Mein Dank geht an Peter Windsheimer für das Design des Titelbildes. Des
Weiteren an Ariane und Michael Sauter.

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Vorrede:

Die Erkenntnislehre der Bhagavad Gita

„Keiner sei gleich dem anderen, doch gleich sei jeder dem Höchsten. Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.“

Es gibt wohl kein Buch in der Welt, das bei allen, die es kennen, in so hohem Ansehen steht als die Bhagavad Gita, das Lied von der Gottheit, enthaltend die Lehre von der menschlichen Vollkommenheit im göttlichen Dasein. Auch hat noch jeder, der den Geist des wahren Christentums begriffen hat, dieses Buch als unübertrefflich erkannt. Unter anderen sagt Wilhelm von Humboldt, dass er Gott danke, weil Er ihn habe lange genug leben lassen, um dieses Werk kennen zu lernen. Je öfter man es liest, um so mehr fühlt man sich erhoben zu den Regionen des Lichtes der Wahrheit; je mehr man in den Geist dieser Lehre eindringt, um so mehr nähert man sich der Erkenntnis des göttlichen Grundes alles Daseins bis zu einer Tiefe, die der nur oberflächlichen, äußerlichen Naturforschung, die sich ja nur im Reiche der Erscheinungen bewegen kann, ein unerforschliches Geheimnis bleibt.

Im Lichte der Bhagavad Gita betrachtet, erscheint uns die Welt als etwas ganz Anderes und viel Erhabeneres, als wenn wir sie nur vom materiellwissenschaftlichen Standpunkte betrachten. Da sehen wir statt des leblosen Raumes einen Weltenraum voll Licht und Leben; da fassen wir die Natur nicht mehr als ein zusammengesetztes Stückwerk von lebenden und leblosen Dingen auf, sondern erkennen sie als eine Einheit, als einen allesumfassenden Organismus von unsichtbaren Kräften, ein lebendiges All, vom göttlichen Geiste, der in allen Dingen nach Offenbarwerden strebt, durchdrungen, und wir erkennen den Menschen selbst als ein überirdisches Wesen, an einen irdischen Körper gebunden, dessen Konstitution sich im Laufe der Evolution zu jener Vollkommenheit entwickelt hat, die nötig war, um sie zum Innewohnen des himmlischen Geistes tauglich zu machen und den Menschen zu befähigen, schließlich die Gottheit selbst als den Grund seines eigenen wahren Wesens und als die ewige Ursache seines Daseins zu erkennen. Mit dem Erwachen dieses Bewusstseins erlangt aber auch sein Leben einen ganz anderen und vorher nicht begreifbaren Zweck. Er findet, dass weder der Besitz äußerlicher Dinge, noch die Belustigung seiner Sinne, noch die Befriedigung seiner wissenschaftlichen Neugierde, sondern vielmehr die Erkenntnis des göttlichen Daseins und das dadurch bedingte Bewusstwerden seiner Unsterblichkeit der wahre Zweck seines Daseins ist. Wird ihm das innere Auge des Geistes durch das Verständnis der Lehren der Bhagavad Gita eröffnet, so findet er, dass, ebenso wie sein irdisches Wesen zu allen anderen Wesen auf Erden in Beziehung steht, sein geistiges Wesen mit den Bewohnern des Reiches der Geister verkehren kann. Er findet, dass er tatsächlich schon jetzt im Himmel ist, weil der „Himmel“ oder die „Überwelt“ die der äußeren Natur und allen ihren Geschöpfen zu Grunde liegende geistige Wesenheit ist, und ohne das Vorhandensein der Seele auch keine Offenbarung derselben in sichtbaren Formen stattfinden könnte. Durch das Erwachen der innerlichen Erkenntnis reicht er hinaus über den Bereich der Theorie und wird durch die eigene Erfahrung belehrt. Der in ihm zum Selbstbewusstsein erwachte göttliche Geist erkennt sein eigenes geistiges Wesen und damit auch die übersinnliche Welt des Geistes, die seine Heimat ist.

Aber dieses Erwachen des Geistes wird nicht ohne schwere Kämpfe errungen. Wohl dringt das göttliche Licht der Wahrheit in die Seele des Menschen ein, ohne dass er dabei dem Lichte behilflich sein kann; aber es stellen sich diesem Eindringen eine Menge Hindernisse in der Form von Begierden und Leidenschaften, falschen Vorstellungen und verkehrten Anschauungen in den Weg, und die Bhagavad Gita lehrt, was diese Feinde sind und wie sie überwunden werden können. In ihr wird der Kampf zwischen dem unsterblichen und dem sterblichen Teile des Menschen geschildert und der Weg zum Siege des Göttlichen über das Tierische im Menschen gezeigt.

Ardschuna (der Mensch) befindet sich auf dem Schlachtfelde (dem Felde der Tat, das das irdische Leben ist) zwischen zwei feindlichen Heeren, wovon das eine die höheren (Pandavas), das andere die niederen Seelenkräfte (Kurus) bedeutet. Da steht der Sohn Kuntis (der Seele) gegenüber seinen Verwandten, den Söhnen Dhritaraschtras (das materielle Dasein) und wird von der Selbstsucht, dem Eigenwillen, dem Eigendünkel, dem Selbstwahne und seinen Begierden, Lust, Leidenschaft, Hass, Zorn usw. bedroht. Aber auch auf seiner Seite stehen mächtige Krieger. Da ist vor allem er selbst, der Wille zum Guten, die Ergebung (Yudhistira); die Liebe zur Wahrheit, das höhere Selbstbewusstsein (Gottvertrauen), die Kraft der Überzeugung (Glaube), Erhabenheit, Pflichtgefühl, Beständigkeit, Aufrichtigkeit, Gerechtigkeitsgefühl, Selbst- beherrschung usw.. Ardschuna erkennt, dass die Feinde, die er bekämpfen soll, wenn nicht sein eigenes Selbst, so doch seine „nächsten Verwandten, Freunde und Lehrer“ (denn auch die Leidenschaften belehren den Menschen) und somit Teile seines Selbstes sind. Da entsinkt ihm der Mut zum Kämpfen und er lässt seinen Bogen (den Willen) fallen.

Nun erscheint Krischna, der dem Menschen innewohnende und ihn „beschattende“ göttliche Mensch und belehrt Ardschuna über die wahre Natur des Menschen und seine Stellung zu Gott. Er erklärt ihm, dass das, was der persönliche Mensch für sein Selbst hält, nur eine Täuschung ist; dass alle aus dieser Täuschung entspringenden Zustände, Begierden und Leidenschaften auch nur vorübergehende Erscheinungen sind, und dass der Mensch dadurch zur Erlösung kommt, dass er sie überwindet und sich mit Gott, dem unsterblichen Sein aller Wesen, vereint. Die Bhagavad Gita lehrt somit die höchste von allen Wissenschaften, die Vereinigung des Menschen mit Gott (Yoga) und den Weg zur Unsterblichkeit.

Wie alle heiligen und wahrhaft religiösen Dinge, wenn sie von dem Standpunkte des gemeinen, tierischen und beschränkten Verstandes betrachtet und oberflächlich beurteilt werden, dadurch in das Reich der Gemeinheit, des Unverstandes und Irrtumes herabgezogen und verkehrt aufgefasst werden, so erging es auch vielfach der Bhagavad Gita in den Händen der Sprachforscher und Buchgelehrten. Äußerlich und oberflächlich betrachtet stellt sie eine Episode während eines Kampfes dar, der in der Mahabharata, einem Teile der Veden, beschrieben wird. Das Alter der in den Veden niedergelegten Lehre wird nach den in demselben enthaltenen astrologischen Angaben auf mindestens 25.000 Jahre geschätzt, und die Gelehrten unter den Brahminen sind ebenso uneinig darüber, um welche Zeit der Kampf zwischen den Kurus und Pandavas stattgefunden habe, als die Theologen des Mittelalters darüber uneinig waren, um welche Zeit Adam in den „Apfel“ gebissen hätte, wo das „Paradies“ gelegen habe usw.. Eine Verständigung über diese für uns höchst uninteressante Angelegenheit können wir getrost den Philologen, Theologen und Geschichtsforschern überlassen; wir haben es nicht mit leeren Worten und Formen, sondern mit dem Geiste der in den Veden enthaltenen Lehren zu tun, der der Geist der Wahrheit und folglich ja auch der Geist des wahren Christentum ist. Die Erhabenheit dieser Lehren fängt jetzt auch an in Europa allgemein anerkannt zu werden. Sie versetzten sogar den griesgrämigen und verbitterten A. Schopenhauer in eine gewisse Begeisterung, denn als er sie teilweise in einer persisch-lateinischen Übersetzung, genannt das „Oupnek´- hat“, d. h. „das zu bewahrende Geheimnis“, kennen gelernt hatte, schrieb er folgendes:

„Wie wird doch der, dem durch fleißiges Lesen das Persisch-Latein dieses unvergleichlichen Buches geläufig geworden ist, von jenem Geiste (der Veden) im Innersten ergriffen! Wie ist doch jede Zeile so voll ernster, bestimmter und durchgängig zusammenströmender Bedeutung! Aus jeder Zeile treten uns tiefe, ursprüngliche, erhabene Gedanken entgegen, während ein hoher und heiliger Ernst über dem Ganzen schwebt. Alles atmet hier indische Luft und ursprüngliches, naturverwandtes Dasein. Und, o wie wird hier der Geist reingewaschen von all dem früh eingeimpften jüdischen Aberglauben und allen diesem fröhnenden Philosophien! Es ist die belehrendste und erhabenste Lektüre, die (den Urtext ausgenommen) auf der Welt, möglich ist; sie ist der Trost meines Lebens gewesen, und wird der meines Sterbens sein“ (Aus `Parerga´).

Der Umstand, dass das lange Gespräch zwischen Krischna und Ardschuna beim Beginne des Kampfes auf dem Schlachtfelde stattfindet, was doch wahrlich kein Ort für ausgedehnte philosophische Diskussionen ist, und dass „die Hauptstadt Hastinapura“ das Himmelreich bedeutet, hätte wohl, so sollte man glauben, gewisse gelehrte Ausleger der Bhagavad Gita auf den Gedanken bringen können, dass es sich hier, wie ja auch in der Bibel und in anderen Schriften mystischer Natur, um geistige Dinge und nicht um alleinstehende historische Ereignisse handelt, wenn sie auch in der Form von Erzählungen dargestellt sind, um die darin enthaltene Wahrheit dem Verständnisse näher zu bringen. Es ist da nicht von Dingen, die einmal geschehen sind und jetzt der Vergangenheit angehören, die Rede, sondern von der fortwährenden Wirkung der Gesetze des Geistes in der Natur. Wie nicht nur einmal ein Baum gewachsen ist, sondern fortwährend Bäume wachsen, so wiederholt sich auch die Schlacht zwischen den Kurus und Pandavas beständig in jedem einzelnen Menschen, der nach geistiger Entfaltung strebt, und auch im Leben der Menschheit als Ganzes, deren Entwicklung ja das Resultat der Summe der Entwicklung aller Einzelnen ist. Desgleichen findet auch das große Werk der Erlösung, das ja ein innerliches sein muss, wenn es den inneren Menschen erlösen soll, fortwährend statt. Jetzt sowohl als vor Millionen von Jahren, als die menschliche Form genug entwickelt war, um das Licht des göttlichen Gedankens zu empfangen, strömt das geistige Licht in ihn ein, und so oft der Mensch zu dessen Bewusstsein gelangt, wird in ihm der Erlöser, die Erkenntnis seines göttlichen Daseins, geboren. Das haben auch die christlichen Heiligen und Mystiker gewusst und bekannt, und die christliche Lehre von der geistigen Wiedergeburt des Menschen ist nichts anderes als die Lehre von dem Wiedererwachen des Gottesbewusstseins im Menschen, so wie es im „Neuen Testament“ sinnbildlich dargestellt ist. Jeder ist selbst Ardschuna; jeder hat selbst einen „Schlachtwagen“, d. h. seine mit mystischen Kräften begabte Natur, und in ihm hat auch sein geistiger Führer (Krischna) einen Sitz und erteilt dem irdischen Menschen seine Ratschläge. Wird der Mensch in seinem Bewusstsein Eins mit dem Erlöser, der in ihm seine Wohnung hat, so sind Ardschuna und Krischna, Adam und Christus, Eins in dieser Vereinigung und der „Schlacht- wagen“ wird zum Tempel des Geistes Gottes, der in uns wohnt; denn Ardschuna ist der irdische, denkende Mensch, Krischna der erkennende Gottmensch, „der andere Mensch, dem Himmel entstammend“, der im irdischen Menschen und auch über ihm wohnt; und nur durch die Vereinigung mit dem Gottmenschen, der das Wahre und Wirkliche ist, kann der irdische Mensch zur Verwirklichung des Idealen, zur Vollkommenheit und Erlösung von Irrtum und Sünde gelangen.

Dieser Kampf zwischen der göttlichen und tierisch-intellektuellen Menschennatur ist in allen großen Religions- systemen sinnbildlich dargestellt. Im Christentume z. B. als der Kampf zwischen dem Erzengel Michael (dem Höheren Selbste) und dem Drachen (dem Repräsentanten des Irdischen Selbstes) dessen Rachen die Habsucht, dessen Atem die Leidenschaft und dessen Flügel Eigenwille und Größenwahn sind. In jedem Wesen ringt das Licht mit der Dunkelheit; in jeder Form strebt der Geist Gottes in der Natur nach Offenbarung; aber erst im Menschen findet er einen Gehilfen, der ihm mit Bewusstsein und Intelligenz beistehen kann, das Dunkel und den Irrtum zu überwinden.

Der Schlüssel zum Verständnisse der Bhagavad Gita wie auch der Bibel und anderer theosophischer Schriften ist die Erkenntnis der zweifachen Menschennatur und die Fähigkeit, das Unsterbliche im Menschen von dem, was in ihm sterblich ist, zu unterscheiden, und die Bhagavad Gita lehrt uns, wie diese hohe Erkenntnis und Unterscheidung erlangt werden kann. Mit einem bloß theoretischen Wissen in Bezug auf die zweifache Natur des Menschen oder mit einem blind- gläubigen Fürwahrhalten dieser Lehre ist nicht viel gedient, denn weder in dem einen noch in dem anderen besteht die wahre Erkenntnis, die nur durch die Erfahrung erlangt werden kann. Eine, wenn auch nur theoretische Kenntnis dieser Lehre ist unzweifelhaft von großem Werte, weil sie den Menschen veranlassen kann, selbst nach der ihm innewohnenden höheren Kraft zu suchen: Wie aber das Studium eines Weges auf der Landkarte erst dann einen wirklichen Zweck hat, wenn davon Gebrauch gemacht wird, und wie wir den Weg erst dann richtig kennen lernen, wenn wir ihn selber gehen; oder wie das Studium einer Speisekarte uns nicht satt machen kann, wenn wir nichts von dem, was darauf bezeichnet ist, zu essen bekommen, so erfüllt auch das Studium der Bhagavad Gita erst dann seinen Zweck, wenn die darin angegebenen Lehren im alltäglichen Leben befolgt und ausgeübt werden. Wir können auch von äußerlichen Dingen, die wir niemals wahrgenommen haben, keine andere als eine bloß theoretische Kenntnis, die ja nur in unserer eigenen Vorstellung besteht, haben, und diese Kenntnis ist unvollkommen, solange sie nicht durch die eigene Erfahrung bestätigt wird. Ebenso ist es im Geistigen. Die wahre Erkenntnis besteht nicht darin, dass man weiß, was in der Bhagavad Gita oder in der Bibel steht, sondern sie besteht in einem Erwachen des Geistes, wodurch das Wahre selbst im Menschen offenbar und zu einem Teile seines Wesens wird. Erst dadurch wird er sich ihrer selbst bewusst. In jedem Menschen ist ein Funke der göttlichen Selbsterkenntnis enthalten, er ist „der Same des unsterblichen Daseins“ der, von der Flamme der göttlichen Liebe ergriffen, zum Lichte wird, in dem alles Dünken und Wähnen und Meinen verschwindet und die ewige Wirklichkeit in ihrer Herrlichkeit offenbar wird. Man muss selbst Ardschuna sein und den Kampf mit dem eigenen Selbstwahne, dem eigenen Eigen- dünkel, den eigenen Vorurteilen, Begierden, Leidenschaften und Irrtümern aufnehmen, um zu wissen, was dieser Kampf bedeutet, man muss die Gegenwart von Krischna in sich selber empfunden haben, um sie zu begreifen, und sich dem Höheren Selbste genähert haben, um zu ahnen, was die Vereinigung von Gott und dem Menschen ist. Was nützt es mir, wenn ich in der Bibel lese, dass jemand gesagt haben soll: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“; oder wenn ich weiß, dass in der Bhagavad Gita steht: „Ich bin in allen Dingen das Höchste. Ich bin das Licht in allen Dingen, die Licht haben. Ich bin der Ursprung von allem. Ich bin der Anfang, die Mitte und das Ende“ u. s. f., wenn ich nicht weiß und erkenne, was dieses „Ich“, das in allem und folglich auch in mir selbst das Licht, die Wahrheit und das Höchste, mein Anfang und mein Ende ist, bedeutet und es als etwas mir Fremdes und Unhaltbares betrachten. Allerdings werde ich dieses mein göttliches Ich niemals finden, solange ich es nur außer mir und nicht auch in mir selbst suche; denn Gott kann weder durch das Fernrohr noch durch das Mikroskop gefunden werden; wer aber sein wahres göttliches Ich, das Ich aller Wesen, in sich selbst gefunden hat, der erkennt Es auch in allem. „Wer Gott in sich selbst und in allem erkennt, der ist der richtige Seher“. Der Weg zu dieser Erkenntnis wird in der Bhagavad Gita gelehrt. Er ist der Weg der Wahrheit und führt uns aus den Mauern der Täuschungen, von denen wir umgeben sind, zum unsterblichen Dasein in der unvergänglichen Wirklichkeit. Er führt uns alle zum Ziele, vorausgesetzt, dass wir ihn wirklich betreten und uns nicht nur in unserer Phantasie darauf ergehen.

Die Wahrheit ist die Wirklichkeit, alles andere ist vergänglicher Schein. Die Wahrheit ist unvergänglich; deshalb kann auch das, was in uns wirklich ist, nicht vergehen; während das, was in uns nicht wahr und nicht ewig ist, dem Untergange verfällt. Auch erlangt das, was in uns ewig und unsterblich ist, erst dann für uns einen wirklichen Wert, wenn wir es erkennen; denn auch die Materie, aus der ein Stein oder ein Stück Holz besteht, ist unsterblich, es geht von ihr nichts aus dem Weltall verloren. Aber eine Unsterblichkeit, deren man sich nicht bewusst ist, wäre ebenso sinnlos als der Besitz eines Reichtumes, von dem man nichts weiß.

„Aber“, so werden manche sagen, „wir finden den Weg zur Erlösung bereits in der Bibel angegeben. Wozu bedürfen wir der Schriften der indischen Weisens?“ — Wer den geheimen Sinn der Bibel versteht, der hat weder die Bibel noch die Bhagavad Gita mehr nötig, wer ihn aber nicht versteht, dem dient gerade die Bhagavad Gita dazu, ihn kennen zu lernen. Wir verachten die Bibel nicht, sondern schätzen sie umso mehr, als sie, insofern sie richtig übersetzt ist, zum größten Teile eine Wiedergabe der in den indischen Veden vorhandenen Lehren enthält, allein es fehlt darin die Auseinandersetzung der wissenschaftlichen Begründung, die in den Veden zu finden ist. Die Bibel war ursprünglich für die Eingeweihten geschrieben, d. h. für die, welche die Allgegen- wart des göttlichen Geistes in sich selbst empfanden und erkannten und deshalb keiner anderen Beweise für dessen Vorhandensein bedurften. Als aber die Bibel Gemeingut wurde und der Schlüssel zu ihren heiligen Geheimnissen unter den Unheiligen verloren ging, da bemächtigte sich auch ihrer der Unverstand, eine Verblendung durch den Buchstaben trat an die Stelle der Erkenntnis des Geistes und hatte verkehrte Auslegungen zur Folge, die, wie bekannt, zu den größten Verirrungen der Menschheit führten. Deshalb sehen wir auch heute noch, dass es trotz allem sogenannten Religionsunterrichte der „Religion“ an einer vernünftigen Grundlage fehlt und dass sie vielfach in Schwärmerei und Aberglauben ausartet, während es der Philosophie und besonders der medizinischen „Wissenschaft“ an der notwendigsten Grundlage alles wahren Wissens mangelt, die aus der Selbsterkenntnis der ewigen Wahrheit entspringt, die nur durch die Kraft der über allen Egoismus erhabenen, allesumfassenden Liebe erlangt werden kann, weil ohne diese Erhebung die Wissenschaft nicht aus dem Kreise ihrer Beschränktheit und Kurzsichtigkeit heraustreten und sich zu der geistigen Größe entfalten kann, die nötig ist, um zu der höheren Weltanschauung zu gelangen, die das Weltall als ein Ganzes, die Einheit des Wesens von allen Dingen und den innigen Zusammenhang aller Geschöpfe untereinander erkennt.

Der erleuchtete Mystiker Thomas von Kempen sagt: „Wohl dem, den die Weisheit selber belehrt, nicht durch vergängliche Worte, sondern so, wie sie ihrem Wesen nach ist“. Solche gibt es nur wenige, aber es sind viele, die der reinen Erkenntnis fällig sind und nur deshalb nicht zu ihr kommen können, weil ihnen die Welt des Irrtumes die Augen voll Sand gestreut hat und sie ihn sich nicht selbst auswischen können. Für solche ist die Bhagavad Gita geschrieben. Glücklich ist der, der bereits so von der Kraft des Glaubens durchdrungen ist und dessen Seele so fest in der Erkenntnis der Wahrheit Wurzel gefasst hat, dass er keiner wissenschaftlichen Stütze bedarf, um sich daran zu halten; aber viele bedürfen dieser Stütze, so wie ein junger Baum einer Stütze bedarf, um nicht vom Sturmwinde niedergerissen zu werden. Vielerlei sind die Feinde, die das Erwachen der Seele des Menschen verhindern. Wohl dem, der sie und ihren Ursprung kennt. Es ist leicht zu predigen: „Bezähme deine Begierden, liebe Gott, überwinde dich selbst“, aber dieser Rat ist schwer zu befolgen für den, der die Natur seiner Begierden nicht kennt, und nicht weiß, weshalb er sie nicht befriedigen soll, der nicht weiß, wo er Gott finden kann, und mit dem Wesen des „Selbstes“, das er überwinden soll, nicht vertraut ist. Um sich selbst und seine Natur zu beherrschen, ist es gut, sie erst kennen zu lernen. Wird das „Selbst“ einmal in Wahrheit als Täuschung erkannt, so ist es auch schon überwunden. Um Gott zu lieben, muss man Ihn erkennen, und wer kann in Wahrheit das lieben, von dessen Dasein er nichts empfindet und nichts weiß? Um seine Natur zu beherrschen und sie sich zu Diensten zu machen, ist es zweckmäßig, ihre Gesetze kennen zu lernen und zu wissen, welche Stellung der Mensch im Weltall einnehmen kann und soll. Diese heilige Wissenschaft ist es, die in den Veden enthalten ist und diesen den Vorrang gibt über andere „heilige Schriften“, in denen diese Lehre nur stückweise und hinter Parabeln und Allegorien verborgen gefunden werden kann.

Es handelt sich vor allem darum, einen richtigen Begriff von dem innerlichen Wesen des Menschen und der Natur zu erlangen, und dass das nicht auf dem Wege der äußerlichen Beobachtung erreicht werden kann, versteht sich von selbst. Innerliche Wahrheiten können nicht durch die äußerlichen Sinne erkannt werden, und Schlussfolgerungen aus solchen Beobachtungen bleiben immer zweifelhafter Natur. Die Wahrheit dagegen bedarf keines anderen Beweises als Ihre Erkenntnis, und solange wir nicht selbst zu dieser Erkenntnis gekommen sind, ist es von größtem Wert, die Lehren der Weisen, die die Wahrheit erkannt haben, zu beherzigen, um so mehr, wenn sie uns den Weg zeigen, wie wir selbst zu dieser Erkenntnis gelangen können, die das Endziel des menschlichen Daseins ist.