Nach dem großen Vorbild Salomo Friedländer, der Kant für Kinder als Fragelehrbuch zum sittlichen Unterricht schon 1924 in die Schulen bringen wollte, versuchen Birgit Becker und Marc Borner nun einen weiteren Vorstoß und bringen Kant nicht nur theoretisch, sondern sehr spielerisch nah.
Eine Dokumentation ihrer fünfjährigen Erfahrung an einem Gymnasium in Darmstadt.
Birgit Becker ist Pädagogin M.A. und Mutter zweier Kinder. Sie forscht seit 2003 wissenschaftlich auf dem Gebiet „Philosophieren mit Kindern“. Seit 2004 gibt sie Seminare u.a. an der TU Darmstadt. Nach drei Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Pädagogik der Natur und Umweltwissenschaften bei Professor Euler, gründete sie zusammen mit Judith Ebersoll (geb. Pfeiffer) 2011 in Darmstadt das Institut Philosophieren mit Kinder mit dem Namen Paidosophos. Die vorliegende Arbeit wurde 2007 zusammen mit Marc Borner verfasst.
Dr. Marc Borner ist klinischer Psychologe an der Universitätsklinik Charité in Berlin. Neben Psychologie hat er Philosophie und Zoologie studiert und beschäftigt sich mit der Philosophie des Geistes, des Körpers, der Emotionen und der Aufklärung. 2002 begann er, inspiriert von Ekkehart Martens, philosophische Seminare für Kinder an mehreren Schulen im Rhein-Main Gebiet zu geben. Er ist fest davon überzeugt, dass Philosophie praktisch umgesetzt werden kann und dass gerade das Philosophieren mit Kindern dazu beiträgt, das ursprüngliche Staunen über die Welt zu erhalten und zu fördern: Vor allem über diesen Anker kann man Spaß und Freude am Denken entdecken und entwickeln. Philosophie ist dabei eine beständig ergänzte Landkarte. Sie hilft sich im Denken zu orientieren.
für alle fragenden Kinder
Um doppelte Schreibweisen verschiedener Wörter, die für beide Geschlechter existieren zu vermeiden, haben wir im Folgenden konsequent die weibliche Schreibweise benutzt (z.B. Spielleiterin). Dies soll natürlich nicht bedeuten, dass nur das eine Geschlecht für entsprechende Abschnitte in Frage kommt und auch keine Diskriminierung in irgendeiner Weise ausdrücken.
© 2016 Paidosophos Becker&Pfeiffer GbR,
2007, TU Darmstadt, Werksarbeit, Birgit Becker, Marc Borner
Umschlag: K.Dufter (Autor), www.photocase.de/de /photodetail.asp?i=47353,
Grafiken: Marta Cadena Arias
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 9783741278990
Den zweihundertsten Todestag von Immanuel Kant im Jahre 2004 nahmen der Philosoph Marc Borner und die Pädagogin Birgit Becker zum Anlass, um ein kinderphilosophisches Konzept zu entwerfen, das auf verschiedene Jahrgangs- und Schulstufen übertragbar sein sollte. Beide hatten das große Glück, dass der „Kantianer“ Professor Peter Euler aus dem Institut Pädagogik der TU Darmstadt sich sofort für dieses Projekt begeisterte und sich bereit erklärte, dieses Vorhaben tatkräftig zu unterstützen. Aus diesem Angebot heraus entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit und ein regelmäßiges zweimonatiges Treffen. Diese Treffen waren für das Projektteam Borner/Becker notwendig, um die eigenen Gedanken der kantianischen Philosophie mit denen eines „Kantprofis“, der sich über mehrere Jahrzehnte hinweg für die kantianische Philosophie begeisterte, abzugleichen. Eine Verständnisklärung und das Ausräumen von üblichen Missverständnissen war aber nur ein Grund, warum die Zusammenarbeit so wertvoll war. Ein anderer Grund war die manchmal fremd erscheinende, philosophische Umsetzung und Übertragbarkeit auf Kinder und Jugendliche. Die Sprache von Immanuel Kant spiegelt die Zeit wider, in der er lebte - leider ist sie für Kinder und selbst für Jugendliche sehr fremd und fast schon unnahbar. Wir wollten aber auch nicht auf sie verzichten, selbst wenn wir klar von einer Textbearbeitung Abstand nahmen. Einen sehr guten Kompromiss fanden wir darin, seine Sprache in Satzauszügen in die moderne Sprache zu übersetzen. Dies auch mit der Motivation, nicht viel von ihm verlieren zu wollen. Durch mehrmaliges Wiederholen in der Schülerinnengruppe stellt sich meist die Einsicht heraus, dass die Texte nicht so fremd und unverständlich sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen, selbst wenn wir mit großen Begriffen zu kämpfen haben. Im Laufe seiner Zeit verwendete Kant immer bedeutungsträchtigere Begriffe (z.B. „das Ding an sich“, „Vernunft“, „Verstand“), zu denen frau erst einmal einen Zugang finden muss, um über sie reden zu können. Am Ende seines Schaffens verstrickte sich Kant in seine eigenen Begriffe so sehr, dass nur er selbst sie verstand. So weit darf es in einer Philosophiegruppe nicht kommen. Eine Begriffsklärung bzw. Definition muss also mit der Gruppe stattgefunden haben, bevor diese aus der kantischen Sprache übersetzt werden können. Das Projektteam Borner/Becker setzte sich vor die große Aufgabe, die kumulativen Gedanken Kants mit Kindern und Jugendlichen nachzuvollziehen und selbst zu erarbeiten. Das Philosophieren mit Kant ist im kantischen Sinne gemeint. Immanuel Kant zeigt mit seinen vier grundsätzlichen Fragen:
wie ein Richtungsweiser den Weg, aber gehen muss diesen Weg jeder für sich.
Die Zusammenarbeit mit Professor Euler, um das Konzept „Kant für Kinder“ auf sichere Füße zu stellen, war intensiv und ging über zwei Jahre. In dieser Zeit bildete sich zusätzlich der feste und interdisziplinäre Arbeitskreis „Philosophieren mit Kindern“ an der TU Darmstadt, der zusätzlich konzeptionelle Arbeit leistete und sechs Jahre wirkte.
Diese Zusammenschrift ist nun das Produkt einer fünfjährigen Erfahrung an der Justus-Liebig-Schule, einem Gymnasium in Darmstadt.
Das Konzept „Kant für Kinder“ ist nicht linear zu verstehen, sondern soll Möglichkeiten und Alternativen bieten, um sich zusammen mit einer immer neu zusammengesetzten Kinder- und Jugendgruppe auf den kantischen Weg zu machen.
Jedes Kapitel der Arbeit ist gegliedert in
Die „Vorüberlegungen“ stellen den Horizont unserer Überlegungen dar, den wir versuchen zu erreichen und nicht aus den Augen verlieren wollen. Die „Umsetzung“ ist meist eine praktische Möglichkeit mit einem guten Potential für einen großen philosophischen Inhalt, um zu den Vorüberlegungen zu kommen. Wohingegen die „Erfahrungsberichte“ diese „Umsetzungsmöglichkeiten“ in Bezug auf die „Vorüberlegungen“ reflektieren.
Das Buch ist nicht als Einführung in die Methode des Philosophierens mit Kindern zu verstehen, hierzu sind schon einige herausragende Werke u.a. von Barbara Brüning erschienen. Mit "Spuren der Philosophie im Kind" veröffentlichte Paidosophos 2012 eine wissenschaftliche Einführung in die Bildungsidee des Philosophierens.
Schon Kinder stoßen auf grundlegende philosophische Fragen, die nachdenkliche Menschen seit den Vorsokratikern bis heute beschäftigt haben. Fragen sind nicht losgelöst von Zeit und Raum. Unsere heutigen Fragen sind das Produkt der Antworten, die sich aus früheren Fragen ergeben haben. Es ist unmöglich, den Hintergrund aktueller Fragen zu verstehen, wenn sie losgelöst von der Zeit betrachtet werden. Wenn wir die Beweggründe des Handelns verstehen und uns nicht manipulieren lassen wollen, führt uns das zu den Hintergründen der Fragen und Antworten. Gedanken üben Macht aus und können uns beherrschen. Was führt uns zu diesen Gedanken und eventuell zu dem Drang, diese Frage klären zu wollen? Und wie kommen wir zu genau dieser Antwort?
Mit der Beantwortung dieser Fragen in der abstrakten Reflexion verknüpft die einzelne Person sich mit ihrem geistigen Kulturerbe. Diese Verknüpfung mit dem geistigen Erbe ist bildend und gibt eine Sicherheit im eigenen Denken.
Leider finden diese Fragen in unserer Gesellschaft so gut wie keine Wertschätzung und werden nur selten aufgefangen. Nicht nur Kindern fehlt der Anreiz und die Motivationsgründe nach-zu-denken, ihre Gedanken zu formulieren, miteinander auszutauschen und zu diskutieren. Heutige Erwachsene haben das nicht anders erlebt und fühlen sich für das reflektierte Nachdenken nicht ausreichend gerüstet. Kinder dürfen in ihren Gedankengängen jedoch nicht ohne Lösungsansätze und - anreize alleine gelassen werden.
Hierbei können Menschen von früher nicht nur Vorbild sein für die eigenen Gedankengänge, sondern auch Anlass dafür, die eigenen Fragen bewusst anzuerkennen und sich selbst Respekt zu zollen.
Ebenso führt die Wertschätzung und Anerkennung der ausformulierten Frage eines Fremden zu einem tieferen Verständnis und damit zu einer Wertschätzung und Anerkennung der eigenen Frage.
Es ist also für das eigene Selbstbild geboten, sich mit der Geschichte verwurzelt zu sehen und einen Blick auf vergangene Gedanken zu werfen, um die gegenwärtigen Fragen verstehen zu können. Doch wie sehen Jugendliche die eigene Verwurzelung mit der Vergangenheit?
Was haben wir mit den Fragen unserer Vorfahren zu tun?
Das philosophische Thesentennis
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, spielten wir mit einem Kreis von Kindern das philosophische Thesentennis. Dieses Spiel betont den philosophischen Aspekt des logischen und aufeinander aufbauenden Argumentierens.
Der Raum wird hierzu in zwei Hälften geteilt, mittels Kreide oder einem Bindfaden oder es wird ein innerer und ein äußerer Stuhlkreis gestellt. Die Spielführende stellt zwei Thesen auf, die sich widersprechen. Die Thesen werden auf ein Papier geschrieben und in je eines der beiden Felder gelegt. Bei der genannten Frage, „Ist es sinnvoll, sich mit Menschen von früher zu beschäftigen?“; lauten die Thesen:
und
Beim Thesentennis folgt ein argumentativer Aufschlag dem Nächsten.
Die Mitspielerinnen verteilen sich auf die Felder, zu denen sie am meisten Argumente finden. Die Spielregeln sind die allseits bekannten Gesprächsregeln: Wenn eine Teilnehmerin einer Gruppe redet und ihre Meinung begründet, hören alle anderen zu. Hat eine Spielerin aus dem anderen Feld ein Gegenargument parat, das ihr Argument entkräftet, darf sie es ihr „entgegen schleudern“.
Das Spiel geht so lange, wie den Teilnehmenden Argumente einfallen, wobei die Mitspielenden auch die Felder während des Spiels wechseln können. Die Spielleiterin muss darauf achten, dass die Argumente aufeinander aufbauen und die Teilnehmerinnen aufeinander eingehen. Am Anfang kann sie sich auch selbst in eines der Felder begeben, sollte sich aber, wenn das Spiel gut läuft, selbst argumentativ zurückziehen. Es ist ihr freigestellt, wenn es den Spielerinnen an Ideen mangelt und das Spiel stockt, mit kurzen eigenen Ideen den Mitspielerinnen auf die Sprünge zu helfen. Zum Schluss kann in der Gruppe besprochen werden, welches Feld die besseren und glaubwürdigeren Argumente hatte und welcher These deshalb im Folgenden nachgegangen wird.
Eine andere Möglichkeit wäre, dass jede Spielerin ihr bevorzugtes Thesenfeld noch einmal aufsucht und das Argument, das am stärksten diesen Standpunkt untermauert hat, noch einmal kurz in einem Satz zusammenfasst. Es muss dabei gar nicht das eigene Argument sein, für das sie sich entscheidet. Das Spiel kann von 15 Minuten bis zu einer halben Stunde dauern und kann selbstverständlich von der Spielleiterin unterbrochen werden.
Spielerisch lernen die Teilnehmenden, dass es sich empfiehlt, andere Meinungen zu tolerieren und die eigene Ansicht argumentativ schlüssig darzustellen, wenn frau eine vorteilhafte Diskussionskultur schaffen möchte.