Ländern mit einigem Vergnügen gelesen wird, zumal seine kräftige Bildsprache einer Ikonografie2 alle Ehre machen dürfte.

ALLGEMEINE EIGENSCHAFTEN

Das Wichtigste am Charakter jener beiden Ordnungen Publizist und Kritiker ist, dass sie keinen haben. Die Exemplare der Gattung Publizist mit eigenem Ressort (machen Sie es dabei wie die Regierung, kommen Sie bei gegebenem Anlass darauf zurück), die sich irgendetwas in der Art bewahrt haben sollten, besitzen aber auch nicht einen Hauch davon. Sonst genügten sie in einem ganz wesentlichen Punkt nicht den Bedingungen der französischen Politik, die sich jeder Bewertung entzieht und sich, bar allen Sinns, wie sie ist, der Philosophie anempfiehlt. Allerdings sind innerhalb der Ordnung der Publizisten einige Individuen bemerkt worden, die immer dasselbe schreiben und stets denselben Artikel wiederholen, weil ihnen sonst nichts einfällt, und die darum im Ansehen stehen, Charakter zu haben. Es sind Besessene, deren harmloser Wahn den gläubigen Abonnenten einlullt und den selbstdenkenden Abonnenten belustigt. Sollten Fremde sich darüber wundern, müssen sie sich unseren Nationalcharakter vor Augen halten, der bei Mensch und Amt dieselbe Wirkung zeitigt. In Frankreich findet das Publikum Leute mit Überzeugungen langweilig und geistig bewegliche Menschen charakterlos. Dieses Dilemma, dem die Exemplare unserer beiden Ordnungen ständig ausgesetzt sind, macht ihre Lage höchst prekär. Wenn ein geistreicher Autor wie eine schmierige Fliege von Zeitung zu Zeitung wechselt, sich also nacheinander royalistisch, regierungstreu, liberal und dann wieder regierungstreu gibt und insgeheim für alle Blätter gleichzeitig weiterschreibt, so sagt man von ihm: «Das ist ein Mann ohne Haltung!» Wenn sich einer zum liberalen Kuckuck, zum humanitären Kuckuck oder zum Oppositionskuckuck macht und seine Melodie nicht variiert, so sagt man von ihm: «Der ist langweilig.» So finden sich die geistreichsten Exemplare letztlich bei den Nihilogen und bei den Monothematikern. Diese zwei Gattungen entziehen sich dem drohenden Dilemma, indem sie unlesbar schreiben. (Darauf kommen wir, wie die Regierung, später zurück.)

Was ihre äußere Erscheinung angeht, so fehlt es diesen Geschöpfen ganz allgemein an Wohlgestalt, obwohl sie sich mittels Lithografie und Gips, mit Statuetten und falschen Haarteilen zu Charakterköpfen stilisieren. Fast alle entbehren jener Umgangsformen, die die Schriftsteller des 18. Jahrhunderts ihrem Verkehr in den Salons verdankten, wo sie gefeiert wurden. Die heutigen leben isoliert dank ihrer Einbildung und kennen einander kaum aus Angst vor schlechtem Umgang. Ihr Einzelgängertum hindert aber nicht alle Exemplare, neidisch auf die Stellung, das Talent, das Glück und die persönlichen Vorteile ihrer Artgenossen zu blicken. Das heißt, dass ihr wildes Verlangen nach Gleichmacherei just daher rührt, dass sie untereinander die verletzendsten Ungleichheiten anerkennen.

1 Belgien war zu Balzacs Zeit das Zentrum des Raubdrucks.

2 Ursprünglich die klassische Porträtkunde der Antike.

Erste Ordnung

DER PUBLIZIST

Publizist3 – dieses Wort, das früher große Autoren wie Grotius, Pufendorf, Bodin, Montesquieu, Bentham, Mably, Savary, Smith und Rousseau4 vorbehalten war – ist nunmehr zur Bezeichnung all jener Schreiberlinge geworden, die Politik machen. Aus dem einstigen erhabenen Vermittler, Propheten und guten Hirten der Gedanken ist heute ein Mann geworden, der sich mit dem Treibholz der Aktualität abgibt. Bildet sich auf den politischen Organen ein Pickel, kratzt der Publizist ihn auf, knetet ihn, drückt ihn aus und zapft daraus ein Buch, das nicht selten eine Irreführung ist.

Die Publizistik war einmal ein großer konzentrischer Spiegel. Die Publizisten von heute haben ihn in Stücke zerlegt, und jeder von ihnen hat eins davon, um damit in den Augen der Masse zu glänzen. Anhand dieser verschiedenen Scherben ergeben sich folgende Gattungen:

3 Zu Balzacs Zeit Bezeichnung für politische Journalisten.

4 Alle hier und im Folgenden genannten Personen werden im Namenverzeichnis des Anhangs erklärt.