Alice ist Buchhändlerin in Zürich. Als sie zur Beerdigung ihres Onkels nach Milwaukee fliegt, wird daraus eine lange Reise durch die USA auf den Spuren ihrer Vergangenheit als Country-Sängerin. Die Reise öffnet ihr ein Fenster in eine verheissungsvolle Zukunft.

Andreas Pritzker, geboren 1945, ist Schweizer, Physiker und Schriftsteller. Bisher sind von ihm erschienen: „Filberts Verhängnis“ (Roman, 1990), „Das Ende der Täuschung“ (Roman, 1993), „Eingeholte Zeit“ (Erzählung, 2001), „Die Anfechtungen des Juan Zinniker“ (Roman, 2007), „Allenthalben Lug und Trug“ (Roman, 2010) sowie „Aus der Zeit gefallen” (Erzählung, 2015). Er war Mitherausgeber des REFUNA-Jubiläumsbuchs „1/3 Technik, 1/3 Politik, 1/3 Psychologie” (2004) und verschiedener Texte in erzählter Geschichte. Zudem hat er in Zusammenarbeit mit Zeitzeugen die „Geschichte des SIN” (2013) verfasst.

© 2016 Andreas Pritzker

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt (D)

Umschlagbild mit freundlicher Genehmigung der Meteor Crater Enterprises Inc.

ISBN: 978-3-7412-4851-1

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Für Ursi

Inhaltsverzeichnis

1

Gestern Abend hat Vater angerufen und nur gesagt: „Aaron ist tot. Jemand sollte hinfliegen. Ich bin zu alt. Am besten machst du dich auf den Weg, Alice. Du kennst die Leute. Die Reise bezahle ich.“ Dann hat er aufgehängt.

Klar, dass ich zu Onkel Aarons Beerdigung fliegen werde. Aaron und Brenda haben mich aufgenommen und wie eine Tochter behandelt. Das ist fünfundzwanzig Jahre her, und seitdem haben wir einander nicht mehr gesehen; wohl lange noch geschrieben und angerufen, um die wichtigen Ereignisse mitzuteilen. Doch dann sind wir alle im unspektakulären Alltag versunken, es gab scheinbar nichts Wichtiges mehr. Der Strom der Worte verebbte. Wir sandten uns nur noch Neujahrswünsche, die immer kürzer wurden – auch wenn sie stets Zuneigung ausdrückten.

Nun verdriesst es mich, dass ich die beiden nie mehr besucht habe. Der Fluch der Trägheit. Über dem mit all seinen Verrichtungen dahin rieselnden Tagesgeschehen habe ich sie mir unsterblich werden lassen. Seit mir niemand mehr so nahe stand, dass der Verlust unendlich geschmerzt hätte, ist mir der Tod nicht mehr lebendig.

*

Als ich Paula mitteile, ich bräuchte eine Woche Urlaub um zu Onkels Beerdigung nach Milwaukee zu fliegen, verzieht sie gleich das Gesicht.

„Du kannst dich jetzt unmöglich davonmachen, die Sommerferien stehen vor der Tür, im Juni verkaufen wir immer am meisten Bücher. Und wer kümmert sich um deine Musikabteilung? Zudem wollte ich nächste Woche ein paar Tage frei nehmen, eine Bergwanderung mit meinen Freundinnen, und das habe ich dir rechtzeitig gesagt.“

Eine Lüge. Sie hat mir nichts gesagt. Ich bin überzeugt, die Bergwanderung hat sie soeben erfunden.

„Ich werde reisen, was immer geschieht“, erkläre ich bestimmt.

„Und wieso nicht dein Vater? Oder dein Bruder? Warum laden sie immer alles auf uns Frauen ab?“

„Weil mir die Familie meines Onkels nahe steht. Ich will reisen.“

„Hast du das mit Peider besprochen? Was meint er dazu, dass du dich einfach so davonmachen willst?“

„Das ist nicht seine Angelegenheit.“

„So so, das ist nicht seine Angelegenheit. Obschon ihr schon ein paar Jahre zusammen seid. Wobei mir bekannt ist, dass nicht alles Gold ist was glänzt.“

„Eben. Daher ist es nur meine Angelegenheit.“

„Aber meine ist es auch. Wenn du jetzt einfach so abhaust, Alice, brauchst du gar nicht mehr zu kommen. Ich kenne das Arbeitsrecht. Dann bist du fristlos entlassen.“

Meine Kolleginnen hätten darauf erzürnt reagiert oder wären in Tränen ausgebrochen, aber sie hätten sich Paula gefügt. Veronika ist dabei, Bücher in ihr Lieblingsgestell mit der Reiseliteratur einzuräumen. Sie hat aufgehorcht, nun ist sie erstarrt und drückt den Bücherstapel an die Brust. Die Lehrtochter steht hinter dem Ladentisch und macht ein erschrockenes Gesicht.

Ich blicke Paula an, die sich vor mir aufgebaut hat und mich empört anglotzt. Sie trägt elegante Klamotten. Woher sie das Geld für die teure Mode hat, weiss ich nicht, denn wir verdienen hier alle nicht grossartig. Und dabei fühle ich mich schon weit weg. Was sie da sagt betrifft mich gar nicht mehr. Also antworte ich gelassen: „Wie du meinst.“

Ich merke, dass etwas abläuft, das Folgen für mein Leben hat. Die kann ich nicht absehen, und es ist mir egal. Ich blicke mich in der Buchhandlung um, denke, das ist das letzte Mal, sehe die mit farbigen Buchrücken gefüllten Regale und die Tische, auf denen die Neuerscheinungen sauber aufgeschichtet sind. Alles ist sehr bunt, und doch erscheint mir mein Alltag hier drin plötzlich grau und eintönig.

Ich spüre einen Drang nach Ausbruch und Aufbruch sowie die Zuversicht, dem ewigen Hickhack mit meiner Chefin und Rivalin endlich ein Ende setzen zu können. Ich greife mir an der Kasse einen Plastiksack und begebe mich ins Lager, wo die Garderobenschränke des Personals stehen. Dort tausche ich die bequemen Sandalen gegen die Strassenschuhe – Paula möchte zwar, dass wir elegante Schuhe tragen, und es stimmt, mit einem Paar edler Designerschuhe wirkt die gesamte Erscheinung viel besser, aber es sind schliesslich meine Füsse. Die Sandalen werfe ich mit den übrigen paar persönlichen Sachen in den Sack und marschiere ohne noch etwas zu sagen zum Eingang. In der Glastüre nehme ich ein undeutliches Spiegelbild von Paula wahr, die mir mit offenem Mund nachstarrt. Und dann bin ich draussen.

Es ist Samstag Morgen, die Strassen der Innenstadt sind noch fast leer. Ein milchiger, sommerlicher Dunst liegt über der Stadt. Er dämpft das Sonnenlicht, und alles ist ruhig, friedlich, angenehm. Ich möchte in dieser Stimmung verweilen, lasse die Trams vorbeifahren und gehe durch den stillen Morgen nach Hause.

Dabei rauche ich eine Zigarette und denke über das Geschehen nach. Die mir von Mutter eingebläute Selbstachtung sagt mir, dass ich das Richtige getan habe. Ich lasse mich von einer Welle des Freiheitsgefühls mitreissen. Und gleichzeitig ergreift mich Melancholie, ein Gefühl der Unbestimmtheit, der Orientierungslosigkeit, des Blues. Und mir fällt ein, wie Tex in solchen Situationen zur Gitarre griff und mit seiner kratzigen Stimme Dylans Song 'Like a Rolling Stone' sang. Freiheit heisse eben auch, erklärte er, nicht mehr zu wissen wie es weiter gehe; in der Schwebe zu hängen; seinen Weg neu finden zu müssen.

*

Zu Hause besänftigt mich die gewohnte Umgebung. Ich braue mir einen Kaffee und organisiere den Flug nach Chicago. Dann rufe ich bei meinem Bruder an. Der sei am Einkaufen im Baumarkt, teilt Schwägerin Stefanie mit, und das gehe erfahrungsgemäss lange, sehr lange. Ich erkläre ihr, dass Onkel Aaron gestorben sei, dass ich morgen nach Milwaukee reisen werde und es gut wäre, wenn Roland sich um Vater kümmern würde.

Den Anruf bei Peider habe ich aufgespart. Wir sind zwar ein Paar, wohnen aber nicht zusammen. Das ist weise. Peider ist ein Sammler, der nichts wegwirft. Er räumt erst auf wenn seine Wohnung überquillt. Ich bin völlig anders. Würden wir zusammen leben, ich würde mich stets über das Chaos ärgern. Peider ist nicht zu Hause, also sitzt er vermutlich im Verlag. Er nimmt ab und reagiert unwirsch: „Bin gerade tief in einem Manuskript. Weshalb die Störung? Wir sehen uns ja am Abend.“ Dann hört er sich an, was ich zu sagen habe. Sogleich hat er Bedenken. Peider hat immer Bedenken, wenn ich etwas entscheide. „Hast du dir das gut überlegt?“ mahnt er auch jetzt. „Und kannst du denn Paula einfach so sitzen lassen?“

*

Das erinnert mich wieder einmal daran, dass es eigentlich Paula ist, die Peider zuerst kennengelernt hat. Sie hatte einen Text über eine Reise in die Provence verfasst und dank ihrer Stellung im Buchhandel den Kontakt zu Peiders Verlag herstellen können. Das hört sich zu neutral an. In Wirklichkeit hatte sie dem Verlagsvertreter, der nach ihr gierte, Daumenschrauben angelegt. Als Peider in ein Treffen einwilligte wurde ihr bange, und sie nahm mich mit. Sie hatte mir den Text gezeigt. Ich fand ihn durchschnittlich. Hunderte von Menschen fassen ihren Traum nach Freiheit in Worte, indem sie eine emanzipatorische Reise in die Provence, in die Toscana, neuerdings in irgendein nordafrikanisches Land beschreiben. Als ich Paula das sagte, lachte sie und meinte, ich sei ja nur neidisch auf ihre Leistung. Ich solle besser das Urteil des Fachmanns abwarten.

Kaum hatte sich Peider in der Bar des Hotels Storchen zu uns gesetzt, erklärte er, der Text sei wertvoll, passe aber nicht in sein Verlagsprogramm. Um die danach folgende Stille zu brechen fing ich an, Peider über einen seiner erfolgreichen amerikanischen Autoren auszufragen. Das öffnete die Schleusen. Peider belehrte mich über das Drum und Dran, wie er an „John“ geraten sei, wie er ihn öfters in seinem veträumten Fischerdorf an der Ostküste besucht habe, und wie er ihm jeweils die Übersetzung seiner Texte verklickere, wenn John, der übrigens trotz seiner Berühmtheit ohne Allüren sei, in die Schweiz komme. Auch wo sie feudal dinierten, natürlich auf Kosten des Verlags, denn John konsumiere Alkohol in einem Ausmass, das nicht zum Verdienst eines Verlagslektors passe. Und das alles zu mir, während Paula daneben sass. Schliesslich verabschiedete er sich, nachdem ihm Paula das Versprechen abgenommen hatte, für John eine Lesung in ihrer Buchhandlung organisieren zu dürfen. Peider schritt hinaus, wobei ihm diverse Blicke folgten. Kein Wunder, er sah gut aus mit seinem Lockenkopf, dem Dreitagebart und seiner lässigen Kleidung. Ich sagte: „Gratuliere, du hast dir was Nettes geangelt.“

Hierauf schlug Paula vor, in der nächsten Pizzeria etwas zu essen und uns volllaufen zu lassen. Im Lauf des Abends eröffnete sie mir, es sei klar, dass Peider an mir interessiert sei, und sie erwarte von mir, dass ich ihn bezüglich ihres Textes herumkriegen würde.

Ich lachte sie aus. „Du bist selbst am Zug. Er hat sich nur an mich gewandt, weil er schüchtern ist. Du siehst für ihn zu gut aus. Es gibt Männer, die deswegen den Schwanz einziehen.“

Tatsächlich ist Paula attraktiv, sie verfügt über die notwendigen Kurven, nur ist ihr Gesicht ein bisschen ausdruckslos, was aber die meisten Männer keineswegs stört. Auch ich kann meine Figur zeigen, meine Beine sind vollkommen in Ordnung, ich wirke auf manche Männer anziehend, auch wenn ich zugeben muss, dass meine Nase ein wenig zu gross ist, ein Erbe der Heftmann-Sippe.

*

Ich hätte nichts dagegen gehabt, mich für Paula einzusetzen. Sie hat mich einmal gerettet, als ich meine komfortable Stelle als Bibliothekarin am Institut für Musikwissenschaften aufgab. Das tat ich, weil einer der Professoren, Gysin, in der Kaffeerunde des Instituts plötzlich vom Teufel geritten wurde und seine schlechte Laune an mir ausliess, indem er sich abfällig über Country-Sängerinnen äusserte. Solch kreischende Damen im Cowboyhut, erklärte er, könne er nicht ernst nehmen. Kreischend? Ich sagte, er möge sich doch einmal die Songs von Lucinda Williams anhören. Von Kreischen könne darin keine Rede sein. Hierauf verhöhnte er die Sängerin. Sie könne weder komponieren noch singen. Er behauptete, einige ihrer Songs zu kennen, und es stimmte, denn ich hatte einmal reichlich naiv versucht, dem Institut ihre Musik nahezubringen. Ein Fehlschlag. Solche Aktionen waren unerwünscht, erst recht von einer Hilfskraft – meine musikalische Ausbildung anerkannten sie hier nicht. Noch ehe die äusserst abfälligen, verachtungsvollen Worte von Gysin verhallt waren beschloss ich, der Diskussion ein für allemal ein Ende zu bereiten, und zwar hier und jetzt. Ich schleuderte Gysin die Kündigung ins Gesicht, ging bühnenreif ab und liess den Professor, der verdattert ansehen musste, was er bewirkt hatte, zurück.

Paula kannte ich, weil ich die Bibliotheksbücher bei ihrer Buchhandlung bezog. Als ich mitteilte, dass sie künftig mit jemand anderem vom Institut zu tun haben würde, sagte sie, sie könne eine weitere Angestellte brauchen, und ich sei sehr geeignet. Sie plane nämlich, das Musikangebot auszubauen – und ich hatte bereits wieder eine Stelle.

*

Nun gut, Peider ging einige Male mit Paula aus bis ihm klar wurde, dass sie zu wenig Gemeinsames verband. Er wollte das offiziell bekunden, aber weil er ein Hasenfuss ist, traf er sich mit mir und bat mich, Paula die Sachlage schonend beizubringen. Das tat ich, und Paula lachte: „Von mir aus völlig okay, Peider hat viele gute Seiten, aber im Grunde ist er ein Weichei.“ Ich hätte boshaft einwenden können, dass das Weichei sich allerdings nicht hatte erweichen lassen, Paulas Text zu publizieren oder sonst weiter zu empfehlen, aber das tat ich nicht, weil ich mich Paulas Urteil angeschlossen hatte.

Dem Treffen zwischen Peider und mir folgte ein weiteres. Unser Thema war die amerikanische Literatur. Darin verstanden wir uns glänzend, es funkte ein bisschen, und schliesslich ergab sich eine Beziehung. Allerdings eine Beziehung ohne jegliche Hingabe, einzig geknüpft durch literarische Gespräche, Sex und Ausgehen ins Theater oder zum Essen. Den Gedanken, zusammen zu wohnen, verwarfen wir aus praktischen Gründen. Peider lebt in einer schönen Wohnung in einer ehrwürdigen Villa am Zürichberg, und ich besitze eine kleine Wohnung im Seefeld, die mir wie angegossen passt und auf die ich niemals verzichten würde.

*

Ob ich Paula einfach so sitzen lassen könne? Ich antworte Peider: „Wir haben uns getrennt“, und höre geradezu, wie er erbleicht. „Was heisst das?“

„Sie wollte mich nicht gehen lassen, ich reise trotzdem, also hat sie mich gefeuert.“

„Gefeuert? Und was willst du tun ohne Job? Wovon willst du leben?“

Aha. Peiders Angst, ich könnte ihm womöglich zur Last fallen.

„Ach ja, ich werde mir etwas Neues suchen wenn ich zurück bin.“

„Hör zu, Alice, das ist keine gute Entwicklung. Du solltest auf die Reise verzichten. Ich rede sogleich mit Paula, ich denke ich kann sie umstimmen und sie stellt dich wieder an.“

„Vergiss es. Dieses Kapitel ist vorbei. Und weisst du was? Ich freue mich sehr. Morgen reise ich.“

„Denkst du, du kannst aus deinen Pflichten einfach so aussteigen? Der Mensch muss Verantwortung übernehmen, auch wenn das nur in einem kleinen Rahmen gilt. Er braucht zudem einen strukturierten Alltag. Zwar kann und soll er sich weiterentwickeln, aber planvoll und gut überlegt. Ein Bruch wie du ihn vorhast ist seelisch schwer zu verkraften. Überlege dir das nochmals.“

Blabla. Was weiss er schon? Ich habe in meinem Leben einige Male einen Neuanfang gemacht, wenn mich die Umstände dazu drängten – und habe mich immer auf das Neue gefreut. Und ich habe schmerzliche Brüche erfahren, die ich nicht selbst herbeigeführt habe. Sie galt es zu bewältigen. Ein Stellenwechsel mag zwar ein Bruch sein, für mich aber kein schmerzhafter.

„Da gibt es nichts zu überlegen. Und ich wäre auch nicht bereit, bei Paula zu Kreuze zu kriechen.“

Zu Kreuze kriechen: Ich pflege einen Sprachschatz mit ungewöhnlichen Wendungen – solchen, die mir bei meiner langjährigen Lektüre von Romanen zugefallen sind, meistens bildlicher Art. Seit meiner Jugend bin ich vernarrt in Bücher. Ich las, lese und werde weiterhin lesen, so wahr mir Gott helfe (manchmal zweifle ich daran, dass es Gott nicht gibt). Das wirkt sich auf meinen Erzählstil aus. Tausende von erinnerten Wendungen stauen sich in meinem Hirn, stets bereit, empor zu perlen. Peider der Lektor möchte sie ausmerzen und mich auf eine zeitgemässe Sprache einschwören. Ich mache nicht mit, auch wenn ich weiss, dass ihn das provoziert.

„Dann müsstest du auch damit rechnen, Alice, dass unsere Beziehung zu Ende geht.“

Hallo! Peider ist nicht meine grosse Liebe. In den letzten Jahren hielt uns Routine zusammen. Dennoch bin ich schockiert, doch im selben Augenblick gehen mir die Augen auf: Paula und Peider sind sich näher gekommen. Paula hat sich nämlich ein neues Projekt ausgedacht und dabei Peider an Bord geholt. Ihr grosses Vorbild war schon immer die Pariser Buchhändlerin Adrienne Monnier. Paula schwebt ein literarischer Salon vor, und dazu braucht sie Peider. Und er hat nichts dagegen, wenn Paula den Verkauf seiner Autoren ankurbelt.

Ich hielt mich aus dem Projekt raus, es interessierte mich nicht, ein Anzeichen des Absprungs, denke ich jetzt, während Peider eine Reaktion erwartet. Ich sage ruhig: „Na bitte, wenn du meinst. Sobald ich zurück bin, hole ich meine Sachen in deiner Wohnung ab.“

Er hängt auf. Offensichtlich ratlos und erzürnt. Das ging ihm dann doch zu schnell. Ein altes Muster bei uns. Wir sind unterschiedlicher Meinung und finden keinen Kompromiss. Peider will das Geplänkel noch lange weiter köcheln lassen, alle möglichen Szenarien hin und her wälzen bis ihm sonnenklar ist, dass ich einfach völlig falsch liege und er glaubt, das müsse nun endlich auch mir klar sein. Und ich verderbe ihm seinen Plan und ziehe den Stecker.

Und wieder verspüre ich Melancholie. Es scheint, dass heute Morgen mein jetziges Leben in Brüche geht, nur weil mich ein früheres Leben einholt. Eines, das mir zu wertvoll ist, als dass ich es einfach beiseite wischen würde. Ich brauche Bewegung und gehe am Seeufer joggen.

*

Später rufe ich Vater an und sage: „Hör mal, erwarte mich weder diese noch nächste Woche zum Essen. Wenn ich schon rüber fliege will ich noch eine Zeitlang bleiben.“

„Musst du nicht zurück an die Arbeit?“

„Nein. Ich habe mir eine Auszeit genommen. Aber ich melde mich vor dem Rückflug. Zu deinem fünfundsiebzigsten bin ich auf jeden Fall wieder hier.“

„Du weisst immer was du tust. Viel Glück und gute Reise.“

2

Bei der Passkontrolle in Chicago profitiere ich von meiner US-Staatsbürgerschaft. Ich habe sie durch Heirat erworben, und ich freue mich noch heute darüber – trotz gelegentlicher mühsamer Steuererklärungen für Bürger im Ausland. Aber ein Land, in dessen Unabhängigkeitserklärung „the pursuit of happiness“ verankert ist, hat bei mir einen Stein im Brett. Während also die Nichtbürger sich in langen Schlangen vor zwei Schaltern stauen, sind für uns US-Citizens so viele Schalter offen, dass ich gleich abgefertigt werde. Der Beamte mustert mich, und ich stelle mir vor, was er sieht: ein Gesicht, das Bereitschaft zu sofortigem Widerspruch erkennen lässt, eine pflegeleichte Frisur – kurzhaarig und zerzaust, graue Augen. Ich trage Jeans und einen Kapuzenpullover, meine Reisekleidung, sowie modische Trainer-Schuhe, aber die sieht er von seiner Warte aus nicht.

Eine halbe Stunde später fahre ich in einem Mietwagen auf der Interstate 94 in Richtung Milwaukee. Die Landschaft liegt im grellen Sonnenlicht da. Der Autovermieter, hinter dessen Theke lauter kleine, höchst ernst dreinblickende orientalische Männer herumwuselten, hat mir ein Upgrade geschenkt. Ich sitze also feudal in meinem Dodge Charger, einem ziemlich muskulösen Gefährt, und geniesse das Gefühl der Vertrautheit im amerikanischen Verkehr. Ich lasse die Klimaanlage laufen. Unterwegs vom Terminal zur Autovermietung hat mich die nachmittägliche Sommerhitze bedrängt.

Den Wagen hätte ich nicht gebraucht, um nach Milwaukee zu gelangen. Aber unterwegs im Flugzeug, zehn Kilometer über der Erde, war der Plan gereift, die Gelegenheit zu nutzen und auf den Spuren meiner Vergangenheit durch die USA zu reisen. Ich hatte den Job geschmissen, war frei – like a rolling stone.

*

Zwei Stunden später parke ich in der Zufahrt der Heftman-Villa (als Aaron Amerikaner wurde, passte er seinen Namen an und liess das zweite 'n' weg). Das Anwesen liegt im Vorort Shorewood am Gestade des Michigan-Sees. Entlang der sauber gepflästerten Zufahrt sind bereits mehrere Wagen abgestellt, die Kondolenzbesuche sind demnach in vollem Gang. Ein schwarzer Butler, vermutlich gemietet, öffnet die Türe und führt mich ins grosse Wohnzimmer, dessen französische Fenster auf den gepflegten Garten hinausblicken, und durch den Waldstreifen am Ufer hindurch glänzt der Michigan-See. Angehörige von Brendas Familie aus Boston und Freunde stehen herum und sprechen leise miteinander. Den Gesprächsfetzen, die ich beim Vorübergehen erhasche, entnehme ich, dass es um Aaron geht, um seine Krankheit, seinen Tod und um seine Taten, an die sich die Menschen erinnern. Zwei Mädchen wandern mit Tabletts herum und servieren Kaffee und Muffins. Die Ernsthaftigkeit des Anlasses lässt indes keine Partystimmung aufkommen.

Das Wohnzimmer ist so gross wie die städtische Wohnung meiner Eltern, und es ist immer noch im klassischen Chesterfield-Stil möbliert. Onkel Aaron hatte einst erklärt, ihn interessiere nur Bequemlichkeit, aber Tante Brenda hatte auf der Einrichtung bestanden.

Brenda hat sich mit ihren Kindern in eine Sitzecke zurückgezogen, wo sie die Beileidsbezeugungen entgegennimmt. Dort werde ich mit grossem Hallo begrüsst, ein spontaner Ausbruch, der durch die Trauer sogleich wieder gedämpft wird. Brenda trägt ein feierliches schwarzes Brokatkleid, sie schaut aus wie damals, kaum gealtert, mit rundem Gesicht und Doppelkinn über einem grossen mütterlichen Busen. Sie drückt mich an sich, fängt an ein bisschen zu weinen und will mich nicht mehr loslassen, bis Abby mich befreit.

Auch Abby umarmt mich, und dann drängt sich Sammy vor, küsst mich auf beide Wangen und weist auf Frank: „Den erkennst du nicht wieder. Es ist Frank, der sich im Umfang verdoppelt hat seit du ihn das letzte Mal gesehen hast.“

„Unsinn“, lächle ich, „ich habe doch immer wieder Familienfotos bekommen.“

Ich schaue mir die Familie an. Frank ist tatsächlich verfettet, was wegen seines gut geschnittenen Anzugs wenig auffällt. Abby ist schlank wie früher, sie ist in einen männlich wirkenden Hosenanzug gekleidet und hat sich im Lauf der Jahre einen bitteren Zug im Gesicht zugelegt, den sie jedoch unter einem Lächeln verschwinden lassen kann. Sammy sieht unverschämt gut aus, er trägt zwar einen Anzug, aber der wirkt salopp. Ein Mann für Frauen, denke ich. Alle sind mir sogleich wieder vertraut. Franks Frau Kathleen und die Söhne Steven und Mark habe ich bisher nur auf den Fotos gesehen, welche die Neujahrswünsche begleiteten. Kathleen kann es sich nicht verkneifen, mich vorwurfsvoll zu fragen, warum ich denn seit damals nie mehr in die USA gereist sei.

„Lass sie doch“, ruft Sammy, aber ich antworte: „Es hat sich einfach nicht ergeben.“

Der wahre Grund ist, dass ich mich immer gegen Dinge gesträubt habe, die von mir eigentlich erwartet werden, aber aus meiner Sicht nicht unbedingt notwendig sind – was häufig Konflikte mit Peider oder Paula oder auch mit meinem Bruder ergab. Sie waren oft von mir enttäuscht. Die Notwendigkeit für einen Besuch zu Aarons Lebzeiten ist mir entgangen, und nun hat sein Tod die Reise notwendig gemacht. Wobei klar ist, dass ich im Hintergrund stets den Gedanken hegte, die Familie zu besuchen. Warum sonst hätte ich meinen US-Reisepass immer wieder erneuert?

„Und wo ist deine Familie?“ frage ich Sammy.

„In Tucson. Ich bin geschieden. Hab's dir noch gar nicht mitgeteilt.“

„War längst fällig“, versetzt Frank. „Ich meine die Mitteilung, nicht die Scheidung.“

„Und du, Abby, bist immer noch Single?“

Ich sehe, wie die Brüder einen Blick wechseln. Abby antwortet: „Na ja, es ist ein bisschen kompliziert, ich erkläre es dir später, wenn wir Zeit haben.“

*

Auch Father O'Neill ist anwesend. Bestimmt hat er heute morgen bereits die Messe gelesen, und zweifellos wird er die Abdankung halten. Katholisch. Brendas Sippe stammt aus Irland. Aaron hat keine Religion mehr gehabt, er war ein Freidenker wie sein Bruder. Alle Kinder wurden Brenda zuliebe katholisch getauft, und irgendwann beschloss Aaron, sich ebenfalls taufen zu lassen.

Er hat mir das eines Abends ausführlich erzählt, mit einem leichten Grinsen im Gesicht. Eingeführt in den Geschäftsbereich der katholischen Kirche habe ihn der junge Father O'Neill, zu dem er ein väterliches Verhältnis entwickelt habe. Die Taufe sei eine kleine Sensation gewesen: der Eigentümer eines der besten Bekleidungsgeschäfte von Milwaukee liess sich taufen. Father O'Neill habe einen christlichen Namen vorgeschlagen, was Aaron abgelehnt habe. Er habe erklärt, wenn sich die katholische Kirche auch auf das Alte Testament berufe, könne er seinen Namen ruhig behalten. Vater war es übrigens egal gewesen, dass sich sein Bruder taufen liess. Nachsichtig sagte er: „Nun hat Brendas Bearbeitung endlich gewirkt.“

Brenda hat übrigens seinerzeit auch bei mir sondiert, ob ich nicht etwa bereit wäre, den katholischen Glauben wieder anzunehmen – mit achtzehn war ich aus der Kirche ausgetreten, was Vater guthiess und Mutter akzeptierte. Brenda führte ein paar Begegnungen mit Father O'Neill herbei. Ich blieb bei meinen Zweifeln. Wir warfen uns unsere unvereinbaren Positionen an den Kopf. Ich mag klare Situationen, und mit ihrem Christentum haben sie ein tolles Ding gedreht, das unweigerlich Verwirrung stiften muss. Da erklärt Jesus, er sei Gottes Sohn. Somit gibt es einen Vater, der ist göttlich, und eine Mutter, die ist menschlich, und die Zeugung besorgte ein Heiliger Geist. Der einzige saubere Ausweg aus dem Schlamassel wäre die Anerkennung von drei Göttern, doch nein, sie wollten am Monotheismus festhalten und schufen dieses rätselhafte Gebilde der Dreifaltigkeit, das niemand versteht.

Angesichts von Aarons Prominenz war auch Bischof MacCabe zur Taufe in der triumphal geschmückten und bis auf den letzten Platz besetzten Kirche erschienen. Aaron nannte ihn nur den alten Makkabäer und sprach seinen Namen stets als Ma-ca-bee aus. Den Bischof erlebte ich als eitlen Kerl, stets auf die Würde seines Amtes pochend, aber der Übername schien ihm nicht übel zu gefallen. Immerhin habe Judas Makkabäus erfolgreich einen Aufstand gegen die heidnischen Seleukiden angezettelt, erklärte der Bischof gegenüber Father O'Neill, der es brühwarm Aaron berichtete. Bischof MacCabe war in seinem Sprengel höchst beliebt. Er war ein begnadeter Koch. Regelmässig lud er seine Gemeindepriester zu einem Gelage ein, bekochte sie mit irischem Lachs und kredenzte ihnen beste Weine.

*

Nun eilt Father O'Neill, der zum Anlass eine schwarze Soutane trägt, auf mich zu und umarmt mich. Er sagt: „Meine kleine Thomasina!“ Dabei reicht er mir kaum noch bis zum Gesicht. Das Alter und womöglich die Bürde des Amtes haben ihn gekrümmt, und sein Gesicht zieren Hunderte von Fältchen, die alle mitlächeln als er mich mit beiden Armen so hält, dass er mich betrachten kann. Ich erinnere mich, wie wir seinerzeit kompromisslos debattierten. Ich zweifelte dabei die Auferstehung an. Ich sagte, „nun, jemand hat einfach die Leiche geklaut, so sehe ich das.“ Father O'Neill schüttelte verzweifelt sein Haupt und nannte mich „doubting Thomasina“. Der Name ist mir geblieben. Ich habe nichts dagegen, ich bin nun einmal eine Zweiflerin. Und nehme das Recht wahr, selbst zu entscheiden, was ich glaube. Kurz zusammengefasst: ich glaube nur an solche Fakten, die mir einleuchten. Ich muss diese Qualifikation machen. Schliesslich präsentiert man uns immer wieder Fakten, die gar keine sind – obschon im Brustton der Überzeugung als solche deklariert. Oftmals bestimmt die Mehrheit, was Fakt ist – auch wenn's noch so falsch ist. Also immer aufgepasst: selbständiges Denken ist gefordert.

Ich rechnete und rechne es Father O'Neill hoch an, dass er mir trotz fundamentaler Meinungsverschiedenheit seine Zuneigung nicht entzogen hat. Nun will er wissen, wie es mir geht. Er betrachtet mich prüfend und beantwortet die Frage selbst: „Vom Leben gezeichnet, aber ganz gut drauf.“ Dann muss er sich um seine Schäfchen kümmern. Er enteilt, um die Abendmesse zu lesen.

*

Mitten im Zimmer steht Aarons verwaister Lehnstuhl gegenüber einem Fernsehgerät von exorbitanten Ausmassen. Schon zu meiner Zeit hat hier ein solcher Apparat gestanden. Brenda fand zwar, das Ding passe nicht zur Einrichtung, und sie liess den ersten Fernseher in einem Schrank montieren. Doch dann wurden die Geräte grösser, und es fand sich kein diskret aussehendes Behältnis mehr. Schliesslich willigte sie ein, auf den Schrank zu verzichten.

Auf dem Sessel hat die Familie ein Foto von Aaron im Posterformat platziert. Es zeigt ihn als alten, aber noch gesunden Mann mit kurzgeschorenem Haar, Heftmann-Nase und gesunder Gesichtsfarbe. Alte Männer mit langen Haaren sind Aaron stets ein Gräuel gewesen. Ich hab einmal gesehen, wie er sein Gesicht verzog, als ein derartiger Kunde sein Geschäft betrat. „Schrecklich“, murmelte er, musste den Mann aber persönlich bedienen, da es sich um einen prominenten Lokalpolitiker handelte.

Aaron trug stets – auch in seiner Freizeit – Anzüge aus gutem Tuch, und er legte Wert darauf, dass seine ganze Familie gut gekleidet auftrat.

Nach seinem arbeitsreichen Tag im Geschäft und dem Nachtessen pflegte er sich hier niederzusetzen, goss sich einen Whisky ein, dem mehrere folgten, griff sich die Fernbedienung und zappte durch die Reihe seiner Lieblingssender. Dabei hielt er einen Dialog mit der Welt. Er gab legendäre Kommentare ab. Wenn irgendein Kommunist zu Fidel Castro pilgerte und mit ihm einen Bruderkuss tauschte, rief Aaron: „Blindgänger aller Länder, vereinigt euch.“ Er mochte die Kommunisten wegen ihres Dogmatismus nicht und warf ihnen zudem versteckten Antisemitismus vor.

*

Mittlerweile ist es Abend geworden. Ich spüre den Jetlag und frage Brenda, ob ich mich zurückziehen könne.

„Klar, meine Liebe. Dein altes Zimmer ist vorbereitet.“

Sie gibt mir einen Gutenachtkuss, ich gehe nach oben, dusche und lege mich schlafen. Das Fenster ist offen, das Mondlicht, die Geräusche und die Düfte der Nacht sind wie damals. Ich fühle mich wohl. Auch wenn ich Aaron vermisse: ich bin zurückgekehrt.

3

Um vier Uhr morgens fühle ich mich ausgeschlafen. Das ganze Haus liegt in tiefer Stille. Im Badeanzug schleiche ich nach draussen. Die Luft ist angenehm frisch, über dem Michigan-See steigt die Sonne dunkelgelb leuchtend empor. An der Seeseite des Hauses gibt es ein Schwimmbassin. Ich tauche ein und beginne, Längen zu schwimmen.

Angezogen begebe ich mich in die Küche. Eines der Mädchen von gestern ist hier. Sie ist die feste Hausangestellte, wie sie erzählt. Der Butler und eine Kollegin sind nur für einen Tag zugemietet worden. Sie bereitet mir ein Frühstück, und ich lese den Milwaukee Journal Sentinel am grossen Tisch im Esszimmer. Nach und nach trudeln die Familienmitglieder ein, bereits für die Feierlichkeit gekleidet.

Gegen neun Uhr fahren wir in drei eigens für den Zweck gemieteten Stretch-Limousinen zur Abdankung in der Saint Robert Roman Catholic Church. Father O'Neill richtet den Gottesdienst aus, und ich bemerke auch den alten Makkabäer, der nun wirklich alt geworden ist.

Die Kirche ist ziemlich voll. Father O'Neill kündigt der Gemeinde an, ihr Bruder Aaron sei nun bei Gott und im ewigen Leben gelandet. Ich denke, Gott behüte. Ein ewiges Leben? Aaron würde sich zu Tode langweilen. Nun, nicht gerade zu Tode. Aber nehmen wir an, wir könnten unser jetziges Bewusstsein ins Jenseits retten – und anders würde das Versprechen ja keinen Sinn machen. Es wäre eine verfluchte Strafe. Was tun den ganzen Tag in den himmlischen Sphären? Und ohne Aussicht auf ein Ende? Kommt, lasst uns das alles vergessen. Der Tod ist eine ziemlich vernünftige Einrichtung, insbesondere wenn man des Lebens satt sterben kann.

Vor dem Sarg, der in einem Meer von Blumen versinkt, steht Aarons Posterbild neben einem Stehpult, und an dem verliest Frank einen Lebenslauf seines Vaters. Mich berührt es angenehm, dass keine Tränen vergossen werden. Die Familie nimmt Aarons Tod mit ernster Gelassenheit hin.

Danach rollen wir in einer feierlich wirkenden Kolonne von schwarzen Wagen in gemächlichem Tempo zum nahen Glen Oaks Cemetery. Die Kirche ist angenehm gekühlt gewesen, und auch die Autos sind klimatisiert. Draussen ist es jedoch sommerlich heiss. Auf Wiesen zwischen Baumgruppen sind die Grabsteine aufgereiht, und Aarons Grab liegt mittendrin, weit weg vom Schatten der Bäume. Am Grab gibt es nochmals einige unvermeidliche Zeremonien. Ich bedaure es nicht, ein gottloses Geschöpf zu sein. Father O'Neill scheint die Hitze nichts auszumachen, das liegt vermutlich am dünnen Blut seines Alters, aber entweder um die in der Sonne bratende Trauergemeinde zu schonen oder wegen der langjährigen Übung erledigt er das Geschäft schnell.

Hierauf findet sich die Gemeinde zum Trauermahl im edlen Hotel Pfister in der Innenstadt ein. Hier haben Aaron und Brenda uns nicht nur zu den Familienfesten eingeladen. Als ich hier weilte, pflegte Aaron die ganze Sippe einmal im Monat zum Essen auszuführen. Und immer ins Pfister.

*

Ich sitze in der zunehmend fröhlich werdenden Tischrunde, die den Schrecken des Todes langsam wegtrinkt, und erinnere mich. Als ich zwanzig war, sandten mich meine Eltern zu Aaron und Brenda. Sie dachten an einen zweimonatigen Aufenthalt im Sommer. Zweck war es, den Familienkontakt neu zu knüpfen.

Sie selbst reisten höchst ungern. Vaters Beruf als Geometer zwang ihn nicht dazu. Mutter schleppte ihn ein paar Mal ins Südtirol und in den Schwarzwald. Letzteres hatte historische Gründe. Nach Abschluss der Hotelfachschule arbeitete Mutter in einem Schwarzwaldhotel, lernte den jungen Hotelier Tenz kennen, und die beiden verliebten sich. Das lief ziemlich stürmisch ab, und nach einem halben Jahr heirateten sie. Sie waren eine kurze Zeit glücklich, auch wenn sich kein Nachwuchs einstellte. Zwei Jahre nach der Heirat fand Tenz heraus, dass er schwul war. Die beiden liebten sich immer noch, fanden aber es sei besser, sich zu trennen. Sie taten das ohne grosses Aufheben. Tenz wurde vermutlich von Schuldgefühlen geplagt. Deswegen, oder weil er sie immer noch liebte, fand er Mutter äusserst grosszügig ab und überschrieb ihr die Hälfte seines gutgehenden Hotels. Und in dem Hotel machten meine Eltern Ferien, wenn sie sich zu einer – nach ihrem Empfinden grösseren – Reise aufrafften.

Tenz starb früh und vermachte seinen Anteil seiner Schwester, die das Hotel so erfolgreich weiter führte, dass Mutter, die schon bald Marcus Heftmann heiratete, ein gutes Zusatzeinkommen in die Ehe brachte. Und damit nicht genug. Als Mutter starb, kaufte „Tante Tenz“, die für uns Kinder auf natürliche Weise zu einer Tante mutiert war, die Erben aus. Vater verzichtete auf seinen Anteil. Eine Wagenladung Geld landete bei meinem Bruder Roland und mir, und wir „investierten in Immobilien“, wie Vater es nannte. Roland, der meinem Vater als Geometer nachgefolgt war, konnte sich ein Haus in einem hübschen Dorf kaufen, und ich, wegen Mutters Tod aus den USA zurückgekehrt, erstand eine geschickt renovierte Wohnung in einem Altbau im Seefeld.

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