Der Naturwissenschaftler Dipl.-Math. Klaus-Dieter Sedlacek, Jahrgang 1948, lebt seit seiner Kindheit in Süddeutschland. Er studierte neben Mathematik und Informatik auch Physik. Nach dem Studienabschluss 1975 und einigen Jahren Berufspraxis gründete er eine eigene Firma, die sich mit der Entwicklung von Anwendungssoftware beschäftigte. Diese führte er mehr als fünfundzwanzig Jahre lang. In seiner zweiten Lebenshälfte widmet er sich nun seinem privaten Forschungsvorhaben. Er hat sich die Aufgabe gestellt, die Physik von Information, Bedeutung und Bewusstsein näher zu erforschen und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Im Jahr 2008 veröffentlichte er ein aufsehenerregendes und allgemein verständliches Sachbuch mit dem Titel „Unsterbliches Bewusstsein – Raumzeit-Phänomene, Beweise und Visionen“. Er ist der Herausgeber der Reihe „Wissenschaftliche Bibliothek“.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Sonderauflage von

„Panchala: Abenteuer in der geheimnisvollen

Welt der hohlen Erde“

© 2012, 2016 Klaus-Dieter Sedlacek

Cover: Sedlacek

Alle Rechte vorbehalten

Internet: www.klaus-sedlacek.de

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7412-3275-6

Tief im Innern der Erde verborgen geht Suchandra, der dreiundzwanzigste Herrscher von Panchala, im Staatszimmer seines Stadtpalastes auf und ab. Ihn bekümmert es nicht, dass man heute in der Oberwelt die Theorie der hohlen Erde als veraltet abtut. Bereits um das Jahr siebzehnhundert nahmen Wissenschaftler wie Edmund Halley und der berühmte Isaac Newton an, dass die Erde eine Hohlkugel sei. Das Erdinnere sollte durch verschiedene Öffnungen, etwa im Bereich der Pole, zugänglich sein. Heute sind Hohlräume zur Erklärung der Eigenschaften der Erde allerdings nicht mehr notwendig. Suchandra ist das gerade recht, obwohl er es besser weiß, denn dann stören keine wissenschaftlichen Suchtrupps seine Kreise.

Er hat nämlich ganz andere Sorgen und wälzt schwere Gedanken. Yasemin, seine einzige Tochter wird demnächst 16 Jahre und ist immer noch nicht verheiratet. »Bald wird sie keinen Mann mehr finden«, ängstigt er sich. Suchandra, mit seinen 1,60 m einer der Größten seines Volkes legt sein grünliches, freundliches Gesicht in Sorgenfalten: »Verflixt, es muss doch eine Lösung geben.«

»Wer kann mir raten?«, überlegt er. Es kommt ihm nicht in den Sinn, seine Frau zu fragen. Als diese ihn einmal vorsichtig demütig auf das Thema der Verheiratung von Yasemin ansprach, musste er sie zurechtweisen: »Was erlaubst du dir Frau? Das entscheiden Männer.« Unterwürfig machte sie einen Rückzieher und er verzieh ihr großmütig.

Gedankenverloren schaut er durch das Fenster auf die vor seinem Stadtpalast vorbeilaufende Prachtstraße der Hauptstadt Korakar. Dort krabbelt es wie in einem Ameisenhaufen. Nur dass die einzelnen Ameisen die Größe von Autos erreichen. Wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass die Ameisen Maschinen aus Metall sind mit sechs Beinen.

Panchala besitzt außerhalb seiner Hauptstadt Korakar kein so dichtes Straßennetz wie die Staaten der Außenerde. Und wo Straßen fehlen, nützen übliche Pkws wenig. Um dem Verkehrsproblem in einem Land ohne Straßen abzuhelfen, haben die panchalanischen Ingenieure den Krabbi entwickelt, wie er im Volksmund heißt. Mit seinen sechs Beinen kann er praktisch über jedes Gelände krabbeln. Wenn es etwas ein- oder auszuladen gibt, nutzt er zwei seiner Beine als Hebewerkzeug. Die restlichen vier Beine reichen völlig aus, um ihm einen sicheren Stand zu gewährleisten. Die Karosserie des Krabbi unterscheidet sich nur wenig von der eines Pkws. Sie besitzt meist vier Türen und viel Glas rundherum, um dem Krabbifahrer eine gute Sicht zu gewährleisten. Zum Ein- und Aussteigen senkt der Krabbi seine Karosserie ab bis knapp über den Boden. Auf ein mündliches Kommando öffnet sich automatisch die Tür und der Krabbifahrer kann einsteigen. Ein weiteres gesprochenes Kommando veranlasst den Krabbi loszukrabbeln. Er findet sein Ziel selbstständig mithilfe eines hoch entwickelten Navigationssystems. Die eingebauten Sensoren erfassen den entgegenkrabbelnden Verkehr und das durch einen Quantenrechner gesteuerte automatische Kollisionsvermeidungssystem verhindert jeden Verkehrsunfall. Kein Wunder also, dass in Panchala praktisch jeder Haushalt so einen Krabbi besitzt, wenn auch häufig nur als Statussymbol.

Suchandra fasst schließlich einen Entschluss und drückt die Sprechtaste des Bildschirmtelefons auf seinem Schreibtisch. Auf dem Bildschirm erscheint seine Sekretärin, die einen Schleier vor dem Gesicht trägt. Sie ist mit einer gelben sackartigen Leinenkutte bekleidet. Die Haare werden unter einer Kapuze verborgen. Suchandra befiehlt: »Höre Purnima! Lass Lutalo den obersten Tugendwächter kommen, ich brauche seinen Rat.«

»Wird sofort erledigt, Durchlaucht«, antwortet Purnima. Ihr Bild verschwindet vom Schirm.

Suchandra zieht seine schillernd bunte Seidentunika zurecht und setzt sich in Erwartung von Lutalos Kommen auf seinem riesigen, reich verzierten Schreibtischsessel in Position. Der Sessel mit der erhöhten Sitzfläche erinnert eher an einen Thron, als an ein Büromöbel. Suchandra legt eine gewichtige Miene auf. Eine Minute später klopft Lutalo und Suchandra bittet ihn herein.

Niemand braucht einen Diener zu machen, wenn er Suchandras Staatszimmer betritt. Als modern denkender Herrscher hat Suchandra die gebückte Haltung seiner Gefolgschaft abgeschafft. Allerdings möchte er nicht ganz auf den kleinen Unterschied zwischen Herrscher und Gefolgschaft verzichten. Der Besuchersessel vorm Schreibtisch ist deutlich niedriger als sein eigener. Der Unterschied in der Sitzhöhe beträgt ganze zwanzig Zentimeter, so dass seine Besucher zu ihm aufschauen müssen, wenn sie vor ihm sitzen. Mit einer gnädigen Handbewegung bedeutet Suchandra seinem Besucher, sich zu setzen.

Lutalo mit genauso grünlicher Gesichtshaut, wie Suchandra trägt eine giftgrün schillernde Seidentunika, die Amtskleidung des obersten Tugendwächters. Er nimmt Platz. Seine stechenden Augen blicken lauernd und er presst seine Lippen zusammen. Sein verkniffener Mund mit den heruntergezogenen Mundwinkeln sieht hässlich aus.

»Lutalo, ich brauche seinen Rat«, beginnt Suchandra das Gespräch. Suchandra redet seine Gefolgschaft in der dritten Person Singular an, während er erwartet, dass diese ihn in der dritten Person Plural anredet und das einfache Volk duzt er.

Lutalo antwortet verhalten. Beim Reden erscheint sein Mund noch hässlicher, als er schon ist: »Welchen Rat, Durchlaucht?«

»Was denkt er darüber, dass meine Tochter Yasemin nicht verheiratet ist?«

»Mit Verlaub, als oberster Tugendwächter von Panchala muss ich sagen, dass das eine Untugend ist, die nicht zum Vorbild für das Volk werden sollte. Durchlaucht, Sie müssen auf Sitte und Anstand achten.«

Suchandra ärgert sich über die Vorschrift, die ihm Lutalo machen will. Immer wenn er sich ärgert, bekommt er einen roten Kopf. Zusammen mit der grünlichen Grundfarbe wird sein Gesicht dann Braun. Er schaut von seinem erhöhten Sitz auf Lutalo herab: »Was ich muss, Lutalo, das kann er getrost mir überlassen. Ich hatte nur wissen wollen, was er denkt. Aber wenn er schon den ehelosen Stand meiner Tochter als Untugend betrachtet, dann lasse er sich gefälligst etwas einfallen, wie man dem abhelfen kann.«

»Ohne ihre Aufforderung, hätte ich mich nie getraut etwas zu sagen, Durchlaucht.«

»Schwätz er nicht herum, sondern lasse er sich etwas einfallen.«

»Haben Durchlaucht schon an das Sonnenfest gedacht, das wir jedes Jahr abhalten, wenn unsere Erd-Innensonne den höchsten Stand erreicht hat.«

»Was soll das Sonnenfest für meine Tochter bringen?«

»Nun, beim Sonnenfest und den zugehörigen Wettbewerben, den Sonnenfestspielen feiern wir den Sieg der Guten und Reinen über das Böse.«

Suchandra wird ungeduldig. »Lutalo, spann er mich nicht auf die Folter! Sag er schon, was er meint.«

»Der Beste unter den Guten und Reinen wird jedes Jahr als Sieger der Sonnenfestspiele ermittelt. Dieses Jahr sollen im Finale die besten Piloten mit ihren jeweiligen Fluggeräten antreten und ihre Künste zeigen. Wie wäre es, wenn Durchlaucht Tochter Yasemin als Preis aussetzen würde?«

Suchandras Gesicht entfärbt sich, das Braune weicht dem grünlichen Grundton. Er setzt eine zufriedene Miene auf: »Himmel, das ist es Lutalo! Der Beste unter den Guten und Reinen, der den Wettbewerb gewinnt, ist auch in den Augen meines Volkes ein würdiger Ehemann für Yasemin. Ich werde sie als Preis aussetzen. Wir können dann im Anschluss an das Sonnenfest Verlobung feiern. Und spätestens vier Wochen später sind sie verheiratet. Yasemin wird sich freuen.«

»Als Vorsitzender der Jury, die den Sieger kürt, wird es mir eine Ehre sein, ihre Tochter Yasemin dem Besten zuzuführen«, grinst Lutalo hässlich.

»Das muss ich ihr gleich sagen.« Suchandra drückt in Vorfreude den Sprechknopf an seinem Bildschirmtelefon: »Purnima! Meine Tochter Yasemin soll zu mir kommen.«

»Wird sofort erledigt, Durchlaucht«, antwortet Purnima diensteifrig.

Minuten später tritt Yasemin ohne anzuklopfen ein. Anstelle der üblichen gelben Leinenkutte mit Kapuze und Gesichtsschleier trägt sie neumodische Importjeans und Pullover von der Oberwelt. Ihre halblangen, brünetten Haare sind nicht bedeckt.

Lutalo, dem obersten Tugendwächter, fällt der Unterkiefer runter. Entsetzt fragt er: »Yasemin, gehst du etwa so auch auf den Straßen unser Hauptstadt Korakar spazieren?«

Yasemin schaut ihn mit ihrem hübschen, offenen Gesicht an und stellt freundlich eine Gegenfrage: »Und wenn es so wäre, Lutalo, wo gäbe es ein Problem?«

»Das wäre eine Untugend, die ich nicht dulden könnte.«

»Wie wollte er das verhindern, Lutalo?«, lacht Yasemin und stemmt die Arme in die Taille.

»Warte nur, Yasemin! Jetzt kannst du noch untugendhafte Reden führen, aber wenn du erst einmal verheiratet bist, dann wird man dir schon Tugend beibringen.« Lutalo grinst hämisch und reibt sich die Hände.

»Will er mir etwa drohen, Lutalo? Mir der Tochter des Herrschers?

Lutalo tritt den Rückzug an: »Nein, natürlich nicht, ich wollte nur untertänigst auf eine untugendhafte Denkweise aufmerksam machen.«

Yasemin beachtet ihn nicht weiter und wendet sich ihrem Vater zu: »Was gibt es Paps?«

»Yasemin, meine liebe Tochter, ich habe eine freudige Nachricht für dich.«

»Das ist schön Paps. Bist du sicher, dass die Nachricht freudig für mich ist und nicht nur für dich und Lutalo?«

»Aber sicher wirst Du dich freuen, Yasemin.«

»Dann lass mich raten, Paps. Du hast offiziell den Schleier für Frauen abgeschafft.«

»Falsch, Yasemin, ganz kalt.«

»Also dann rate ich noch mal. Du hast die Tugendvorschrift der gelben Leinenkutte für Frauen abgeschafft. Frauen dürfen sich ab sofort kleiden, wie sie wollen.«

»Ach, Yasemin, mein Herz, wie kommst du auf so etwas Abwegiges? Es geht um dich persönlich und nicht um irgendwelche Vorschriften. Ich hab gedacht, weil du doch bald 16 Jahre wirst, wirst du dich über die Lösung freuen, die ich für dich persönlich gefunden habe. Du kannst in Zukunft ein allseits gefälliges, tugendhaftes Leben in einer Ehe führen.«

»Nein, Paps, sag, dass das nicht wahr ist.« Yasemin legt erschrocken ihre Hand vor den Mund.

»Doch, Yasemin, mein Herz, es ist wahr. Ich kann verstehen, dass du so eine freudige Nachricht nicht glauben willst. Aber du darfst dich wirklich freuen. Die Guten und Reinen des Landes werden sich um Dich reißen.«

»Warum versteigerst Du mich nicht, an den Meistbietenden?«, fragt Yasemin sarkastisch, während sie sich eine Träne aus den Augen wischt. »Fünfhundert Ziegen, als Preis für meine Unschuld müssten drin liegen.«

Suchandra interpretiert die Reaktion seiner Tochter falsch: »Es ist schön für mich, deine Freudentränen zu sehen, Yasemin. Und stell dir vor, du bist mir unendlich wertvoll. Du wirst nämlich nicht zu kaufen sein. Ich hab beschlossen, dich als Preis auszusetzen. Der Beste im Finale der Sonnenfestspiele wird dich gewinnen.«

»Alle guten Geister.« Yasemin ist für einen Augenblick sprachlos. Dann kommt ihr Protest: »Ich lasse mich nicht einfach verheiraten, Vater. Ich will irgendwann einen Mann meiner Wahl heiraten. Aber jetzt noch nicht.«

Lutalos Kopf läuft dunkelbraun an. Er fährt von seinem Sitz hoch. »Yasemin, wie kannst du es wagen, solch untugendhafte Reden zu führen? Du weißt genau, dass du deinem Vater gehörst. Du musst tun, was dein Vater sagt! Du musst dich fügen.«

Mutig widerspricht Yasemin: »Kein Mensch hat das Recht, einen anderen als sein Eigentum zu betrachten. Ich gehöre nur mir selbst, Lutalo.«

Lutalo redet sich immer mehr in Rage: »Das ist gegen die Ordnung unseres Schöpfers. Frauen gehören den Männern. Das war schon immer so. Und wer sich dagegen auflehnt, der ist ein Ketzer, den der Schöpfer bestrafen möge.«

Yasemin wendet sich an ihren Vater: »Papa, sag doch was dazu.«

Suchandra windet sich: »Nun ja, Yasemin, ich erkenne an, dass du einen eigenen Verstand hast und ihn auch gebrauchst. Andererseits beruft sich Lutalo auf unsere Traditionen und den Schöpfer.«

»Vater, glaubst du im ernst, Lutalo sei das Sprachrohr des Schöpfers, nur weil er sich so gebärdet und tugendhaft tut? Ich glaube eher, dass er den Willen des Schöpfers verbiegt, um auf illegale Weise Macht über uns auszuüben.«

Lutalo fährt dazwischen: »Yasemin, wenn du deine Einstellung nicht änderst, und dich nicht fügst, wie es einer Frau geziemt, dann wird dir das noch leidtun. Du wirst dann nicht mit dem Besten der Guten und Reinen verheiratet, sondern der Schöpfer wird dich strafen, indem er dich an den Niedrigsten der Niederen vergibt.«

»So geht's nicht.« Yasemin stoppt Lutalos unbotmäßige Rede. Sie wird schärfer und weist ihn zurecht: »Mäßige er sich! Er spricht mit der Tochter des Herrschers.«

Suchandra sieht seinen Einfluss schwinden und versucht abzuwiegeln: »Yasemin, wir wollen jetzt nicht in Gegenwart von unserem geschätzten obersten Tugendwächter Lutalo über Fragen der Tugend und Tradition diskutieren. Es geht heute nur um die Sonnenfestspiele.« Zu Lutalo gewandt: »Lutalo, er kann gehen. Ich bin der Meinung, es bleibt erst einmal so, wie ich es beschlossen habe.«

Lutalo verabschiedet sich mit einem höhnischen Grinsen.

Yasemin ist erleichtert. »Dieser Mensch ist wirklich schwer zu ertragen. Kannst du dir das gefallen lassen, wie Lutalo versucht, auf illegale Weise Macht auszuüben, Vater? Gebrauche doch deinen Verstand.«

Suchandra seufzt: »Wir müssen vorsichtig sein, Yasemin. Regieren ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Lutalo hat unter dem gemeinen Volk eine große Anhängerschaft, und wenn er die aufwiegelt mit dem Argument, seine Worte seien der Wille des Schöpfers, dann kann sogar mein Herrschersessel wackeln."

Yasemin ist bestürzt: »So habe ich das noch nicht gesehen, Vater. Aber ich lasse mich trotzdem nicht verheiraten. Bitte, Paps, wir müssen gemeinsam eine Lösung finden. Dann bin ich auf ewig deine liebe Tochter.«

*

»War es ein gutes Krabbeln, alte Bleichhaut?« Lutalo erkundigt sich freundschaftlich nach dem Weg von Hermann Krüger, so wie man in der Außenwelt »Hattest du eine gute Fahrt?«, gefragt hätte. Er ist gerade zurück von dem Gespräch mit Suchandra und unmittelbar zum Haus der Tugendwächter gegangen. Dieses liegt gleich neben dem Staatssitz des Herrschers und ist leicht zu erkennen an den fünf spitzkegelförmigen mit Blattgold verzierten Aufsätzen auf dem flachen Dach.

Hermann Krüger gehört zu der Gruppe der ehemaligen deutschen Wehrmachtsoffiziere, die 1945 am Ende des verlorenen Krieges in die Antarktis nach Neuschwabenland flüchteten und von dort aus durch ein Höhlensystem in das Reich Panchala, im Inneren der hohlen Erde, kamen. Er muss in der Reichshauptstadt Korakar einiges erledigen und nutzt die Gelegenheit, seinem alten Bekannten Lutalo im Haus der Tugendwächter einen kurzen Besuch abzustatten. Lutalo redet ihn gern mit »alte Bleichhaut« an, weil er im Gegensatz zu den grünhäutigen Panchalaner bleich aussieht.

In Korakar zieht Krüger immer seine verschlissene Wehrmachtsuniform an, weil er glaubt, das würde seine stattliche Figur betonen und den Menschen Ehrfurcht einflößen. Doch seine Figur ist nicht mehr stattlich, sondern vom Alter gebeugt, die blonden Haare sind schütter grau geworden und seine Haut verschrumpelt und faltig. Ein vorderer Schneidezahn ist schon lange ausgefallen. Er hat Angst vor den panchalanischen Zahnärzten. So bekommt sein Begrüßungslächeln etwas Lückenhaftes.

Krüger stöhnt: »Ich kann mich nur schwer an diese Krabbis gewöhnen. Immer will ich führen, aber dieses Fahrzeug weicht allen Gefahren automatisch aus und so sitze ich unruhig auf dem Führersitz und kann doch nichts tun.«

Lutalo lacht dreckig: »Na, wenn es das Einzige ist, Krüger, woran du dich nicht gewöhnen kannst, dann hast du dich in den vielen Jahren, die du hier bist, an unsere Geflogenheiten unter der Erde gut angepasst.«

Fast unhörbar betritt eine Verschleierte den Raum mit einem Tablett in der Hand, auf dem zwei Gläser stehen, die eine milchähnliche Flüssigkeit enthalten. Sie reicht erst Krüger und dann Lutalo ein Glas. Beide nehmen einen Schluck.

»Ah, die gute vergorene Ziegenmilch«, lobt Krüger, bevor er sein Glas auf einem Beistelltisch abstellt. »Danke für das Kompliment vorhin, Lutalo. Doch was mir zu schaffen macht, ist die niemals untergehende Innenerdsonne. Der Rhythmus von Tag und Nacht fehlt völlig und ich komme durcheinander, weil ich nicht weiß, ob gerade Zeit fürs Schlafen oder fürs Mittagessen ist.«

Lutalo bringt bestimmt zum hundertsten Male die gleiche Erklärung für die ständig scheinende Innenerdsonne und Krüger hört wie immer geduldig zu: »Nun, eine richtige Sonne, wie in der Außenwelt haben wir nicht. Unsere Innenwelt ist wie eine riesige Blase, die im glühenden Erdkern schwimmt. Manche Teile der Blasenwand sind fest und isolieren uns gegen den heißen Erdkern ab. Auf diesen festen Teilen stehen wir.«

»Glaubst du wirklich, in einer Blase gäbe es feste Teile, Lutalo? Sieh dir nur den Himmel an.« Krüger ist skeptisch.

»Ja, ich stehe auf festem Boden, alte Bleichhaut. Wenn du schwebst, sag es mir. ‒ Was die Himmelsbereiche betrifft, so glühen die mehr oder weniger. Die besonders glühenden Stellen der Blasenwand bezeichnen wir als Sonne, genauer Innenerdsonne.«

»Umso erstaunlicher, dass es einen jahreszeitlichen Rhythmus gibt«, wirft Krüger ein.

»Im Sommer, wenn wir das Sonnenfest mit Wettbewerben feiern, steht die Innenerdsonne am höchsten und im Winter am niedrigsten.«

Krüger lacht: »Danke für die Erklärung.« Er hat jetzt den Ansatzpunkt gefunden, wie er sein Anliegen vorbringen kann: »Wenn die Innenerdsonne am höchsten steht, finden ja Sonnenfestspiele statt. Ich wollte mich zu den diesjährigen Wettbewerben wieder anmelden, Lutalo.«

»So? Und für welche Disziplin?«, fragt Lutalo ihn lauernd mit gierigem Blick.

»Ich besitze den neuesten keilförmigen Senkrechtstarter, einen Deltaflügler der Oberwelt. Der hat ein hochleistungsfähiges Plasmatriebwerk eingebaut. Das ist besser als die panchalanischen Plasmatriebwerke. Jetzt kann ich alle anderen Fluggeräte ausstechen«, erläutert Krüger.

Lutalo staunt. »Woher hast du den Deltaflügler?«

»Das kann dir doch egal sein«, antwortet Krüger leicht verlegen.

»Nicht ganz, wir haben euch Bleichhäuten 1945 unter der Bedingung Asyl gewährt, dass ihr euch in unser Volk integriert und keine Verbindung mehr zur Oberwelt aufnehmt. Die vorhandenen Verbindungen müssen streng unter staatlicher Kontrolle bleiben.«

»Mach dir keine Sorgen, Lutalo. Alles im grünen Bereich.«

»Gut Krüger«, erwiderte Lutalo mit schmierigem Grinsen, »ich will das auf sich beruhen lassen und nicht weiter nachforschen. Ich bin aber nicht davon überzeugt, dass du mit deinem Deltaflügler die anderen ausstichst. Allerdings für fünfzig Milchziegen könnte ich mich überzeugen lassen.«

Krüger holt tief Luft: »Du wirst immer teurer Lutalo.« Nachdem Lutalo nichts sagt, sondern ihn nur belauert, beeilt sich Krüger zu sagen: »Einverstanden, Lutalo. Schick mir einen Transporter, dann bekommst du deine Ziegen. Aber da wäre noch etwas.«

»Ja, Krüger?« Lutalo riecht ein weiteres Geschäft.

»Ich brauche wieder eine junge Frau«, platzt Krüger heraus.

»Krüger, Krüger«, lacht Lutalo verächtlich, »Du hast vielleicht einen Verschleiß. Was ist denn mit deiner Letzten?«

»Das blöde Weib wurde aufsässig und ist mir fortgelaufen. Die will ich nicht mehr.«

Lutalo schnaubt: »Wundern tut mich das nicht. Bei deinem Alter. Aber eine neue junge Frau kostet dich Einiges.«

»Das ist mir egal. So etwas Junges, Knuspriges ist für mich der wahre Jungbrunnen. Und ich brauche in meinem Alter einen Jungbrunnen, besonders noch einen, der meinen Haushalt versorgt.«

Lutalo wiegt seinen Kopf überlegend hin und her. »Ich hätte da möglicherweise etwas für dich, das dir gleichzeitig eine hohe gesellschaftliche Stellung verschaffen würde.«

»Das ist gut. Sag, wer ist es.«

Lutalo wehrt ab: »Vorher müssen wir uns über den Preis einigen.«

»Wie viel, Lutalo?«, fragt Krüger hastig.

»Siebenhundert Milchziegen.«

Krüger erschrickt: »Bist du jetzt übergeschnappt? Soviel hast du noch nie verlangt.«

»Diesmal ist es ein ganz besonderes Mädchen, nicht nur eine vom Volk, sondern eine mit einer gesellschaftlichen Stellung.«

Krüger schüttelt den Kopf: »Zuviel! Das geht über meine Möglichkeiten.«

»Also gut, dann fünfhundert, aber das ist mein letztes Wort.«

Krüger überlegt kurz, bevor er zustimmt: »Einverstanden! Gib deine Hand drauf.« Wie auf dem Ziegenmarkt wird das Geschäft besiegelt.

»Jetzt will ich aber wissen, wer es ist, Lutalo.«

»Hast du schon mal etwas von der einzigen Tochter des Herrschers gehört?

»Himmel! Meinst du etwa Yasemin?« Krüger wird ganz aufgeregt.

»Genau die.«

Krüger pfeift durch seine Zahnlücke: »Jetzt hat sich der Besuch doch gelohnt.«

Bevor Krüger geht, besprechen beide die Winkelzüge, mit denen der Erfolg ihres Geschäftes herbeigeführt werden soll.

*

Oben auf der Erde ist gerade das Weihnachtsfest vorbei. Die meisten Menschen können sich die paar Tage bis Neujahr freinehmen. Paul Wolkenstein der hochgewachsene deutsche Flugzeugingenieur mit den kraftvollen Gesichtszügen würde das auch gerne tun. Er sitzt im schwarzledernen Besuchersessel von Carlos Montero dem Vorstandsvorsitzenden der argentinischen AVIONES ARGENTINA S.A. und versucht es mit einem schwachen Argument: »Warum wollen Sie mir die Aufgabe übertragen, nach dem verschwundenen Deltaflügler zu suchen? Ich bin doch noch nicht lange in der Firma und kenne mich in der Antarktis überhaupt nicht aus.«

Das weiträumige Arbeitszimmer von Montero mit den edlen Paneelen in Kirschbaum und den großen Glasfenstern, die hier vom obersten Stock des Verwaltungsgebäudes einen freien Blick über die Werke und die Flugfelder gestatten, lassen keinen Zweifel an Einfluss und Macht des Vorstandsvorsitzenden aufkommen. Unbegründeter Widerspruch eines Mitarbeiters kann das berufliche Aus bedeuten.

»Senor Wolkenstein, Sie wissen es doch selbst. Sie sind einer der fähigsten Mitarbeiter unserer Flugzeugwerke. Ihr größter Vorzug ist, dass Sie nicht in eingefahrenen Kategorien denken. Sie denken unkonventionell. Sie sind mutig und besonnen. Das befähigt Sie, die Nuss zu knacken.«

»Bitte lassen Sie mich erst einmal die Fakten sehen, Senor Montero, bevor ich mich entscheide.« Paul Wolkenstein rutscht ungemütlich auf dem glatten Leder seines Sessels hin und her. Diesen Auftrag in der Antarktis durchzuführen, das ist eine neue Sache. Er fühlt sich eher als Entwicklungsingenieur, der an Computer oder in Fabrikhallen gehört. Der auch Testflüge in der Umgebung der Flugwerke durchführt, diese aber keinesfalls bis zur unwirtlichen Antarktis ausdehnt. Trotzdem haben seine Ideen dazu beigetragen, aus dem senkrecht startenden Deltaflügler ein Antarktis taugliches Flugzeug zu machen, das nicht nur dem argentinischen Verteidigungsminister Freude bereitet, sondern auch zu Anfragen aus dem amerikanischen Pentagon führt.

Montero argumentiert: »Wenn wir die Ursachen des Verschwindens nicht aufklären und insbesondere Beweise dafür bringen, dass das Problem nicht beim Deltaflügler liegt, wird man alles auf die Technik des Flugzeugs schieben und wir können die vorliegenden Bestellungen und Exportaufträge in den Wind schreiben. ‒ Bevor ich Ihnen etwas zeige und in weitere Details gehe, muss ich Sie fragen, ob Sie Geheimnisse bewahren können?«

Paul weicht aus: »Ich glaube, die Antwort wissen Sie schon, Senor Montero.«

»Natürlich, Senor Wolkenstein. Ich hab von Ihnen nichts anderes erwartet.« Montero übergibt Paul zwei Satellitenfotos. »Hier auf der einen Aufnahme kann man den Deltaflügler erkennen, etwa zum Zeitpunkt des Verschwindens und die andere Aufnahme des gleichen Gebiets wurde zwei Stunden später gemacht.«

»Von welchem Gebiet sind die Fotos?« Paul dreht die Fotos hin und her und betrachtet dann eine Stelle besonders aufmerksam.

»Nicht weit weg vom geografischen Südpol. Unten am Rand sehen Sie Markierungen mit den Koordinaten und der Uhrzeit.«

»Woher haben Sie die Fotos, Senor Montero?«

»Die Amerikaner haben sie uns auf unser Bitten zukommen lassen. Warum fragen Sie?«

»Sehen Sie hier, Senor Montero.« Paul deutet auf eine Stelle nahe dem Deltaflügler. »Das Foto mit dem Deltaflügler wurde nachbearbeitet. Der Schatten des Flugzeugs ist an der falschen Stelle. Wenn die Koordinatenangaben richtig sind, dann müsste sich die Sonne ungefähr hier befinden und der Schatten des Flugzeugs genau in der entgegengesetzten Richtung. Überhaupt scheint die Schneefläche unter dem Flugzeug exakt das gleiche Muster zu haben, wie ein Stückchen oberhalb. Man hat einfach die Schneefläche dupliziert.«

Montero ist skeptisch: »Das kann ich mir nicht vorstellen. Das kann nicht sein! Warum sollte uns eine der höchsten amerikanischen Regierungsstellen hintergehen?«

»Das weiß ich nicht, aber ich hab noch ein Argument, Senor Montero. Vergleichen Sie die beiden Fotos. An der Stelle, an der sich der Deltaflügler auf dem ersten Foto befindet, gibt es auf dem zweiten nur eine Schneefläche. Die hat jedoch eine völlig andere Struktur als auf dem Ersten.«

Montero ist verblüfft. »Ich glaube, Sie haben recht, Senor Wolkenstein.«

»Irgendetwas muss sich unterhalb des Deltaflüglers befinden, was die Amerikaner vor uns verbergen wollen. Haben Sie eine Ahnung, was das sein kann?«

»Das ist mir völlig schleierhaft! Umso wichtiger scheint mir zu sein, dass Sie die Wahrheit über das Verschwinden herausfinden.«

»Senor Montero, die Aufgabe geht völlig über meinen Kompetenzbereich hinaus. Und ab Morgen bin ich für zwei Wochen im Urlaub. Ich wollte mit meiner Familie in Ruhe ein paar schöne Tage über den Jahreswechsel verbringen und Ausflüge unternehmen.«

»Das passt ausgezeichnet, Senor Wolkenstein! Sie bekommen von mir natürlich alle Kompetenzen, die nötig sind, die Aufgabe durchzuführen. Und Sie erhalten den Argojet 45 XR mit dem erfahrenen Piloten Valdez zur Verfügung. Nehmen Sie doch einfach ihre Familie mit und sagen Sie ihr, Sie würden mit ihr einen tollen mehrtägigen Ausflug in die Antarktis machen. Was glauben Sie, wie die sich freuen wird.«

»Und was sage ich meiner Familie, wieso ich den Firmenjet für einen angeblich privaten Antarktisausflug benutzen darf«, fragt Paul wenig begeistert.

»Da wird Ihnen bestimmt etwas einfallen. Wie wäre es, wenn Sie ihr erzählen, Sie hätten die Maschine als Prämie für ihre hervorragenden Leistungen zu stark vergünstigten Konditionen chartern können.«

Paul schüttelt den Kopf: »Senor Montero, Sie lassen nicht locker.« Er sieht keine Möglichkeit mehr, den Auftrag abzulehnen. Deshalb richtet er sich in seinem Sessel auf, sagt aber kein Wort.

Montero nimmt Pauls Schweigen als Zugeständnis: »Ich freue mich auf ihr Einverständnis, Senor Wolkenstein. Und damit wir uns recht verstehen: Über Ihre Mission darf natürlich nichts nach außen dringen. Auch nicht zu ihrer Familie. – Und jetzt viel Glück.«

Benommen verlässt Paul den Raum, geht in sein Büro und denkt in Ruhe über die Aufgabe nach. Nach einigen Stunden hat er einen Plan ausgearbeitet, wie er seine Familie für dieses Abenteuer begeistern kann.

*

Fünf Tage später ist Paul Wolkenstein tatsächlich zusammen mit seiner Familie im Flugzeug unterwegs. Als Kopilot beobachtet er die Instrumente. Besorgt klopft er auf das Anzeigeinstrument für den Treibstoff, als könnte er dadurch die Zeigerstellung verändern. Seine kraftvollen Gesichtszüge legen sich in Sorgenfalten. »Sehen Sie das auch, was ich sehe, Valdez?«, fragt Paul den neben ihm sitzenden Flugkapitän des Argojet 45 XR.

Valdez brummelt etwas Unverständliches, aber seine Stirn bekommt ebenfalls Falten und seine Augen werden schmäler.

»Ist was, Papa?« Von Vater Paul unbemerkt, hat sich Tochter Lea hinter den Kopilotensessel gestellt und versucht ihn zu umarmen.

»Nicht jetzt, Lea«, wehrt Paul nervös ab. »Ich muss mich konzentrieren.« Dann besinnt er sich, dreht sich zu ihr um und fährt liebevoll fort: »Mach dir keine Sorgen, Kleines. Wir lassen uns den Ausflug über den Südpol nicht verderben, nur weil ein Instrument spinnt.« Das Flugzeug scheint mit Pauls Aussage nicht einverstanden zu sein. Wie zur Warnung rüttelt es, als es in eine leichte Turbulenz gerät. Wenn er im Voraus gewusst hätte, was auf ihn zukommt, hätte er bessere Argumente gefunden, den Auftrag von Montero abzulehnen.

Lea beachtet das Rütteln nicht, sondern empört sich: »Aber Papa, nenn mich nicht immer Kleines. Ich bin bald so groß wie Du.« Nachdem sie hörbar Luft eingezogen hat, spricht sie weiter: »Und was ist mit dem Instrument? Kann das gefährlich werden? Damals als Mama abstürzte, war auch ein Instrument dran schuld.« Lea, schlaksig, dünn und ungewöhnlich groß für ihre zwölf Jahre lässt sich nicht so leicht mit Phrasen abspeisen. Der Flugzeugunfall vor zwei Jahren, bei dem ihre Mutter umkam, hat ihre Skepsis vor dem Fliegen verstärkt. Sie bekommt häufig Bauchkrämpfe, wenn sie beim Vater mitfliegt und das Flugzeug von Turbulenzen geschüttelt wird, auch wenn sie sich das nicht anmerken lassen will und tapfer dagegen ankämpft. Vater Paul sieht es ihr trotzdem an. Ihr sonst breiter lachender Mund wird dann eine Spur kleiner, während sie ihn mit größer werdenden blauen Augen fixiert.

Paul lächelt warmherzig: »Lea, lass mir doch die Freude, dich Kleines zu nennen. Und bitte nimm dir eine Schokolade aus der Bordküche. Bring auch Claudia und Finn eine nach hinten. Ich komme sobald nach, wie ich kann, und setz mich zu euch«, beruhigt er sie, ohne direkt auf ihre Frage zu antworten. Dann fügt er hinzu, um sie abzulenken: »Wir überqueren bald den geografischen Südpol. Die Sicht ist ausgezeichnet. Ihr könnt von hier oben gut die Amundsen-Scott-Südpolstation sehen.«

»Erwachsene sind manchmal ätzend«, denkt sich Lea. Sie akzeptiert notgedrungen, dass ihr Vater nichts weiter zu dem Anzeigeinstrument sagen will und tritt vor die Bordküche, die direkt hinter den Pilotensitzen beginnt. Beim Bücken und Aufziehen der unteren Schubladen fällt ihr der blonde, locker gebundene Pferdeschwanz nach vorne und verdeckt ihr stupsnasiges, braun gebranntes Gesicht. Sie nutzt die Gelegenheit, um sich eine Träne aus den Augenwinkeln zu wischen, die ihr immer kommt, wenn sie an ihre verstorbene Mutter denken muss. Dann greift sie mit Schwung in die Schubladen, zieht die Schokolade heraus und betätigt sich als Stewardess für Vaters neue Partnerin Claudia Seidelmann und Finn, deren vierzehnjährigen Sohn.

Lea mag Finn gut leiden. Er ist genauso groß wie sie, hat dunkle Haare, kluge braune Augen hinter Brillengläsern und die ersten Ansätze eines Bartes im Gesicht. Seit sie Finn vor einem halben Jahr kennengelernt hat, tauscht sie mit ihm Abenteuerbücher und populäre Forschungsliteratur aus oder unterhält sich mit ihm über deren Inhalt. Sie ist ganz begeistert, dass er sie ernst nimmt und nicht so albern ist, wie ihre Klassenkameraden. Vor dem Flug über den Südkontinent Antarktika erzählte ihr Finn, dass ein großes Loch am Südpol sein soll, welches in das Innere der Erde führt. Jetzt ist sie gespannt, ob sie das Loch sieht, wenn das Flugzeug den Südpol überquert. Lea setzt sich die Reihe hinter Finn ans Fenster und schaut gebannt nach unten.

Minuten später, nachdem er sich mit Valdez verständigt hat, erhebt Paul seine 1,85 m große Gestalt vom Kopilotensitz und geht mit elastischen Schritten den Gang entlang nach hinten. Dabei muss er den Kopf leicht einziehen, damit seine mittelblonden kurzen Haare nicht an der Kabinendecke entlang bürsten. Im Gegensatz zu Valdez trägt er anstelle einer feschen Pilotenuniform Jeans und eine Safariweste mit vielen Taschen, in denen er bei Bedarf immer etwas findet, was ihm in seinem Ingenieurberuf nützlich ist.

»Das ist aber schön, Paul, dass du dich vom Steuerknüppel losgerissen hast. Ich weiß, wie schwer dir das fällt«, Claudia Seidelmann, die anmutige, mittelschlanke, aber sportlich kräftige Mutter von Finn betrachtet Paul wohlgefällig. Die großen Augen in ihrem hübschen Gesicht lächeln Paul an. Claudia ist Argentinierin und so reden sie untereinander in Spanisch.

»Auf die Länge einer Pfeife muss einfach Zeit sein, mit dir oder unseren Kindern zu reden, liebe Claudia«, antwortet Paul mit warmer Stimme und streichelt ihre Wangen. Er setzt sich ihr gegenüber und stopft sich langsam und bedächtig seine Pfeife.

Der Argojet hat neun Plätze für Passagiere. Da sie aber nur zu viert sind, Valdez nicht mitgezählt, können sie sich ausbreiten. In der Flugzeugmitte befindet sich die Vierersitzgruppe, in der Mutter Claudia, Finn und jetzt auch Vater Paul sitzen. Davor und dahinter gibt es eine Zweierreihe, je ein Sitz links und rechts vom Gang. In der hinteren Sitzreihe breitet sich Lea aus. Paul hat seiner Patchwork Familie erzählt, er habe die Maschine über den Jahreswechsel von seinem Arbeitgeber, der Aviones Argentina S.A. zu stark vergünstigten Konditionen chartern dürfen unter der Bedingung, dass er nach der Rückkehr einen Testbericht über die Gebrauchstauglichkeit in der antarktischen Kälte abliefert. Paul ist begeistert darüber, dass er seiner Familie etwas Besonderes bieten kann. Sein Auftrag nach dem verschwundenen Senkrechtstarter, dem Deltaflügler zu suchen, stört ihn dabei nicht. »Wie hat dir unser Ausflug über die Antarktis bisher gefallen, Claudia?«, möchte er wissen.

Finns Mutter Claudia spricht mit verträumtem Blick. »Vor meinem geistigen Auge sind gerade noch mal alle beeindruckenden Bilder vorbeigezogen von unserem Ausgangspunkt Ushuaia an, der südlichsten Stadt Argentiniens. Meine Arbeitskollegen sagen, Ushuaia sei das Ende der Welt, aber es ist in Wirklichkeit der Anfang einer Welt, der fantastischen Welt Antarktis.«

Die Turbinen geben auf einmal ein röhrendes Geräusch von sich, welches das beständige Heulen überlagert. Erschreckt hebt Claudia ihren Kopf: »Was ist das?« Gleich darauf hört das Röhren wieder auf und das normale Turbinengeräusch geht weiter.

»Mach dir keine Sorgen.« beruhigt sie Paul. »Valdez hat alles im Griff. Du wolltest mir von deinen Eindrücken erzählen.«

Claudia erzählt weiter: »Vorgestern die Strecke von Ushuaia zu den Süd-Shetland Inseln über die Drake Straße hat mich sehr beeindruckt. Nachdem wir King Georg den Vorposten der Antarktis erreicht hatten, fühlte ich mich euphorisch. Nur die Erkenntnis, dass auf dieser letzten befestigten Schotterlandebahn schon viele Piloten ihr Leben gelassen haben, erschreckte mich ein wenig. Ist dir nicht die zerbrochene Maschine am Rande der Landebahn aufgefallen?«

»Das braucht dich nicht zu erschrecken, Claudia. Das war technisches Versagen einer altersschwachen Maschine. Das Bugrad hatte geklemmt. Aber wir fliegen mit einer neu entwickelten, zuverlässigen Maschine«, beruhigt Paul.

»Das will ich dir gern glauben, Paul. Aber dennoch, ein Fehler scheint mir in der Antarktis unverzeihlich zu sein. Denk nur daran, dass die Zeitungen vor wenigen Tagen von dem Verschwinden des Deltaflüglers in der Antarktis berichteten. Bis man den findet und Hilfe kommt, ist es sicher zu spät.« Claudias Stimme klingt besorgt.

Paul denkt: »Himmel, kann Claudia nicht von etwas anderem reden, als von dem verschwundenen Deltaflieger?« Zum Glück fängt Finn an, auf seiner Maultrommel zu spielen.

Finn spielt gerne, wenn er in Stimmung ist. Er fand jedenfalls die Übernachtung in der Notunterkunft auf der King Georg Insel abenteuerlich. Die Notunterkunft war ein Container mit vier Stockbetten. Draußen heulte der Wind und alle saßen gemütlich beisammen und erzählten sich Geschichten. Die Erinnerung daran ist es, die ihn jetzt wieder in Stimmung bringt. Finn hält seine Bügelmaultrommel mit der linken Hand an die leicht geöffneten Lippen und drückt sie an die Schneidezähne, dass die Metallzunge dazwischen durchschwingen kann. Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand zupft er am Ende der Metallzunge und erzeugt den Grundton, der bei jeder Melodie immer mitschwingt.

Die urzeitlich klingenden, vibrierenden Obertöne, denen er mit der Mundhöhle als Resonanzraum unterschiedliche Klangfarben gibt, hören sich auch für den Unmusikalischen wie ein richtig schönes Lied an, wie das Lied zu dem der folgende Text gehört:

Kein schöner Land in dieser Zeit,

als hier das unsre weit und breit,

wo wir uns finden

wohl unter Linden