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Sobald Graham durch die Tür war, rannte sie los und schob den Riegel vor. Wut brannte nun in ihr und raubte ihr den Verstand. Sie marschierte im Zimmer auf und ab und ballte die Fäuste, sodass sich ihre Fingernägel in ihr Fleisch bohrten. Was konnte sie tun? Es musste doch einen Weg geben, gegen diese Enteignung vorzugehen. Aber wie sollte sie es angehen? Und wer sollte ihr helfen?
Die einzige Person, der sie vertraute, war ihr Bruder. Doch Geoffrey war mit der Armee des Königs in der Normandie. Sie schlug die Hände vors Gesicht und wollte jetzt nicht daran denken, wie große Sorgen sie sich um ihn machte. Ihr süßer, verträumter Bruder war kein Soldat. Ihn in den Kampf zu schicken war eine weitere Tat, die sie ihrem Vater niemals verzeihen würde.
Ihr Vater. In dieser Angelegenheit wäre er ihr Verbündeter. Ihm würde es etwas ausmachen, wenn sie ihren Besitz verlöre.
Schließlich ließ sie nach ihm schicken, denn sie hatte sonst niemanden, den sie um Rat fragen konnte.
Eine Stunde später klopfte ihre Zofe an die Tür zu den Privatgemächern. »Mylady, Sir Edward erwartet Euch.«
Ihr Vater musste sich sofort auf den Weg gemacht haben, sobald ihn ihre Nachricht erreicht hatte.
Isobel eilte die Treppe zum Saal hinunter. Am Eingang blieb sie stehen. Das Gefühl des Verlustes beim Anblick seiner vertrauten bulligen Statur traf sie völlig unvorbereitet. Ihr Vater stand halb von ihr abgewandt und betrachtete den großen Saal mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht. Nach all den Jahren sollte es nicht so wehtun, ihn zu sehen.
Mit wachsender Enge in der Brust erinnerte sie sich daran, dass sie einst geglaubt hatte, er ließe die Sonne am Himmel scheinen. Sie war sein Lieblingskind, die bewunderte Tochter, die er überallhin mitnahm. Wenn es anders gewesen wäre, hätte sie sich nicht so betrogen gefühlt.
Was für eine dumme Gans sie doch gewesen war. Sie hatte geglaubt, ihr Vater würde es hinauszögern, sie zu verloben, weil er keinen Mann fand, der ihrer würdig war. Galahads wuchsen nicht auf den Bäumen.
Doch dann hatte er sie wie ein Stück Vieh verkauft. An einen Mann wie Hume.
Sie erinnerte sich daran, wie ihre Knie in jener ersten Nacht zitterten, wie ihr Atem in gekeuchtem Schluckauf ging, als sie aus Humes hohem Bett geklettert war, um sich zu waschen. Hinter dem Wandschirm hatte sie eine Kerze angezündet und Wasser in eine Schüssel gegeben. Als sie die Blutspuren von der Innenseite ihrer Oberschenkel wusch, ging es ihr auf: Ihr Vater hatte gewusst, was Hume mit ihr tun würde. Er hatte es gewusst und hatte sie trotzdem diesem Mann gegeben.
»Isobel, es tut so gut, dich zu sehen!« Die dröhnende Stimme ihres Vaters brachte sie mit einem Ruck in die Gegenwart zurück.
Als er auf sie zutrat, als wollte er sie umarmen, hob sie die Hand, um ihn daran zu hindern.
»Es ist eine Schande«, sagte er, »dass erst dein Mann sterben musste, bevor du mich in deinem Heim willkommen heißt.«
Isobel verübelte ihm sowohl den Schmerz als auch die Kritik in seiner Stimme. »Kommt, wir müssen unter vier Augen sprechen.«
Ohne weitere Begrüßung drehte sie sich um und ging ihm voran die Treppe zu den Privatgemächern hinauf. Auch dort schaute er sich mit besitzergreifendem Gehabe um, bewunderte die schweren Wandbehänge und kostbaren Glasfenster.
»Wer hätte gedacht, dass der alte Mann so lange lebt?«, sagte er. »Aber jetzt gehören diese feine Burg und all seine Ländereien dir! Ich habe dir ja gesagt, dass für eine Frau die Ehe der Weg zur Macht ist.«
Bevor Isobel ihm ausweichen konnte, packte er ihre Arme. »Mit Humes Vermächtnis«, sagte er und seine Augen leuchteten, »kannst du in der zweiten Ehe hoch hinaus.«
Isobel vermochte ihn bloß voller Entsetzen anzuschauen. Glaubte ihr Vater wirklich, sie ließe ihn eine zweite Ehe für sie arrangieren?
»Ich weiß, dass es nicht leicht war.« Sein Tonfall wurde sanfter. »Aber jetzt wirst du die Ernte für dein Opfer einfahren.«
»Mein ›Opfer‹, wie Ihr es nennt, war vollkommen umsonst – zumindest für mich!« Isobel erstickte schier an ihren Gefühlen, sodass sie die Worte kaum herausbrachte. »Am Tag, als die Ehe vollzogen wurde, hat Hume Euch gegeben, was Ihr wolltet, aber mir hat er nichts hinterlassen.«
»Was hat er?«
Als sie ihrem Vater ins Gesicht sah, kehrte ihr Zorn mit aller Macht zurück. »Mein Gatte hat alle Ländereien, die ich erben sollte, anderen geschenkt.« Sie wollte mit ihren Fäusten gegen die Brust ihres Vaters trommeln wie das eigensinnige Kind, das sie einst gewesen war. »Ihr habt versprochen, ich hätte meine Unabhängigkeit, wenn er tot wäre. Das habt Ihr mir versprochen!«
Seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihre Arme. »Du irrst dich, Tochter. Hume hatte keine Kinder; seine Ländereien müssen dir zukommen.«
»Er hat alles Bartholomew Graham gegeben!«, schrie sie ihn an. »Mein Heim. Meine Ländereien. Bis auf die letzte Parzelle.«
»Der Teufel soll ihn holen!«, explodierte ihr Vater. »Welchen Grund könnte Hume dafür haben?«
Isobel schlug die Hände vors Gesicht. »Graham hat den alten Tölpel glauben lassen, er wäre sein Sohn.«
»Der Betrug wird keinen Bestand haben!« Mit hervortretenden Augen und wild gestikulierend stürmte ihr Vater im Zimmer auf und ab. »Wir bringen diese Sache vor Bischof Beaufort. Dann werden wir ja sehen! Sicherlich kann der Onkel des Königs diesen Betrug aufklären. Ich schwöre dir, Isobel, wir werden dafür sorgen, dass der junge Graham dafür in den Kerker geworfen wird.«
Bevor noch die letzte Schaufel Erde Humes Leiche bedeckte, brachen Isobel und ihr Vater nach Alnwick Castle auf. Bischof Beaufort hielt sich dort im Dienste des Königs auf.
Isobel zügelte ihr Pferd an der Brücke und ließ den Blick über die ausgedehnte steinerne Festung schweifen. Als Kind war sie oft hierhergekommen. Aber das war zu einer Zeit gewesen, als Alnwick noch das Heim des Earl of Northumberland gewesen war – bevor Northumberland versucht hatte, Heinrich IV. zu entthronen.
Northumberland hatte sich nach Schottland abgesetzt. Die wichtigeren seiner Mitverschwörer waren geköpft, die weniger wichtigen enteignet worden. Törichte Männer allesamt, sich mit den Lancasters anzulegen.
Ihr Vater, unbedacht wie immer, spornte sein Pferd an, den Fluss zu durchqueren, der als erste Verteidigungslinie von Alnwick Castle diente. Isobel folgte ihm ein wenig langsamer. Bischof Beaufort war der gerissenste aller Lancasters.
»Ich habe gehört, Beaufort sei der reichste Mann in ganz England«, sagte ihr Vater, als sie sich dem Torhaus näherten. »Bei Gott, er hat der Krone eine riesige Summe für den Feldzug des Königs in die Normandie geliehen.«
»Pst!«, flüsterte sie. »Vergesst nicht, dass er der Halbbruder unseres letzten Königs war.« Des Königs, gegen den du Verrat begangen hast.
»Ich wurde vom jungen König Heinrich V. begnadigt«, sagte er, aber er war nicht so selbstsicher, wie er tat. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, als sie durch das Torhaus ritten, diese schmale Passage, die dazu gedacht war, den Feind innerhalb des Haupttores einzuschlie-
ßen.
Sie wurden in den Burgfried geführt und in einem kleinen Vorzimmer eingeschlossen, wo sie warten sollten, bis der Bischof bereit war, ihnen seine Zeit zu widmen. Fast unmittelbar danach erschien ein tadellos gekleideter Diener, um ihren Vater für eine Audienz in den großen Saal zu bringen. Isobel blieb zurück, während die beiden Männer über ihr Schicksal berieten.
Sie war überrascht, als der Diener kurze Zeit später ohne ihren Vater zurückkehrte.
»Seine Exzellenz, der Bischof, wünscht Euch jetzt zu sehen, Mylady.« Sie musste zu langsam aufgestanden sein, denn der Diener zog eine Augenbraue hoch und sagte: »Seine Exzellenz ist ein viel beschäftigter Mann.«
Sie schritt durch die massive Holztür, die er ihr aufhielt, und betrat einen riesigen Saal mit einer hohen Decke, die wie in einer Kirche den Blick immer weiter nach oben lenkte.
Der Mann hinter dem schweren Holztisch am Herdfeuer war nicht zu verkennen. Sie hätte Bischof Beaufort an der Macht erkannt, die er ausstrahlte, selbst wenn er nicht den Ornat getragen hätte – ein Messgewand aus goldener Seide über einer schneeweißen leinenen Albe mit Verzierungen aus goldener Seide an den Ärmelbündchen.
Der Bischof schaute nicht von seinen Papieren auf, als sie den Saal durchquerte. Als sie ihren Platz vor dem Tisch neben ihrem Vater einnahm, sah sie, dass das Pergament in den Händen des Bischofs eine Kopie von Humes Vermögensübertragung war.
Ihr Vater stieß ihr den Ellenbogen in die Seite und zwinkerte ihr zu. Seine Unterredung mit dem Bischof musste erfolgreich gewesen sein. Gelobt sei der Herr!
»Ich glaube nicht«, sagte der Bischof, die Augen immer noch auf das Dokument gerichtet, »dass Humes Vermögensübertragung angefochten werden kann.«
Bestürzt von der raschen Zurückweisung ihres Anliegens durch den Bischof warf sie ihrem Vater einen Blick zu. Sein Nicken beruhigte sie nicht.
»Euer Vater schlägt eine vernünftige Lösung vor«, sagte der Bischof und lenkte damit ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Unter diesen Umständen ist der einzig ehrbare Weg, der Graham offen steht, Euch zu heiraten. Ich werde dafür sorgen, dass er Euch einen Antrag macht.«
Der Bischof nahm ein anderes Dokument zur Hand und wies damit sie und ihr Problem ab.
»Aber ich habe seinen Antrag bereits abgelehnt.« Ihre Stimme schien in dem riesigen Saal widerzuhallen. »Ich möchte nicht undankbar für Eure gütige Hilfe erscheinen, Eure Exzellenz«, fügte sie eilig hinzu. »Aber ich würde keinen Mann heiraten, der mir mein Eigentum gestohlen hat. Er ist vollkommen ehrlos.«
Der Bischof legte seine Papiere beiseite und schaute sie zum ersten Mal richtig an. So mächtig, wie er auch war, konnte er sie nicht umstimmen; sie begegnete seinem Blick, damit er das wusste. Statt Verärgerung las sie ausgeprägtes Interesse in den scharfen Augen, mit denen er sie taxierte.
»Lasst mich allein mit Eurer Tochter sprechen«, sagte er, ohne den Blick von ihr zu wenden. Obwohl er höflich gesprochen hatte, war es doch alles andere als eine Bitte.
Nachdem sich die Tür hinter ihrem Vater geschlossen hatte, gab der Bischof ihr ein Zeichen, sich zu setzen. Sie ließ sich nieder, faltete die Hände im Schoß und zwang sich dazu, ruhig zu bleiben, während der Bischof sie musterte.
»Lasst mich Euch noch einmal Eure Möglichkeiten vor Augen führen, Lady Hume.« Der Bischof legte die Fingerspitzen zusammen und stützte damit sein Kinn. »Erstens, Ihr könnt Grahams Antrag annehmen. Mit ihm behaltet Ihr Euer Heim und Eure Stellung.«
Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, schloss ihn jedoch gleich wieder.
»Zweitens, Ihr könnt unter die Obhut Eures Vaters zurückkehren. Bei der großzügigen Mitgift, die Euer Vater für Euch bereitstellen wird«, der bedeutungsvolle Blick, den er ihr zuwarf, ließ keinen Zweifel daran, dass er die erniedrigenden Bedingungen ihrer ersten Heirat kannte, »bin ich mir sicher, dass der nächste Ehemann, den er für Euch findet, genauso passend für Euch sein wird wie der letzte.«
Er hielt inne, als wollte er ihr Zeit zum Nachdenken geben. Zeit jedoch konnte weder die eine noch die andere Option verbessern.
Bitte, Gott, gibt es für mich denn keinen Ausweg? Gar keinen?
»Ich kann Euch eine dritte Möglichkeit eröffnen«, sagte der Bischof langsam und bedächtig. Er streckte die Hand aus und legte seine langen, schlanken Finger auf ein zusammengerolltes Pergament auf der Seite seines Tisches. »Ich habe gerade eine Nachricht von meinem Neffen erhalten. Er hat Caen eingenommen.«
»Gott möge ihn schützen«, murmelte sie. Verzweifelt versuchte sie zu ergründen, aus welchem Grund er ihr von König Heinrichs Erfolgen bei der Rückeroberung englischen Landes in der Normandie erzählte. Der Bischof kam ihr nicht wie ein Mann vor, der grundlos plauderte.
»Der König ist bemüht, die Verbindungen zwischen England und der Normandie zu stärken. Im kommenden Frühling wird das Parlament Anreize für englische Händler schaffen, sich dort niederzulassen.«
Händler? Was konnte das mit ihr zu tun haben?
»Verbindungen zwischen den Edelleuten sind noch wichtiger.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Pergament. »Der König bittet mich um Unterstützung bei den Vorbereitungen solcher … Arrangements.«
Ihre Gedanken erschienen ihr langsam und träge, während sie darum kämpfte, den Sinn seiner Worte zu verstehen.
»Ich biete Euch die Möglichkeit, eine Ehe einzugehen, die von Vorteil für Euch sein wird. Und für England.«
Ihr stockte der Atem. »In der Normandie?«
»Ihr müsst jemanden heiraten«, sagte der Bischof und legte die Hand offen auf den Tisch. Er beugte sich ein Stückchen vor und kniff die Augen zusammen. »Ich denke, Ihr könntet eine Frau sein, die den ihr unbekannten Teufel dem ihr bekannten Teufel vorzieht.«
Zu wissen, dass sie von einem Könner manipuliert wurde, half ihr kein bisschen.
Der Bischof trommelte wieder leicht mit den Fingerspitzen.
»Wäre es mir gestattet, den französischen ›Teufel‹ zuerst kennenzulernen, bevor ich mich verpflichte, ihn zu heiraten?«
Ein anerkennendes Lächeln umspielte für einen Moment die Mundwinkel des Bischofs, doch er schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ihr abreist, bevor eine Verlobung arrangiert werden kann, seid ihr durch Euren Eid dem König gegenüber verpflichtet.« Er zog eine dünne Augenbraue in die Höhe. »Habt Ihr bestimmte … Anforderungen … die ich dem König übermitteln soll?«
Ein Ritter, tapfer und treu, gut und gütig. Die Beschreibung eines Ritters der Tafelrunde kamen ihr unerklärlicherweise in den Sinn. Errötend schüttelte sie den Kopf.
»Nach den … Fehleinschätzungen … Eures Vaters in der Vergangenheit«, sagte der Bischof, und seine Nasenflügel bebten dabei leicht, »würde eine solche Ehe viel dazu beitragen, Eurer Familie beim König wieder Ansehen zu verschaffen.«
»Darf ich es mir überlegen, Euer Exzellenz?«
»Natürlich.« Mit funkelnden Augen sagte er: »Bald wird eine Überfahrt bis zum Frühling unmöglich sein, aber ich bin mir sicher, Ihr werdet die langen Wintermonate hier mit Eurem Vater verbringen wollen.«
Oh, er war ein schlauer Mann.
Der Bischof erhob sich. »Ich breche in drei Tagen nach Westminster auf. Bis dahin könnt Ihr mir eine Nachricht zukommen lassen.«
Ohne ein weiteres Wort rauschte er aus dem Saal.