Über Elisa Shua Dusapin

Elisa Shua Dusapin, geboren 1992, wuchs als Tochter eines französischen Vaters und einer südkoreanischen Mutter in Paris, Séoul und Porrentruy auf. Sie hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studiert. »Ein Winter in Sokcho« ist ihr erster Roman, für den sie u. a. den Robert Walser Preis 2016 erhalten hat.

Andreas Jandl, geboren 1975, studierte Theaterwissenschaften, Anglistik und Romanistik in Berlin, London und Montréal. Er ist Übersetzer aus dem Französischen und Englischen, u. a. von J.A. Baker, Nicolas Dickner, Mike Kenney, Marie-Renée Lavoie, Robert Macfarlane, Maaza Mengiste und Gaétan Soucy.

Informationen zum Buch

»Ein Winter in Sokcho ist ein kleines Meisterwerk.« Jury Robert Walser Preis

Im eiskalten Sokcho, einem Küstenort kurz vor Nordkorea, begegnen sie sich: die junge Angestellte der Pension und der Künstler aus der Normandie. Während er die Stille von Sokcho zum Zeichnen sucht, möchte sie ihr entfliehen. Mit jedem Gespräch, jedem Spaziergang durch das winterliche Nirgendwo kommen die beiden einander näher. Zwei Gestrandete, die sich nach einem Neuanfang sehnen und ihn jeder auf seine Weise wagen.

»Ein erster Roman von einzigartiger Schönheit.« Le Figaro Littéraire

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Elisa Shua Dusapin

Ein Winter in Sokcho

Roman

Aus dem Französischen von Andreas Jandl

Inhaltsübersicht

Über Elisa Shua Dusapin

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Glossar

Anmerkungen

Impressum

Verloren in seinem Wollmantel stand er da.

Er stellte den Koffer ab, vor meinen Füßen, zog die Mütze vom Kopf. Westliches Gesicht. Dunkle Augen. Haare zur Seite gekämmt. Sein Blick ging durch mich hindurch. Mit gelangweilter Miene fragte er auf Englisch, ob er ein paar Tage bleiben könne, bis er etwas anderes finde. Ich hielt ihm ein Formular hin. Er gab mir seinen Reisepass, damit ich alles selbst ausfüllte. Yan Kerrand, 1968, aus Granville. Ein Franzose. Auf dem Foto wirkte er jünger, das Gesicht weniger eingefallen. Ich bot ihm meinen Stift zum Unterschreiben an, er zog aus seinem Mantel einen Füllfederhalter. Während ich ihn eincheckte, zog er die Handschuhe aus, legte sie auf den Tresen, besah sich den Staub, die Winkekatze über dem Computer. Zum ersten Mal verspürte ich das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen. Für den miesen Zustand der Pension war ich nicht verantwortlich. Ich arbeitete hier erst seit einem Monat.

Es gab zwei Gebäude. In dem einen: Rezeption, Küche, Aufenthaltsraum, zwei Etagen mit Zimmern. Orange-grüne Flure, bläuliche Glühbirnen. Der alte Pensionswirt Park stammte aus der Zeit nach dem Krieg, als man Gäste mit blinkenden Lichterketten köderte wie Tintenfische. Wenn ich an klaren Tagen am Herd stand, konnte ich den Strand entlang bis zu den Bergen von Ulsan sehen, sich in den Himmel wölbenden Matronenbrüsten. Das Nebengebäude ein paar Straßen weiter, ein Pfahlbau im traditionellen Stil, war renoviert worden, damit die beiden Zimmer mit ihren Papierwänden wieder beheizbar und ganzjährig bewohnbar wurden. Im Innenhof ein eingefrorener Brunnen, ein kahler Kastanienbaum. Die Pension des alten Herrn Park war in keinem Reiseführer erwähnt. Man landete dort durch Zufall, wenn man zu viel getrunken oder den letzten Bus verpasst hatte.

Der Computerbildschirm fror ein. Während der Rechner rappelte, erklärte ich dem Franzosen den Tagesablauf in der Pension. Normalerweise übernahm das der alte Park. Doch an diesem Tag war er nicht da. Frühstück von fünf bis zehn in der Küche neben der Rezeption, hinter der großen Scheibe. Toast, Butter, Marmelade, Kaffee, Tee, Orangensaft und Milch inbegriffen. Für Früchte und Joghurt bitte tausend Won in den Korb über dem Toaster. Schmutzige Wäsche einfach in die Maschine am Ende des Flurs im Erdgeschoss, ich kümmerte mich dann darum. Der WLAN-Code: ilovesokcho, zusammen geschrieben ohne Großbuchstaben. Der Minimarkt, geöffnet rund um die Uhr, fünfzig Meter die Straße runter. Bushaltestelle links hinter dem Supermarkt. Fahrtzeit zum Seoraksan-Nationalpark eine Stunde, geöffnet bis Sonnenuntergang. Festes Schuhwerk mitnehmen wegen des Schnees. Sokcho war ein Badeort. Im Winter passierte nicht viel, nur dass er Bescheid wusste.

Gäste gab es kaum zu dieser Jahreszeit. Ein japanischer Bergsteiger und eine junge Frau in ungefähr meinem Alter, die aus der Hauptstadt geflohen war, um sich von einer Schönheitsoperation im Gesicht zu erholen. Seit zwei Wochen wohnte sie schon hier, ihr Freund besuchte sie gerade für zehn Tage. Ich hatte alle im Hauptgebäude untergebracht. Seit dem Tod von Parks Frau im letzten Jahr war der Pensionsbetrieb eingeschränkt. Park hatte die Zimmer im ersten Stock leer geräumt. Wenn man meines und seines mitzählte, waren oben gerade alle belegt. Der Franzose würde im Nebengebäude schlafen.

Es war dunkel. Wir gingen durch eine Gasse bis zum Verkaufsstand der alten Kim. Der Knoblauchgeruch ihrer Schweinebällchen mischte sich mit den Ausdünstungen des Gullys drei Meter weiter. Das Eis knackte unter unseren Sohlen. Fahles Neonlicht. Nachdem wir eine zweite Gasse durchquert hatten, kamen wir zum Zauntor.

Kerrand schob die Haustür auf. Rosa Wandfarbe, Spiegel mit pompösem Rahmen aus Plastik, Schreibtisch, violettes Bettzeug. Sein Haar berührte die Zimmerdecke, für ihn waren es kaum zwei Schritt von der Wand zum Bett. Ich hatte ihm das kleine Zimmer gegeben, damit ich weniger putzen musste. Das gemeinsame Badezimmer befand sich auf der anderen Gebäudeseite, aber das Haus hatte ein überstehendes Dach, das ihn bei Regen schützen würde. Ihm war das einerlei. Er betrachtete die Flecken und Risse in der Tapete, stellte den Koffer ab, gab mir fünftausend Won, die ich nicht annehmen wollte. Mit müder Stimme aber drang er darauf.

Auf dem Rückweg zur Rezeption ging ich über den Fischmarkt, um bei meiner Mutter die Reste abzuholen, die sie immer für mich aufhob. Ich durchquerte die Reihen bis zum Stand Nr. 42, ignorierte die Blicke, die ich im Vorbeigehen auf mich zog. Auch dreiundzwanzig Jahre nachdem mein Vater meine Mutter verführt und sie dann sitzengelassen hatte, bot ich als Halbfranzösin immer noch Anlass für Gerede.

Meine Mutter, wie üblich zu stark geschminkt, hielt mir eine Tüte Baby-Tintenfische hin.

»Heute gibt’s nur die. Hast du noch Chilipaste?«

»Ja.«

»Ich gebe dir welche mit.«

»Nein, nein, ich hab noch.«

»Warum nimmst du sie nie?«

»Tu ich doch!«

Mit einem Schmatzen rechts und links zog sie ihre gelben Gummihandschuhe über und musterte mich misstrauisch. Ich sei zu dünn. Der alte Park ließe mir nicht genügend Zeit zum Essen, sie würde mit ihm reden. Ich protestierte. Seitdem ich dort arbeitete, verschlang ich jeden Morgen mehrere Toasts und trank literweise Milchkaffee, ich war bestimmt nicht dünner geworden. Dem alten Park war meine Art zu kochen fremd, dennoch hatte er mir den Platz der Pensionsköchin überlassen.

Die Tintenfische waren winzig. In eine Hand passten zehn Stück. Die schlechten sortierte ich aus und karamellisierte die guten mit Schalotten, Sojasauce und Zucker in mit Wasser verrührter Chilipaste. Ich drehte das Gas runter, damit sie nicht zu trocken wurden. Sobald die Sauce angedickt war, fügte ich Sesam und Tteok1 in daumendicken Scheiben hinzu. Dann schnitt ich die Karotten. Im Spiegel der Klinge eine seltsame Vereinigung der pflanzlichen Struktur mit dem Fleisch meiner Finger.

Ein kalter Luftzug fuhr in den Raum. Als ich mich umdrehte, sah ich Kerrand hereinkommen. Er wollte ein Glas Wasser. Während er trank, beobachtete er meine Arbeitsplatte, als wäre sie ein unverständliches Bild. Abgelenkt schnitt ich mir in die Handfläche. Das Blut perlte auf die Karotten, überzog sie mit einer bräunlichen Schicht. Kerrand holte ein Taschentuch hervor. Er kam zu mir und drückte es auf die Wunde.

»Immer schön aufpassen.«

»War nicht absichtlich.«

»Na, zum Glück.«

Er lächelte, hielt meine Hand fest. Ich fühlte mich unbehaglich, machte mich los. Er deutete auf die Pfanne.

»Gibt es das heute Abend?«

»Ja, um sieben Uhr, nebenan.«

»Mit Blut.«

Feststellung, Ekel, Ironie. Ich konnte seinen Unterton nicht einordnen. Inzwischen war er hinausgegangen.

Zum Essen kam er nicht.

In der Küche hockte meine Mutter, das Kinn auf der Brust, die Hände tief in einem Eimer. Sie vermengte Fischleber mit Süßkartoffel-Fadennudeln und Lauch, um die Mischung in Tintenfische zu stopfen. Ihr gefüllter Sepia war in der ganzen Stadt als einer der besten bekannt.

»Guck, wie ich knete, damit sich alles verteilt.«

Ich hörte ihr kaum zu. Der Saft spritzte aus dem Eimer, sammelte sich an unseren Stiefeln und rann zum Abflussgitter in der Mitte des Raums. Meine Mutter wohnte im Hafen über der Anlieferungshalle des Fischmarkts, in einer Wohnung für Fischhändler. Laut. Billig. Die Wohnung meiner Kindheit und Jugend. Ich besuchte sie immer am Sonntagabend und blieb über Nacht, da ich montags freihatte. Seit ich ausgezogen war, konnte sie schlecht allein schlafen.

Meine Mutter reichte mir einen Tintenfisch, damit ich auch mal einen füllte, und legte mir seufzend den triefenden Handschuh auf die Hüfte:

»Eine so schöne Frau, und immer noch nicht verheiratet …«

»Jun-oh muss erst Arbeit finden. Wir haben Zeit.«

»Alle glauben, sie haben Zeit.«

»Ich bin nicht mal fünfundzwanzig.«

»Eben.«

Ich versprach, dass die Verlobung bald komme, dass es nur eine Frage von Monaten sei. Meine Mutter war beruhigt, machte sich wieder an die Arbeit.

In der Nacht lag ich mit ihr im verschwitzten Bett und spürte, halb erdrückt von ihrem Kopf auf meinem Bauch, wie sich ihre Brust im Rhythmus des schlafenden Körpers hob und senkte. In der Pension hatte ich mich daran gewöhnt, allein zu schlafen. Das Schnarchen meiner Mutter störte mich jetzt. Ich zählte die Tröpfchen Speichel aus ihrem halb offenen Mund, die nach und nach auf mir landeten.

Am nächsten Tag ging ich den Strand entlang spazieren. Ich liebte den Küstenstreifen vor Sokcho, trotz des hässlichen Elektro-Stacheldrahts. Nur sechzig Kilometer weiter nördlich war Nordkorea. Bei den Baustellen an der Reede erschien eine windgebeutelte Gestalt. Ich dachte an den Namen im Reisepass. Yan Kerrand. Er kam in meine Richtung. Aus einem Haufen Netze sprang ein Hund hervor, folgte ihm und beschnupperte seine Hose. Ein Arbeiter rief das Tier zurück. Kerrand blieb stehen, streichelte es, sagte etwas wie »That’s okay«, aber der Mann nahm es an die Leine, und Kerrand ging weiter.

Als er auf meiner Höhe war, ging ich ein Stück neben ihm her.

»Schön, diese Winterlandschaft«, schrie er mit ausladender Geste in eine Windböe.

Wahrscheinlich log er, doch ich lächelte. Von der Landungsbrücke kam das metallische Schreien der Frachtschiffe.

»Arbeiten Sie schon lange hier?«

»Seit dem Ende meines Studiums.«

Ein Windstoß verrückte seine Mütze.

»Können Sie lauter sprechen?«, rief er und drückte sich den Stoff fest an die Ohren.

Von seinem Gesicht sah ich nur noch einen Streifen. Statt lauter zu sprechen, ging ich näher an ihn heran. Er wollte wissen, was ich studiert hatte. Koreanische Literatur und Französisch.

»Dann sprechen Sie Französisch.«

»Nicht richtig.«

Tatsächlich war mein Französisch besser als das Englisch, das wir miteinander sprachen, doch war ich schüchtern. Glücklicherweise nickte er nur. Ich überlegte kurz, meinen Vater zu erwähnen, tat es aber nicht. Das ging ihn nichts an.

»Wissen Sie, wo ich Papier und Tusche kaufen kann?«

Die Schreibwarenhandlung von Sokcho war im Januar geschlossen. Deshalb erklärte ich den Weg zum nächsten Supermarkt.

»Kommen Sie mit?«