Mit einem Dankeschön an B.
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar
©Edition@melie 2016, Berlin
Die Originalausgabe erschien 1984 im Signal Verlag,
Baden Baden
Alle Rechte vorbehalten
Reihe Edition@melie Bd. 6
www.Herbert-Friedmann.de
Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Vorlage von
Diana Baur
Herstellung und Verlag: BoD – Book on Demand GmbH,
Norderstedt
ISBN:9783741245978
Mücke drehte den Cassetten-Recorder etwas leiser, damit er die Klingel nicht überhörte. Dann tanzte er mit geschlossenen Augen durch den Raum, hüpfte von einem Bein auf das andere, ballte die Fäuste, fühlte sich stark und unbesiegbar. Nenas Song von den 99 Luftballons peppte, der Hit des Jahres 1983. Als es dreimal klingelte, flog er zur Tür, in Gerdas Arme. Ein grüner Apfel kullerte über den Flur.
„Nicht so stürmisch“, sagte Gerda.
Mücke strahlte, nahm ihr die Einkaufstasche aus der Hand, half ihr aus dem Mantel und guckte sie erwartungsvoll an. Gerda rauchte und schaute sich in der Wohnung um wie eine Fremde. Mücke versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen.
Gerda blies den Rauch gegen die Decke, gähnte herzhaft.
„Bin ich kaputt“, stöhnte sie.
Mücke senkte den Blick, räumte die Tasche aus und hielt triumphierend einen Blumenkohl in die Höhe.
„Sonderangebot“, sagte Gerda und streifte die Schuhe von den Füßen. Mücke flog wieselflink zwischen Schrank und Tisch hin und her, holte Töpfe, Messer, Pfannen, Holzbrett und Kochlöffel aus dem Schrank.
„Ich schäle schon mal die Kartoffeln“, sagte er.
„Meinetwegen“, antwortete Gerda und zündete sich die zweite Zigarette an.
„Wie war es heute?“, fragte Mücke.
Gerda winkte ab. „Wie immer. Von acht bis zwölf war ich unterwegs.“
„Und wenn du ab und zu ein paar Prospekte in den Papierkorb steckst?“
„Du bist wohl übergeschnappt! Die kontrollieren doch laufend.“ Mücke nickte.
„So“, sagte Gerda, „jetzt will ich mal die Sache in die Hand nehmen. Ich habe nämlich Kohldampf. Und bei deiner Ungeschicklichkeit sind wir morgen früh noch nicht fertig.“
Sie nahm ihm das Messer aus der Hand. Mücke setzte sich ihr gegenüber, verfolgte jede Handbewegung, trank dabei eine Büchse Bier und öffnete den obersten Hosenknopf, wie er es dem Vater abgeguckt hatte. Wie Mann und Frau, dachte er und summte vergnügt vor sich hin.
„Du bist heute so aufgedreht“, sagte Gerda. „Hast du etwa ...“
„Blödsinn!“, zischte Mücke.
Wie konnte sie überhaupt fragen. Aufgrund der großen Zahl von Bewerbungen ... Der Spruch war beiden geläufig. Darüber verlor er schon lange keine Worte mehr. Er zerdrückte die leere Bierdose.
„Soll ich den Blumenkohl mit Paniermehl überbacken?“, fragte Gerda.
„Von mir aus.“
Er war auf einmal traurig und wütend zugleich. Er hatte nun wirklich genug Bewerbungen geschrieben. Zwei-, dreimal war er zu Vorstellungsgesprächen eingeladen worden. Alles war vergebens gewesen. Er wollte nicht daran erinnert werden.
„Die Kartoffeln kochen“, sagte Gerda. „Deck doch schon mal den Tisch.“
Mücke zündete sich eine von Gerdas Zigaretten an.
„Heh, bist du schwerhörig?“
„Hast du etwas gesagt?“
Mücke warf die Kippe in das Spülbecken und stellte zwei Teller auf den Tisch. Dann holte er einen Strauß lila Astern aus seinem Zimmer.
„Hübsch“, sagte Gerda und gab ihm einen Kuss auf die Backe.
„Aus Großvaters Garten?“
Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger.
„Weißt doch, wie sehr Opa Paule an seinen Blumen hängt.
“ Mücke nickte.
„Aber trotzdem lieb von dir.“
Gerda schlief mit dem Gesicht zur Wand. Mücke war traurig. So ging es ihm immer danach. Das kapierte er nicht. Dabei behaupten doch alle, es sei das höchste Glück, mit einem Mädchen zu schlafen. War es ja auch. Aber nach ein paar Minuten war alles wie immer. Er kroch mit den Augen in das Bild, das er aus einer Illustrierten ausgeschnitten hatte und das zwischen Fußball-Postern an der Wand hing. Er sprang in die blauen Fluten, schwamm bis zu einem rotweißen Fischerboot, kletterte hinauf, legte sich auf das Deck. Es war windstill. Die Segel hingen schlaff an den Masten. Freche Möwen störten den Traum. Er griff nach einem Tau, schlug nach den Vögeln, die kreischend davonflogen. Mücke schnaufte. Jetzt liegen bleiben, dachte er. Er guckte auf die Uhr. Bald kamen seine Eltern von der Arbeit, und die Spuren des nachmittäglichen Glücks mussten beseitigt sein. Er stieß Gerda unsanft in die Rippen. Sie rieb sich die Augen, nickte dumpf. Mücke war aufgestanden, zog sich Jeans und Pullover an. Es war halt nicht wie Mann und Frau, und ob es jemals so werden würde ...
„Beeil dich!“, schnauzte er.
Er lief in die Küche, setzte Spülwasser auf, öffnete das Fenster, rauchte eine Selbstgedrehte, goss Wasser in die Spüle, als es heiß genug war. Schweigend verrichteten sie die Arbeit.
„Entschuldigung wegen vorhin“, sagte er auf einmal.
Er strich ihr übers Haar, fragte, ob sie die Blumen mitnehmen wolle.
„In deinem Zimmer machen sie sich auch gut“, sagte sie, holte ihren Mantel von der Garderobe und schnappte die Tasche.
„Bleib doch noch, nur einen Moment ...“
„Deine Eltern ...“
„Wenn schon.“
Sie lachte unsicher, drehte sich um.
„Nur noch 120 Sekunden.“
„Spinner! Ich muss gehen. Morgen komme ich nicht.“
„Wieso?“ Er guckte erschrocken.
„Weißt doch, dass ich einen Termin beim Zahnarzt habe.“
„Dann viel Vergnügen. Aber morgen Abend im Clubheim sehen wir uns?“
Mücke blieb im Türrahmen stehen, bis die Haustür ins Schloss gefallen war. Dann öffnete er alle Fenster, leerte den Aschenbecher in der Toilette aus, brachte sein Bett in Ordnung, warf einen Blick auf das rotweiße Fischerboot, dachte, dass es schön wäre, einmal mit Gerda um die Welt zu reisen. Plötzlich tippte er sich gegen die Stirn und zuckte innerlich zusammen. Er schloss das Fenster, warf die Jacke über die Schultern, schlüpfte in die Schuhe, schnappte den Müllbeutel und sauste die Treppe hinunter. Im dritten Stock hätte er beinahe den alten Prokop umgerannt, der seit dem Tod seiner Frau allein in einer Vierzimmerwohnung hauste.
„Eile mit Weile“, rief ihm Prokop hinterher.
Draußen fuhren gerade seine Eltern auf die Parkbucht vor dem Haus. Mist! Er wartete, bis sie ausgestiegen waren, trat lächelnd auf sie zu. Mama war blass.
„Wir hätten beinahe einen Unfall gehabt“, erzählte sie.
„So ein Rindvieh hat mir die Vorfahrt genommen,“ schimpfte Papa. Solche Geschichten erzählte der Vater fast jeden Tag. Beinaheunfälle, an denen immer andere die Schuld trugen.
„Jetzt wollen wir Abendbrot essen“, sagte die Mutter.
„Ich muss erst Brot besorgen“, sagte Mücke.
„Beeil dich“, brummte Papa.
Bäcker Meyer auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte ausgerechnet mittwochs Ruhetag. Es war die einzige Bäckerei in der Siedlung. Mücke kaufte das Brot in dem neuen Einkaufs-Center, das nur etwa hundert Meter von der Bäckerei entfernt war. Den Rückweg legte er im Laufschritt zurück. Mama hatte Tee gekocht. Papa löffelte Thunfisch aus einer Büchse.
„Wo bleibst du denn?“, sagte er und griff nach dem Brot. „Du weißt doch, dass ich das knatschige Zeug aus dem Supermarkt nicht mag.“
„Der Bäcker hat Ruhetag“, sagte Mücke.
„Der wird auch immer fauler“, sagte der Vater. „Mit dem Land geht es immer mehr bergab.“
„Hättest ja nach Althausen gehen können“, meinte die Mutter.
Mücke verzog das Gesicht. Von Neuhausen nach Althausen waren es drei Kilometer.
„Zeit genug hast du ja“, sagte der Vater.
Mücke setzte sich an den Tisch, riss die Plastikhülle vom Brot, schnitt sich eine Scheibe ab, belegte sie mit Leberwurst und kaute bedächtig. Auch Papa langte zu.
„Einfach ekelhaft“, sagte er nach dem ersten Bissen.
„Jetzt ist es aber genug“, sagte die Mutter.
„Unterstütze auch noch seine Faulheit“, brummte der Vater.
Mücke war der Appetit vergangen. Wenn sie nur immer auf mir herumhacken können, dachte er.
„Ich gehe!“, sagte er schroff.
„Wohin?“, fragte die Mutter.
„Weiß nicht“, sagte Mücke.
„Du bleibst!“, befahl der Vater.
Mücke blickte ihn feindselig an: „Ich gehe!“
„Zu deinem komischen Fußball-Fanclub?“, fragte Papa.
Mücke zuckte die Schultern. Zur Abwechslung also mal wieder diese Leier.
„Dass du auch nie vernünftig wirst“, sagte Papa.
„Aber wenn es doch sein Hobby ist“, entgegnete Mama.
„Ein feines Hobby. Man hört und liest doch, was da so jedes Wochenende getrieben wird. Gerade heute stand wieder etwas in der Zeitung.“
Der Vater holte seine Aktentasche und nahm die Zeitung heraus: „Fußballfans zogen plündernd durch die Innenstadt ... Hobby, dass ich nicht lache! Der erste Schritt in die Kriminalität!“
Mücke biss die Zähne zusammen und schloss die Augen. Mit Papa konnte man nicht reden. Das war klar.
„Was dagegen, wenn ich auf mein Zimmer gehe?“
Der Vater winkte ab.
Charly saß am Kopf des Tisches und blätterte in einem Aktenordner, nahm gelegentlich ein Blatt heraus, betrachtete es nachdenklich und heftete es wieder ab. Roland und Manfred spielten Billard. Manfred fluchte, weil seine Kugeln eine andere Richtung einschlugen, als er gerne gehabt hätte. Neben der Musikbox knieten Moritz und Anita und knutschten. Mücke blieb grinsend vor ihnen stehen.
„Muss Liebe schön sein“, sagte er auf einmal.
„Haha“, meinte Moritz.
„Wenn du es nicht weißt, wer sonst“, sagte Anita. „Wo ist übrigens deine Gerda? Oder habt ihr Stress?“
„Kommt später“, sagte Mücke und hastete weiter.
Er guckte mal Charly über die Schultern, beobachtete kurz die Billardspieler bei ihrem Gefecht mit Stöcken und Kugeln, betrachtete dann die zahlreichen Fußballposter und –wimpel, mit denen die Wände tapeziert waren.
Es war fünf vor acht. Wo Gerda nur blieb? Mücke setzte sich in einen Sessel neben dem Ölofen, schlug die Beine übereinander und drückte den Kopf auf die Lehne.
Blumen-Paule hatten sie es zu verdanken, dass der Fußball-Fanclub Black Shadows ein eigenes Clubheim besaß. Auch Charly hatte seinen Anteil. Denn dessen Idee war es gewesen, den Schuppen neben Paules Schrebergarten umzubauen. Und sie brauchten nicht einmal Miete zu bezahlen, nur die Heizkosten. Viel Schweiß steckte in den vier Wänden. Das undichte Dach, den morschen Fußboden und die rissigen Wände hatten sie ausbessern müssen. Den Billardtisch und die Musikbox hatte Charly von einem befreundeten Gastwirt geschenkt bekommen. Mücke erinnerte sich gerne an die Einweihungsfeier.
„Toll, was ihr aus meinem Schuppen gemacht habt“, hatte Paule mit viel Rührung in der Stimme gesagt. Die Hauptattraktion des Abends waren aber die beiden Eintracht-Spieler gewesen, die überraschend der Einladung gefolgt waren. Ersatzspieler, trotzdem eine nette Geste und ein Zeichen, dass der Fanclub dem Verein etwas bedeutete.
„Heh, pennst du?“
Mücke schaute in Tarzans gerötetes Gesicht.
„Wo hast du denn Gerda gelassen?“
„Wir sind doch nicht verheiratet.“
„Oh, Entschuldigung, wusste ja nicht, dass du heute deinen empfindlichen Tag hast.“
Mücke drohte mit der Faust.
„Na, ihr trüben Tassen“, rief Franz.
„Selber trübe Tasse“, entgegnete Tarzan.
Mücke stierte stur geradeaus. Mittlerweile war es zehn Minuten nach acht.
„Die Versammlung fängt auch jedes Mal später an“, maulte er.
„Ich bin nicht scharf auf das Geschwätz“, meinte Franz.
„Kannst ja wieder gehen“, brummte Mücke.
„Vorsicht, unserer Mücke ist heute eine Laus über die Leber gelaufen“, sagte Tarzan.
Charly packte eine Mini-Kuhglocke aus seiner Aktentasche, wartete noch einen Augenblick, ehe er mehrmals läutete.
„Setzt ihr euch bitte hin. Wir wollen anfangen.“
„Wird auch Zeit“, rief Mücke.
Als endlich alle Platz genommen hatten und Ruhe eingekehrt war, gab Charly die Tagesordnung bekannt.
„Wie ihr wisst, spielt die Eintracht nächste Woche gegen die Bayern. Und jeder von uns will natürlich dabei sein. Die Sache hat nur einen Haken.“
Er nahm einen Packen Blätter aus seinem Ordner, hielt sie hoch, sagte, dass er sämtliche Busunternehmen in der Umgebung angeschrieben habe. Das Ergebnis sei leider enttäuschend, denn gegenüber dem Vorjahr seien dreißig Mark mehr zu berappen. Fast hundert Mark koste die Fahrt einschließlich Eintrittskarte.
Alle schwiegen.
„Scheiße!“, sagte Franz in die Stille.
„Richtig“, fuhr Charly fort. „Aber wir sollten uns deswegen nicht gleich entmutigen lassen. Unser Problem ist halt, dass wir ein relativ kleiner Fanclub sind. Selbst wenn jeder von uns Oma und Opa mitbringt, schaffen wir es nicht, einen Bus voll zu bekommen. Aber nur so könnten wir den Preis drücken.“
„Ja, ja“, rief Tarzan dazwischen. „Sollen wir deiner Meinung nach einen Rundbrief an alle Seniorenheime in der Stadt schicken und sie freundlichst bitten, mit den Black Shadows zu den Auswärtsspielen zu fahren?“
Alle lachten, einige klatschten sogar und riefen „Bravo“.
„Warum eigentlich nicht“, meinte Charly. „Die alten Leutchen wären sicher froh, wenn sie mal was anderes zu sehen bekämen. Und sozial wäre es natürlich auch. Stellt euch mal vor, wenn das bekannt würde. Wir kämen sicher ins Fernsehen. Ich finde...“
„Erzähl keine Operetten“, rief Franz. „Kannst du dir für Weihnachten aufsparen.“
„Da sollte man trotzdem drüber nachdenken“, meinte Charly. „Aber erst einmal habe ich einen anderen Vorschlag. Steinigt mich deshalb nicht gleich. Ich weiß, wir haben schon stundenlang darüber debattiert. Und ich weiß auch, wie ihr dazu steht. Und ich finde es ja auch in Ordnung, dass wir als Fanclub unter uns bleiben wollen. Aber wenn es um Fahrten zu Auswärtsspielen geht, müssen wir ein bisschen flexibler sein. Im Klartext: Wenn wir Fahrgemeinschaften mit anderen Fan-Clubs bilden, kommen wir finanziell besser über die Runden.“
„Wir fahren allein oder gar nicht“, sagte Franz.
„Genau“, meinte auch Manfred.
Moritz und Anita tauschten Zärtlichkeiten aus. Mücke war in Gedanken bei Gerda. Sie hätte wenigstens Bescheid sagen können. Ob da was mit einem anderen lief ...? Quatsch! Oder vielleicht doch? Er saß wie auf einem Ameisenhaufen. Warum mussten die auch so lange diskutieren, wo doch ohnehin alles klar war. Hundert Mark konnte niemand aufbringen. Mit den anderen wollten sie nicht fahren. Ende der Durchsage.
„Seid ihr auch der Ansicht?“, fragte Charly mit einem Seitenblick auf Franz.
„Denke schon“, meldete Peter sich zu Wort.
„Wer meint denn, dass er das Geld aufbringen könnte?“, hakte Charly nach.
„Bist du übergeschnappt?“, rief Franz. „Ich bin arbeitslos.“
„Ich auch“, brummte Peter.
„Greif mal einem nackten Mann in die Tasche“, nuschelte Roland und zog sich nach diesen Worten seinen dicken Rollkragenpullover über den Kopf. Er war wieder einmal zu warm angezogen.
„Und wenn wir zusammenlegen?“, fragte Charly. „Bisher hat es doch immer hingehauen. So egoistisch ...“
„Was heißt denn hier egoistisch“, schimpfte Tarzan. „Von meinem Lehrlingslohn kann ich keinen Hunderter abzwacken, geschweige denn etwas für die anderen zuschießen. Bin doch kein Sozialamt.“
„Also abgehakt“, sagte Mücke.
Charly blickte traurig in die Runde.
„Und was machen wir mit den Red Foxes?“, fragte er. „Die warten in München auf uns. Das Freundschaftsspiel gegen die Red Foxes ist fix abgesprochen und das gemeinsame Mittagessen danach auch.“
„Ja, schade drum“, sagte Tarzan. „Aber ich kann mir das Geld nicht aus den Rippen schneiden.“
Charly bohrte in der Nase. Mücke blies die Backen auf. Vielleicht hatte Gerda einen anderen kennengelernt. Beim Zahnarzt. Oder beim Verteilen der Prospekte. Oder ...
„Ich finde es halt nicht gut, wenn wir die Red Foxes einfach hängen lassen“, sagte Charly. „Irgendeine Lösung wird es doch geben.“
„Die Clubkasse“, sagte Roland.
„Dreimal kurz gelacht“, meinte Karin, die bei der letzten Mitgliederversammlung vor einem halben Jahr zur Kassiererin gewählt worden war. „Die zwei Mark Beitrag, die ihr im Monat löhnt, reichen gerade, um die Heizkosten zu begleichen.“ Charly nickte.
„Wir müssen ein bisschen aktiver werden, damit Geld in die Kasse kommt. Die Idee mit den Seniorenheimen könnte ...“
„Jetzt reicht es mir aber“, brüllte Mücke. „Ich finde euer Gequatsche reichlich bescheuert. Ohne Moos nix los. Kapiert das doch endlich.“
Charly kraulte seinen Spitzbart. Moritz und Anita küssten sich. „Mahlzeit“, rief Franz.
„Möchte mal wissen, wieso wir uns überhaupt Fanclub nennen“, sagte Charly. „Ich denke, wir wollen die Eintracht bei jedem Spiel unterstützen. Oder sehe ich das falsch? Und gerade jetzt braucht die Eintracht unsere Unterstützung. Deshalb finde ich es einfach beknackt, die Gelegenheit auszulassen, uns mit den Rangers den Bus zu teilen.“
„Und hinterher landen wir alle im Krankenhaus. Oder im Knast!“, warf Klaus ein. „Bei denen fliegen doch immer die Fetzen.“
„So schlimm sind die auch wieder nicht“, sagte Tarzan.
„Außerdem können wir einen mäßigenden Einfluss auf sie ausüben“, sagte Charly.
„Mäßig aber regelmäßig“, raunte Franz Tarzan zu.
„Und der Fahrpreis wäre für jeden erschwinglich“, lockte Charly.
„Dann fahren wir halt“, stöhnte Franz.
Tarzan nickte.
„Wenn wir mit denen einmal in einem Bus fahren, brauchen wir sie ja nicht gleich zu heiraten.“
Klaus versuchte dagegen zu reden, wurde aber von Franz und Tarzan niedergebrüllt. Charly läutete die Glocke. Peter forderte eine Abstimmung und fand allgemeine Zustimmung.
„Wer dafür ist, der hebe die Hand“, bat Charly.
Bei einer Gegenstimme und Mückes Enthaltung beschlossen sie, gemeinsam mit den Rangers zu reisen. Inge, die eine Freundin hatte, die die Braut eines Rangers war, wurde beauftragt, das „Organisatorische“ zu klären.
Mücke, der inzwischen wie auf Glassplittern saß, verdrückte sich klammheimlich, als Charly zum gemütlichen Teil des Abends überleitete.
Der Laubenweg war schlecht beleuchtet. Mücke setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. In Paules Gartenhaus brannte Licht. Die übrigen Lauben waren unbewohnt. Die meisten waren auch nur bessere Geräteschuppen und ähnelten wie ein Ei dem anderen. Paules Laube aber war ein stabiles kleines Haus mit einem Fundament aus Beton.
Als Mücke die Sandstraße erreicht hatte, beschleunigte er das Tempo. An der nächsten Ecke bog er rechts in die Stadtstraße ein. Die fünfhundert Meter bis zum Eulenweg legte er im Laufschritt zurück. Hinter gepflegten Vorgärten präsentierten ein- oder zweigeschossige Häuser schmuckvolle Fassaden. Er war ziemlich außer Atem, als er das Gartentor erreichte, bis zu dem er Gerda schon so oft begleitet hatte. Ihr Fenster war hell erleuchtet. Unschlüssig wanderte Mücke vor dem hüfthohen Gartenzaun auf und ab. Hinter diesem Zaun war er noch nie gewesen. Ihre Eltern konnten ihn nicht leiden. Die Gründe konnte er sich denken. Gerda hatte ihm da gar nicht viele Andeutungen machen müssen. Er ging eben keiner geregelten Arbeit nach, lief sonntags wie werktags in der Jeansjacke mit den vielen Fußbaiistickern durch die Gegend, lungerte bei den Black Shadows herum, diesen „Schlägertypen“. Und sicher glaubten sie auch, dass er auf Gerda einen schlechten Einfluss ausübte. Denn bevor sie ihn kennengelernt hatte, machte sie sich nichts aus Fußball. Jetzt ging sie zu jedem Spiel mit und half samstags nicht mehr ihrer Mutter.
In der Nachbarschaft schlug ein Hund an. Mücke versteckte sich hinter einem Laternenpfahl, rauchte und starrte zu Gerdas Fenster. Daheim war sie, aber das bedeutete nichts. Vielleicht hatte sie Besuch von einem Jungen, der ihren Eltern sympathischer war. So ein geschniegelter Popper vielleicht. Mücke schnickte die Kippe auf die Straße, zündete sich die nächste Zigarette an. Und wenn er die ganze Nacht vor dem Haus stehen musste, er wollte Gewissheit haben. Warum war nur alles so verzwickt? Wenn er nur gewusst hätte, wer der andere war. Er hob einen Stein auf, ließ ihn fallen und trottete zur Telefonzelle an der Ecke. Er wusste nicht genau, ob die Telefonnummer VierZwoEins-DreiSechsZwo oder VierZwoEinsZwoSechsVier war, schaute im Telefonbuch nach. Seine Hände zitterten.
„Kann ich mal die Gerda sprechen“, sagte er.
„Wer sind Sie denn?“, wollte Gerdas Mutter wissen.
Für einen Augenblick verließ ihn der Mut
„Kann ich mal die Gerda sprechen?“, wiederholte er fordernd.
Die Frau zögerte.
„Die Gerda!“
Die Frau legte auf.
„Blöde Kuh!“
Er stellte sich wieder vor das Haus, rauchte eine nach der anderen. Wer bin ich denn, fragte er sich nach der dritten Zigarette, sprang über den Gartenzaun, stürmte zur Haustür, läutete, bis es drinnen hell wurde. Ihr Vater riss die Tür auf. In der Hand hielt er einen Knüppel. Mücke duckte sich.
„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“
„Die Gerda ...“
„Wenn Sie nicht augenblicklich verschwinden, rufe ich die Polizei!“ Der Mann knallte die Tür hinter sich zu.
Mücke drehte sich langsam um, lief zum Gartentor, trat mit voller Wucht gegen den Pfosten, schrie auf, tastete nach seinem großen Zeh und humpelte nach Hause, als der Schmerz nachließ.
Als er gegen neun erwachte, konnte er sich nur noch bruchstückhaft erinnern. Er schämte sich und hoffte, dass sie ihm verzeihen würde.
In der Küche fand er einen Einkaufszettel vor, der mit der Bemerkung endete: Falls du Zeit hast. Wie witzig!
Er hasste es, wie ein Schuljunge für Mami einzuholen. Die Kassiererin im Supermarkt lächelte vertraulich, wenn er auftauchte. Mücke zerknüllte den Zettel und steckte den beigelegten Zwanzigmarkschein in die Tasche. Der Tag war gelaufen, ehe er richtig begonnen hatte. Und wenn auch noch Gerda ...
Er frühstückte, räumte die Wohnung auf, besorgte rasch den Einkauf, hörte Musik, blätterte in der Zeitung, las nur die Überschriften. Politik langweilte ihn, war Geschwätz und Kasperletheater, wie sein Vater behauptete. Von Worten war noch nie ein Mensch satt geworden. Für Mücke gab es nur die Bonzen dort oben, und es war egal, welcher Partei sie angehörten. Alle waren sie darauf aus, ihre Schäflein ins Trockene zu bringen. Er gehörte zu denen unten und musste selbst sehen, wie er das Beste aus seinen Möglichkeiten machte. Wenn man nur wollte, wirklich wollte, konnte man etwas erreichen. Papa hatte es ja auch zu etwas gebracht. Oder war es etwa nichts, wenn es einer vom Schlosserlehrling zum Meister brachte?
Mücke legte die Zeitung aus der Hand, räkelte sich im Sessel, wartete auf den Anruf von Gerda. Er konnte gut verstehen, dass sein Vater sauer auf ihn war. Bisher hatte er seinen Eltern nur Enttäuschungen bereitet. Nach drei Jahren war er vom Gymnasium geflogen, weil er zweimal hintereinander sitzengeblieben war. Bis heute war ihm nicht klar, warum er Mitte der zweiten Klasse aufgehört hatte zu lernen.
In der Hauptschule hatte er sich nicht besonders anstrengen müssen. Und bis zum letzten Schultag hatte er gehofft, der Vater könnte ihm eine Lehrstelle besorgen. Aber die Firma, in der Papa arbeitete, hatte ihr Ausbildungsangebot verringert, stellte nur noch die Besten ein.
Mücke nahm wieder die Zeitung auf, las von einem arbeitslosen Fußballer. Der schaffte es auch so. Fußballer verdienten ohnehin zu viel. In diesem Punkt war er sich mit seinem Vater einig. Er blätterte weiter, blieb an einem eingerahmten Artikel hängen – ZUM THEMA BEWERBUNG:
Die Bewerbung muss auf den ersten Blick einen sauberen, ordentlichen Eindruck machen. Der eigentliche Bewerbungsbrief sollte einem normalen Geschäftsbrief gleichen: Oben links steht der Name, rechts auf gleicher Höhe Ort und Datum, unmittelbar darunter die genaue Anschrift. Mit etwas Abstand kommt dann wieder links die Anschrift des Empfängers hin. Darunter – wieder mit einem kleinen Abstand: Betr.: Bewerbung.
Für den Inhalt des Bewerbungsschreibens gilt: Kurz und klar, nichts Wichtiges vergessen, andererseits kein überflüssiges Geschwafel ...
Apropos Einstellungsgespräch, auch Vorstellung genannt: Dass man auch dem äußeren Erscheinungsbild einige Aufmerksamkeit widmet, ist klar, doch sollte man es vermeiden, irgendwie aufsehenerregend zu wirken. Im Gespräch selbst hüte man sich ebenso vor Extremen; es macht keinen guten Eindruck, wenn man sich jedes Wort zwischen den Zähnen hervorzerren lässt, aber auch Geschwätzigkeit ist von Übel ...
Mücke las die Anleitung zweimal, bevor er die Seite herausriss. Es war zehn Minuten nach ein Uhr. Gerdas Antwort auf sein Verhalten war eindeutig. Er versuchte gleichgültig zu sein, konnte nicht ruhig sitzen bleiben. Er brauchte Gerda. Ob er anrufen sollte? Hat ja doch keinen Sinn, dachte er. Wenn man überhaupt mit jemandem aus ihrer Familie reden konnte, war es Blumen Paule.
Anfang September, und es war kalt und novembergrau. Ein Wetter wie bestellt für Mückes Stimmung, die langsam von durchsichtiger Gleichgültigkeit in ein undurchlässiges Weltuntergangsschwarz wechselte.
Er überquerte die Straße, setzte sich auf eine der weißen Bänke vor dem Einkaufs-Center und beobachtete die Tauben, die auf dem Verbundsteinpflaster nach Abfällen suchten. Als ihm die Füße kalt wurden, ging er in die Spielhalle im Keller unter der Ladenstraße. Die Geldautomaten waren fast alle besetzt. Die Spieler saßen auf Barhockern. Mücke hatte von einem Mann gelesen, der auf diese Weise angeblich zwanzigtausend Mark im Monat verdiente. Er beschäftigte sogar einen Angestellten, einen „Geier“, der jeden Tag einen Hunderter und freies Essen bekam. Der Geier musste durch die Kneipen ziehen und die Geräte ausfindig machen, die der Spieler besonders gut beherrschte. Der Job als Geier hätte Mücke auch gefallen.
An den Flippern spielten nur ausländische Jugendliche. Mücke rümpfte die Nase, schaute einem über die Schulter, warf selbst eine Mark in den Schlitz, als das Gerät frei war, und holte mit der Endzahl ein Freispiel.
„Wenn du die Dreißig stehen lässt, bekommst du immer ein Freispiel“, klärte ihn ein junger Türke auf.
„Weiß ich“, knurrte Mücke. „Spiele ja nicht zum ersten Mal an dem Kasten.“
Er kümmerte sich nicht um sein Freispiel. Hinterher wurmte es ihn, dass nun der Türke umsonst spielen konnte.