Cornelia Schleime, 1953 in Ostberlin geboren, ist Zeichnerin, Malerin und Filmemacherin; sie lebt in Berlin und in ihrem Atelier auf dem Land. In der DDR hatte sie Ausstellungsverbot. 1984 übersiedelte sie in den Westen und verlor dabei alle Kunstwerke, die sie bis dahin geschaffen hatte. Inzwischen ist sie auch international als Künstlerin anerkannt, hatte viele Einzelausstellungen und hat mehrere Preise bekommen. Weit fort ist ihr erstes Buch.
Ein Spätsommermorgen, mitten im Herbst. Ein fast wolkenloser Himmel. Ihr Blick fällt durch das hohe Atelierfenster auf die Weite der Felder. Es ist acht Uhr und dreißig Minuten. Josef Ackermann ist mit einem breiten Lächeln davongekommen. Aus dem Fernseher, der im großen Wohnraum hinter ihrem Rücken steht, hört sie die Nachrichten. Ihr Blick ist in die Ferne gerichtet, in den schier endlos blauen Morgenhimmel. Sie möchte den Mund, den sie gerade in Gedanken sah, auf dieses Blau projizieren, es damit aufreißen. Sie könnte in diesen Mund hineintreten, um die gleiche Reise anzutreten wie ihr Vater und ihre Mutter. Aber sie sind schon zu weit weg. Sie sind verzogen. Kein Geld der Welt kann den Himmel öffnen. Deshalb klappt sie die Ackermann’-schen Zähne wieder zu und bewegt sich mit schnellen Schritten hinaus in die Ferne.
Es ist ein Tag wie jeder andere. Ihre Bilder sind in Arbeit, in letzter Zeit nur noch Jagdszenen. Große Panoramaformate, mit Jägern und Meute. Mit Davor und Danach. Adrenalin und Devotionalien. Im Grunde sind Maler Jäger.
Vielleicht sollte sie mal wieder in ihre Berliner Stadtwohnung fahren, um Freunde zu treffen. Aber heute nicht. Es kommt ein Handwerker, der ein Stück Ziegelwerk einreißen soll, um es gleich wieder aufzubauen. Es geht um ein Bücherregal, für das, wenn es nicht auffallen soll, schon mal die halbe Wand weg und dann wieder hin muss. Das ist Ästhetik!
Vom Acker nähert sich ein schwarzes Auto. Der Feldweg bis zum Haus ist uneben. Der Fahrer versucht, den unzähligen Buckeln auszuweichen.
Wie ein Kahn kommt das Auto daher. Nähert sich in einer meterhohen Staubwolke.
Sie denkt an ihr Boot, mit dem sie vor drei Jahren noch die Havel durchschipperte. Aber sie hat die ganze Bilgenweisheit verkauft. Die Manöver vergessen, die links- oder rechtsrum drehenden Schrauben, die Kurzatmigkeit ihres Motors, der hochseetauglich auf den Binnengewässern das Benzingeld im Sekundentakt fortspülte. Acht Knoten, mehr war nicht drin. Jetzt lebt sie hier, auf dem Land, in einer zum Atelier umgebauten Scheune. Verankert im Brandenburgischen. Geerdet im Mutterboden. Unverrückbar.
Und heute kommt ein Arbeiter, der das halbe Haus einreißt, nur damit sie ein paar Bücher unterbringen kann.
Sie steht neben sich, obwohl der Arbeiter das Haus noch nicht erreicht und den Hammer noch gar nicht ausgepackt hat. Sie wird kaum zum Arbeiten kommen.
Als der Lärm ihre Galerie im Obergeschoss erreicht, schaltet sie ihren Computer ein, geht ins Internet. Klickt den Button einer Partnerbörse an. Ein Experiment! Freunde hatten davon erzählt. Was für ein Schwachsinn, hatte sie noch gedacht, als sie davon erfuhr. Aber jetzt, warum nicht. Vielleicht tut sie es auch nur so aus einer Laune heraus, weil sie der Lärm im Haus nervt und sie sich die Zeit vertreiben will.
Es wird zu einer Begegnung kommen, die sie so nie gewollt hat. Sie wird erkennen, dass es eine Begegnung im Jetzt und in der Vergangenheit ist. Sie weiß davon noch nichts.
Zunächst gilt ihr Interesse einzig der Logistik dieser Partnerbörse und der Frage, wie die Anonymität gewährleistet bleibt. Wahrscheinlich würde sie nur anonym bleiben, wenn sie gar nicht eintritt. Sie zögert, findet es beschämend, sich im Netz einen Mann zu suchen, macht dennoch weiter.
Am Anfang steht ein psychologischer Test. Diese Ouvertüre dauert mit ihrem analogen Anschluss an die drei Stunden. Sie hat einfältige Fragen zu beantworten. Tut es in der Annahme, dass alle es so machen.
Siebenhundert Kandidaten tummeln sich schließlich in dem Profil, das der Computer von ihr erstellt hat. Würde sie die Schweiz wieder herausnehmen, blieben an die fünfhundert übrig. Rechtsanwälte, Ärzte, Architekten, Produzenten. Und einige Coachs. Mit denen kann sie nichts anfangen. Ein Beruf, der alles und nichts sein kann. Nicht so etwas. Sie findet keinen Künstler unter den Kandidaten. Muss ja auch nicht sein, denkt sie. Neid und Missgunst, dass einer von beiden immer erfolgreicher ist als der andere, das kennt sie bereits.
Parship ist ein Supermarkt einsam spielender Seelen. Die man nicht will, schmeißt man einfach raus. In den Papierkorb. Anonyme Entsorgung. Einhundertundsiebzig Euro fürs halbe Jahr. Dass hinter jedem Profil ein Schicksal steht, darüber denkt sie nicht nach. Noch nicht. Jetzt ist es eine Spielwiese, auf der Männer wie Pilze aus dem Boden wachsen: Blonde, Braunhaarige, Glatzköpfe, Brillenträger, Liebevolle, Verständnisvolle, Ehrliche, Spontane, Schlanke und Schöne. Alle schreiben, dass sie gut aussehen. Der morgendliche Espresso (oder Cappuccino) ist ihnen wichtig, ist der Zweisamkeit vorbehalten. Ja, ›vorbehalten‹, so schreiben es die meisten. Die Profile der Männer ähneln sich wie ein Haar dem anderen.
Ich werde müde, sagt sie zu sich selbst. Der polnische Arbeiter streicht die Bretter ihres Regals schon ein zweites Mal weiß.
Dann geschieht es! Seine Antwort irritiert sie: »Seelische Verletzungen«. Er schreibt das unter »Allergie«. Eine unbestimmte Aufmerksamkeit fesselt sie. »Worauf reagieren Sie allergisch?« Er wird ihr Mann, beschließt sie an diesem Abend, während ihr Bücherregal gerade zusammengeschustert wird. Tatsächlich schrieben zwanzig Prozent etwas von »Pollen« in diese Kategorie.
Waren es die banalen Angaben der anderen, dass sie gerade diesem Mann schrieb: »Lieber Fremder, ich liege zwar nicht mit der Katze auf dem Bauch herum, denn mein Beagle liegt mir zu Füßen, aber mit Hund und Katze, wie soll denn das gut gehen? Wie konnten Sie da in mein Profil geraten? … Zumindest wären bei Hund und Katze die Funken gewiss. Liebe Grüße von einer Fremden.«
»Liebe Fremde, nun, wir wollen doch nicht, dass gleich das ganze Haus abbrennt, also werden wir unsere Tiere erst einmal außen vor lassen. Wie bin ich also zu Ihnen geraten? Neugierde breitete sich aus, als ich bildende Künstlerin las. Eine Frau mit Eigenregie, dachte ich. Ich sage Ihnen auch gleich, was alles nicht hätte drinstehen dürfen: Politikwissenschaftlerin, Lungenärztin, Pädagogin, Managerin, Personalleiterin … Ich darf doch Vorurteile haben, oder? Kann ich denn von Ihnen noch mehr erfahren? Liebe Grüße von einem Fremden.«
So hat es begonnen. Das ist der Anfang.
Zuvor hatte sie noch Kontakt mit einem Wissenschaftler aus Dahlem, schob ein paar Zeilen über das Netz, sehr kurz und nicht der Rede wert. Er philosophierte über schwarze Löcher, kam gleich mit dem Universum, als noch nicht mal eine halbe Seite zusammengeschrieben war. Er wollte sich mit ihr im Guggenheim treffen und erwähnte die Namen etlicher Künstler, die auf der Weltrangliste die oberen Plätze belegen.
So einen will ich nicht, hatte sie gedacht und entsorgte ihn im Papierkorb des Forums. Dadurch wurde er in ihrem Profil nicht mehr angezeigt. Ihr gefiel noch ein anderer Mann, aber er war zu klein. »Wovon können Sie sich nicht trennen?« »Von den Aquarellen und Zeichnungen meiner verstorbenen Frau«, hatte er geschrieben. Das hat sie gerührt, und wenn er nicht so klein gewesen wäre, womöglich, vielleicht, wäre eine Antwort von ihr gekommen. Aber nun hat sie ja ihren Mann, der täglich zweimal schreibt und manchmal noch öfter.
Sie gibt sich für ihn einen Namen. Sie nennt sich Nora. Es ist nicht ihr richtiger Name. Es ist ihr Name für ihn. Sie denkt, dass er eine Dunkelhaarige dahinter vermutet. Sie hat Ibsen nie gelesen und nimmt Nora nur wegen der Vokale. Sie ist blond. Sie ist zierlich. Sie ist eine Kindfrau mit einem erwachsenen Sohn.
Aber er sieht von Anfang an eine Blonde dahinter. Er kennt Ibsen.
Er nennt sich Ludwig.
Er arbeitet als Journalist, so viel weiß sie bereits. Er lebt in der Nähe von Regensburg. Er berichtet über das Wetter. Er ist Wolkenforscher. Früher hat er auch über Politik berichtet, über Wirtschaft und Kultur. Aber nun sind es die Wolken, der Regen, die Sonne, die Temperaturen. Merkwürdig, wie jemand zum Wetterfrosch wird. War er der Politik überdrüssig? Das gefällt ihr. Sie findet es radikal. Sie liebt die Brüche, da sie Neuanfang sind. Man stellt infrage, was man bereits gemacht hat, und legt sich steil in die Kurve.
Das Fernsehen ist Bestandteil des Attentats, und sie, die in ihrem Atelierhaus allein lebt, braucht dieses Attentat, und sie braucht es an jenem Morgen, als sie auf den Sender seiner Gegend schaltet. Immer noch denkt sie, dass er ein Zeitungsreporter ist. Sie will nur die Landschaft sehen, dort, wo ihr Ludwig herkommt, und so schaut sie hinein, in den frühmorgendlichen Straßenbericht, der mit den üblichen Standkameras die Verkehrsknotenpunkte anzeigt. Ihre Augen fallen wieder zu. Aber die Ohren vernehmen plötzlich den Namen Ludwig und das Wort Wetterprognose. »Und gleich schalten wir zum Wetterbericht mit Ludwig Thon!« Mein Gott, ist das mein Ludwig, fragt sie sich, noch nicht einmal die Augen geöffnet, schon im Bett stehend. Ein fremder Mann. Ist das der Mann meiner Briefe? Die Form, wie er ihr gestern über Wolken schrieb, erkennt sie jetzt wieder, und dennoch erscheint ihr das Bild viel banaler als die schriftlichen Äußerungen. Sie braucht einige Zeit, bis sie sich mit dem Bild anfreunden kann. Nicht, dass sie diesen Mann unattraktiv findet, aber es ist eben ein anderer als jener der geschriebenen Worte und der Vorstellung, die sie bereits von ihm entwickelt hat. Er wirkt irgendwie ambivalenter.
Das Fernsehen ist Bestandteil des Attentats. Ja, das ist es wirklich!
Sie beginnt alles zu vernachlässigen. Ihre Arbeit. Ihren Hund. Er muss allein Gassi gehen. Das Hoftor wird nur noch aufgemacht, und er wird sich dann irgendwann wieder einfinden, soweit sie das überhaupt wahrnimmt. Das Fernsehen wird für sie zu einer Fessel, jeden Morgen. Erst gegen Nachmittag schaut sie wieder in den eigenen Himmel, der über ihrem Haus hängt. Er ist mit grauen Schlieren verhangen, die sich bei aller Fantasie nicht zu Wolken formieren lassen. Wie mit einer Siebdruckrakel ist er zu einer Unfarbe breit geschmiert.
»Lieber Ludwig, auch bei Ihnen ist dieser ›Instinktbalken‹ in diesem Parship-Diagramm weit über den mittleren Bereich hinausgeschossen. Meiner ist aber Ihrem noch eine kleine Nasenlänge voraus. Sehen Sie, dieses Millimeterchen reichte aus, sodass ich heute auch diese Kumuluswolken auf der Emmstädter Höhe sah, während knapp über Ihrem Kopf eine Schar von Wildgänsen daherzog. ›In die falsche Richtung. Alle sind durcheinander. Die ungewöhnliche Erwärmung hat den Flugkompass völlig durcheinandergebracht.‹« Dieses Zitat fügte sie noch hinzu.
»Sehen Sie, so schnell kann es gehen, und alle Sicherheitssysteme von Parship sind ausgehebelt, wenn der richtige Name angegeben wird, und sei es nur der Vorname. Ich bin ja erst seit einer Woche in diesem Pool einsamer Seelen angemeldet und war technisch überfordert, als ich mir für Sie einen Namen geben sollte. Anfangs dachte ich an meinen Codenamen, mit dem ich mich immer einlogge. Aber es ist ja ein Sicherheitsname, und so habe ich eben schnell die Nora erfunden …
So, jetzt müssen wir wieder auf Augenhöhe treten: Ich heiße nicht Nora, sondern Clara Formella. Ich habe eine Stimme, die ist fast so tief wie die Ihre. Ich mag die Art, wie Sie in den Himmel schauen und dann zurück zum Betrachter, der ja eigentlich eine Kamera ist. Mir hat es gefallen, wie Sie plötzlich gehustet haben. Ich kann mir immer vorstellen, wie etwas zusammenpasst, aber ich werde es jetzt noch nicht tun, es wäre zu einseitig.
Ich freue mich, von Ihnen zu hören,
Ihre Clara, Ihre Nora.«
Was für eine Beschleunigung ist das Fernsehen. Hatte sie angenommen, er arbeitet für irgendeine Zeitung, bekommt sie nun beim morgendlichen Aufwachen gleich Stimme, Bewegung, Erscheinung und Aktion mitgeliefert.
Ludwig. Warum gab sich Ludwig keinen anderen Namen. Wollte er, dass ich ihn finde? Er schrieb ihr später einmal: »Wenn man Ludwig und Wetter und den Sender googelhaft addiert, kommt man schnell drauf.« Eigenartig, ihr war die Anonymität am wichtigsten.
Sie schreiben sich in drei Wochen achtzig Briefe. Schreiben über ihre privaten Mailadressen. Die Post ist für diesen Kraftakt, der aus dem Gefühl eines Schwebens hervorgeht, einfach untermotorisiert. Die Post wäre ein Holzbein. Aber immerhin kommt sie nur einmal am Tag. Den Menschen, die über die Post verkehren, gehört der Tag, wenn sie durch ist. Den Mailern gehört manchmal nicht einmal mehr die volle Stunde. Sie sind süchtig. Wie nach Zigaretten. Nach jedem zehnten Atemzug schaut sie hinein, ob er schon geantwortet hat. Dennoch, solange beide in der gleichen Raserei ihrem Gedankenaustausch nachgehen, erweist sich das Netz als adäquate Form. Und sie hängen ihr Herz in die Maschen des Netzes. Verstricken sich in die Briefe.
Manchmal schreibt er eine kleine Mitteilung vom Studio aus mit dem Handy, teilt ihr mit, dass er es kaum erwarten kann, zu Hause anzukommen und ihren Brief zu lesen. »Liebe Clara, ich bin zu Hause angekommen, hab mich durch den Stau gewühlt, und gleich wird mein Bildschirm mit Ihren Worten erstrahlen. Ich werde mir noch ein Glas Wein dazustellen, und dann folge ich meiner Clara … Also, ich muss es Ihnen jetzt einmal sagen, es ist wirklich so, ich bade in Ihren Briefen. Ich schlürfe Ihre Gedanken in mich hinein, wie eine Auster. Und dann möchte ich alles, was Sie schreiben, zerlegen, möchte es geordnet bekommen, mir erklären, zuordnen. Ich sage es jetzt frei heraus, da Sie es sonst nie erfahren würden. Aber ich will auch meine Freude mitteilen … Mitteilen, das klingt nicht gut. Es wird etwas geteilt mit Ihnen und mir. Das finde ich schön, denn in allem, was Sie schreiben, finde ich etwas, und in allen Ecken in Ihren Gedanken liegt was, womit ich was anfangen kann, wozu mir was einfällt, wo ich weiter denken kann oder um Ecken oder in mich hinein. Und ich sehe, dass Sie bei mir auch weiterspinnen können … im Sinne von Fäden ziehen.«
In ihr entsteht die vage Vermutung, er könnte Einzelgänger sein.