Nelli Kossko

In den Fängen der Zeit

Wege und Irrwege einer Deutschen aus Russland

Nelli Kossko

In den Fängen der Zeit

Wege und Irrwege einer Deutschen aus Russland

Trilogie

1. Teil: Die geraubte Kindheit, 2003

2. Teil: Am anderen Ende der Welt, 2004

3. Teil: Wo ist das Land …, 2007

Titelzeichnung: © Andrej Stoppel

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eISBN 978-3-96136-044-4

Print-ISBN 978-3-96136-043-7

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Inhalt

Teil I: Die geraubte Kindheit

Die Vergangenheit lässt uns nicht los …

Kein Zug fährt in diese Gegend

Heute gibt es kein Frühstück

Verbannt für alle Zeiten

Die Russen haben auch einen Führer!

Hier werdet ihr auch verrecken

Alle Deutschen müssen in die Baracken

Sie sind schon komisch, diese Russen

Werde erst mal ein bisschen älter

Die „Weihnachtsverschwörung“ der Verdammten

Die Fremden in unserem Dorf

Die grausame Welt der Erwachsenen

Die „Fritzen“ kommen!

Mein Freund Karl Marx

Nichts als Hunger

Auf Kriegsfuß mit den Geboten

Der Wolf

Das Hochwasser

Der Hund

Mit letzter Kraft

Meine neue Freundin

Die „Liebste“

Die Reichtümer der Wildnis

Die Bürde

Soika

An die Arbeit

Neues Unheil

Mama ist wieder da

Ich führe ein Doppelleben

Du darfst nicht sterben, Mama

Wir lernen Deutsch

Die Zauberwelt des Buches

Wie alle anderen sein …

Die Ächtung

Weiter in den Norden

Teil II: Am anderen Ende der Welt

Züge lassen sich nicht aufhalten

Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne

„Zebrikowo“ hieß auf Deutsch „Hoffnungstal“

In den unendlichen Weiten Russlands …

Die unberührte Schönheit Sibiriens

Und ewig lebe Genosse Stalin …

Wunder gibt es doch!

Der Major

Auf hoher See

Am Kältepol

Auf zu neuen Ufern?

Wenn die Spucke im Fliegen gefriert …

Ein Tod, der hoffen lässt

Der Wind der Veränderungen

Der Neue

Politisch von der Wiege bis zur Bahre

Mama heiratet

Der Skandal

Wenn man den Deutschen ihren Willen lässt …

Die Antwort aus Moskau

Ein echter Laubbaum und noch mehr …

Zurück in die Vergangenheit

Manche sind doch gleicher …

Die Hauptstadt

Träume sind Schäume

Darf ich bitten, Prinzessin?

Teil III: Wo ist das Land …

Verweile doch …

Lustig ist das Studentenleben

Das Tauwetter

Der Sieg der „Lyriker“ über die „Physiker“

Arbeitseinsatz auf den Kartoffelfeldern

In der Nähe der ehemaligen Heimat

Emmis erstes Kind

Das Mutterglück

Habt doch Mitleid mit Sisyphus!

Das Klavier

Der Prager Frühling

Neue Horizonte

Die neue Völkerwanderung

Genau wie bei Orwell

Die Hatz

Vogelfrei

Der Glaube an die Gerechtigkeit

Persona non grata

Der Wettlauf mit der Zeit

Nachwort

ANHANG

1000 Jahre deutsche Spuren in Russland

Erläuterungen

Über den Autor

DIE „ODYSSEE“

Wege und Irrwege der Autorin

in einer aus den Fugen geratenen Welt

Der lange Weg der Protagonistin Emma Wagner fängt 1944 in Marienheim/Ukraine an und verläuft weiter über Bessarabien-Rumänien-Ungarn-Polen bis nach Dresden, dann macht sie einen Knick, schlängelt sich über Polen nach Russland zurück und zieht sich von Kostroma über den Ural, West- und Ostsibirien bis hin zum Ochotkischen Meer, strebt dann gen Norden über Magadan Richtung Kolyma, das ist die rote Linie. Die grüne setzt sich erst 1956 durch, ist ruhiger, etwas kürzer und bringt die Autorin langsam, fast schrittweise zurück in den Westen, zunächst in den Ural, dann nach Moldawien, in die Nähe der Heimat ihrer Eltern, und schließlich nach Deutschland, dem Endpunkt ihrer Irrungen. Hier hat sie Wurzeln geschlagen, und ihre Wege führen sie nur noch in die vielen Urlaubsländer, aus denen sie immer wieder gerne heimkehrt.

Dieses Buch ist eine ergänzte und bearbeitete Sammelausgabe der Trilogie von „Die geraubte Kindheit“, „Am anderen Ende der Welt“ und „Wo ist das Land …“

„Ihr habt euch zu ducken und zu schweigen!“

(Kurt Tucholski)

Teil I

Die geraubte

Kindheit

Die Vergangenheit lässt uns nicht los …

„Beim Eintritt lass alle Hoffnungen fahren.“
(Dante Alighieri)

Hart schlagen die Räder der Aeroflot-Maschine auf dem Rollfeld auf. Ein Ruck, das Flugzeug drosselt allmählich seine Geschwindigkeit und steuert, in allen Fugen krachend und ächzend, auf das Flughafengebäude zu.

Frankfurt am Main. Endstation.

Im Flugzeug herrscht heitere Aufbruchstimmung: Man freut sich, nach Hause zurückgekehrt zu sein. Nach Hause … Mein Gott, wie ich sie alle beneide, die Menschen, die ein richtiges Zuhause haben, diese „echten“ Deutschen, unsere Mitreisenden, die so frei und unbeschwert lachen können und keine Angst haben, keine zu haben brauchen! Keine Angst, die einem die Kehle zuschnürt und einen nicht loslässt, Tage, Wochen, Monate, Jahre.

Mit weit aufgerissenen Augen starre ich wie gebannt zur Tür. Was, wenn sie es sich anders überlegt haben? Wenn sie die Ausreisegenehmigung rückgängig machen, um die wir lange Jahre verzweifelt gekämpft haben, und Schikanen sowie Erniedrigungen über uns haben ergehen lassen? Der Flieger gehört ja immer noch ihnen. Ich kenne die Sowjets zu gut, um noch Vertrauen zu ihnen zu haben.

Verstohlen schaue ich zu meinem Mann hinüber, der zwei Reihen hinter mir mit unseren Töchtern sitzt, und schrecke zusammen: Er, sonst betont ruhig und beherrscht, scheint auch ziemlich nervös und angespannt zu sein. Dann geht endlich die Tür auf. Keiner, der so aussieht, als wolle er jemanden zurückhalten. Ich schnelle von meinem Sitz hoch, packe die kleine Irene an der Hand und zerre sie so heftig zum Ausgang, dass das Kind erschrocken aufschreit. Nun aber schnell weg von hier, hämmert es in meinen Schläfen, weg, möglichst weit, weit weg.

„Ihr Schirm, Madame, Ihr Schirm, Sie haben ihren Regenschirm liegenlassen!“, höre ich die Stewardess mir nachrufen. Doch so eine Lappalie kann mich nicht mehr aufhalten auf meinem Weg in die Freiheit, jetzt nicht mehr. In mein neues Leben möchte ich möglichst wenig von dem mitnehmen, was mich an das Land erinnern könnte, in dem wir oft ärger als stiefmütterlich behandelt wurden.

Ich verlasse fluchtartig das Flugzeug. Mein Mann und die Kinder haben Mühe, mir zu folgen. Da! Die Pass- und Zollkontrolle! Schnell durch … In der Halle muss ich mich erst mal setzen und tief durchatmen. Nun ist es vorbei, alles ist endlich vorbei! Demütigungen, Schmähungen, Drohungen und die Angst sind im anderen Leben geblieben, das ich von nun an vergessen werde, für immer zu vergessen versuchen werde …

Stückchen für Stückchen zuerst, dann aber mit voller Wucht stürzt die neue Welt auf uns ein – laut, schrill, grell und gleichgültig, ja, brutal. Es ist wie ein Schock. Soll etwa dieses so geschäftige, hektische, so laute und turbulente Durcheinander mit ihrem Glanz, den grellen Lichtern und Farben, diese Welt mit ihrer Anonymität das Land sein, das uns das Gefühl der Heimatlosigkeit nehmen soll? Ist dies das Deutschland, dessen Bild mir meine Mutter als eine Art Vermächtnis auf den Lebensweg mitgegeben hat?

Ein banges Gefühl beschleicht mich, und plötzlich kommt mir meine kleine Familie seltsam verloren in dieser so anderen Welt vor. Verloren und einsam.

„Ist eine Mark für eine Cola viel oder wenig?“, platzt Irene ganz unvermittelt in meine Gedanken. Ich schaue unseren Papa fragend an, aber auch er weiß auf diese eigentlich so banale Frage keine Antwort. Tja, was ist eigentlich eine Mark so wert?

Wir durften fast nichts bei der Ausreise mitnehmen außer einer Kiste Bücher und 90 Rubel pro Person, für die man uns in einer Bank in Moskau 300 Mark ausgezahlt hatte. Das ist nun unsere Barschaft, und so gesehen ist eine Mark in der Tat verdammt viel Geld. Ich will gerade den beiden Mädchen unsere finanzielle Situation erklären, doch da sehe ich, wie sie gebannt zum Kiosk hinüberstarren. Dort sind die herrlichsten Sachen zu bekommen, vor allem aber die begehrte Cola und die Kaugummis! Und so tätigen wir unseren erster Kauf auf deutschem Boden: zwei Dosen Cola und zwei Päckchen Kaugummi!

Im Bus, der uns ins Grenzdurchgangslager Friedland bringen soll, ist es still, die Insassen hängen ihren Gedanken nach. Die einen hadern mit der Vergangenheit, die anderen bangen der Zukunft entgegen.

„Sag mal“, mein Mann sieht mich prüfend von der Seite an, „wovor hast du vorhin so eine panische Angst gehabt? Hast du denn allen Ernstes geglaubt, man würde uns in Frankfurt nicht aussteigen lassen?“

Ich kann Alexander nicht verstehen, denn waren die nicht immer wortbrüchig? Entschieden sie nicht über unser Leben und Tod? Bis zur letzten Stunde? Früher … ach, lassen wir das!

Ich wende mich verstimmt ab, gebe aber noch zu bedenken:

„Wo wir doch gerade bei dem Thema sind: Damals, 1945, als sie uns in Viehwaggons verfrachteten und aus Dresden in die „Heimat“ zu bringen versprachen, wohin ging denn damals die Reise?“ Da Alexander schweigt, beantworte ich meine Frage selbst: „Genau, in Richtung Norden und Sibirien! Übrigens, wären wir heute in der DDR, in Dresden gelandet, hätte sich eigentlich der Kreis geschlossen!“

„Um Gottes willen!“ Alexander tut entsetzt, „was für eine grauenhafte Vorstellung!“

Ich stimme unwillkürlich in sein Lachen ein: Ein russischer Kommunist ist schon schlimm genug, aber der tüchtige Deutsche in dieser Rolle – Gott bewahre!

Wie ein Rettungsboot mit Schiffbrüchigen rast unser Bus durch die Nacht. Erschöpft von physischen und seelischen Strapazen sind unsere Mitreisenden, durchweg Russlanddeutsche, in einen kurzen, unruhigen Schlaf gesunken.

Ich kenne keinen von diesen unfreiwilligen Wanderern zwischen zwei Welten, die auch Jahrzehnte nach Kriegsende nicht zur Ruhe kommen können. Doch ich könnte, ohne dass mir schwere Fehler unterliefen, den Lebensweg der meisten skizzieren: Geboren in einer deutschen Kolonie im Süden der UdSSR, im Krieg als „Volksdeutsche“ ‚heim ins Reich’ geholt, nach Kriegsende von den Sowjets zurück verschleppt und wegen ‚Verrates an der sozialistischen Heimat’ zu lebenslänglicher Verbannung und Zwangsarbeit in den Wäldern Sibiriens, in den Minen des Ural und auf den Baumwollfeldern Zentralasiens verurteilt.

Ich war knappe neun Jahre alt, als man meine Mutter und mich aus Dresden in unseren Verbannungsort im Norden Russlands brachte, in ein Dorf in den Urwäldern des Kostromagebietes.

Kein Zug fährt in diese Gegend

Den ganzen Tag schon fuhren unsere Schlitten durch verschneite Felder und Wälder. Es war bitterkalt und ungewöhnlich still ringsum. Nur das monotone Knarren des Schnees unter den Pferdehufen und Schlittenkufen war zu hören und von Zeit zu Zeit noch die Stimmen der bewachenden Milizionäre, die die erschöpften Frauen und Vierbeiner zur Eile antrieben.

Mama hatte mich in unsere Wolldecken eingepackt, so dass ich nur die Augen frei hatte. Viel zu sehen bekam ich ohnehin nicht – nur die weiße eisige Einöde ringsum und den Rücken des Milizmannes auf dem Kutschbock. Ab und an stieg Mama vom Schlitten, um sich beim Laufen etwas zu erwärmen. Dann hörte ich sie mit den Frauen von den anderen Schlitten reden, mit denen wir schon ab Dresden in einem Zug gefahren waren. Auch sie versuchten durch Bewegung die Kälte aus ihren erstarrten Gliedern zu vertreiben. Wenn sie zu weit von unseren Schlitten zurückblieben, riefen die Milizionäre immer wieder:

„Hei, wy Njemzy, a nu dawaite, dawaite …“

„Mama, was will der denn von euch, und was heißt ‚Njemzy‘ überhaupt?“, wollte ich wissen.

„Auf Russisch heißt das Deutsche.“

Sie warf mir einen prüfenden Blick zu und fügte nach einer langen Pause hinzu:

„Du musst dich darauf gefasst machen, dass dieses Wort hier schlimmer klingt als ein Fluch. Aber da ist nichts zu machen, und du wirst dich daran gewöhnen müssen.“

Sie konnte nicht einmal ermessen, dass ihre Vorahnung harmlos war gegen all das, was uns in diesem Land erwartete.

Damals konnte ich Mamas Befürchtungen nicht begreifen. Man hatte uns immer anders genannt. In unserem Dorf Marienheim bei Odessa hießen wir „Schwarzmeerdeutsche“, in Possendorf bei Dresden nannte man uns oft „Russlanddeutsche“, und beim Streit in der Schule waren wir auch schon mal die „russischen Schweine“. Dabei konnte fast keiner von uns auch nur ein Wort Russisch! Als bei Kriegsende die Russen in Dresden einmarschierten, sprachen alle nur noch von „sowjetischen Bürgern“ und von der Rückkehr in die Heimat. Wir wurden in Viehwaggons verfrachtet und in den Norden Russlands gebracht. Als es mit dem Zug nicht mehr weiterging, mussten wir auf Schlitten umsteigen, die uns in unsere neue „Heimat“ bringen sollten.

Nun würden wir in diesem neuen Land eben einen neuen Namen bekommen, und warum sollte es nicht „Njemzy“ sein? Ich versuchte das Wort auszusprechen, aber es war verdammt schwierig. Ich werde noch meine liebe Not mit der russischen Sprache haben, dachte ich mir, verdrängte aber den unangenehmen Gedanken und versuchte mir vorzustellen, wie wohl die russischen Kinder aussehen mochten.

Gegen Abend trafen wir in einem kleinen verschneiten Dorf ein, dem Ziel unserer langen Reise. Die Schlitten blieben stehen, ein Milizmann verschwand in einer der Bauernkaten, und im Nu hatte sich eine Menge aus Frauen und Kindern um uns herum geschart. Für einen Augenblick verschlug es mir die Sprache: Die Russen waren gewöhnliche Menschen, ganz, ganz anders, als man uns in Deutschland in der Schule erzählt hatte. Blonde, blauäugige Frauen und Kinder standen um unseren Schlitten herum, lächelten freundlich, reckten die Hälse, stellten sich auf die Zehenspitzen, um uns besser betrachten zu können, und wiederholten immer wieder das Wort „Njemzy“. Auch sie, die zum ersten Mal leibhaftige Deutsche sahen, schienen genauso überrascht zu sein, denn sie redeten aufeinander ein, heftig gestikulierend und mit den Fingern auf uns deutend. Mir wurde unheimlich zumute. Was hatten die eigentlich vor? Warum sahen sie uns so verwundert an?

Mama konnte ein bisschen Russisch. Sie sagte, die Russen wunderten sich und seien sogar enttäuscht, dass wir so gewöhnlich aussehen, gar nicht wie die Feinde, von denen sie so viel gehört und gelesen hatten. Mir war kalt, ich hatte schrecklichen Hunger, die Menge jedoch machte keine Anstalten auseinanderzugehen.

Das beiderseitige Mustern und Abschätzen zog sich in die Länge, und uns blieb nichts anderes übrig, als dazusitzen und uns begaffen zu lassen, obwohl wir in unserer dünnen städtischen Bekleidung halb erfroren waren. „Worauf warten wir denn, Mama?“, schaute ich fragend zu meiner Mutter hoch.

„Darauf, mein Kind, dass uns eine dieser Frauen bei sich aufnimmt. Wir können schlecht auf diesem Schlitten hier übernachten.“

Die Milizmänner redeten auf die Frauen ein, aber nichts geschah. Ich hatte schon jede Hoffnung verloren, doch da trat eine rundliche Bäuerin an unseren Schlitten heran und streckte die Hand nach mir aus, vielmehr nach meinen Zöpfen, einer lästigen Pracht, die mir fast bis zu den Knien reichte. In wilder Panik fuhr ich herum, doch etwas im Blick der Frau beruhigte mich gleich wieder. Sie strich mir sanft über die Haare und murmelte:

„Ach ty bednyj Frizik, boischsja?“– „Ach du armes Fritzchen, haste Angst?“ Ich schaute Mama an.

„Sie fragt, ob du Angst hast“, lächelte Mama, „nur verstehe ich nicht, warum sie dich Fritzchen genannt hat.“

Das sollten wir noch früh genug erfahren: geprägt von dem sowjetischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg begleitete uns der Begriff „Fritz“ für den hässlichen Deutschen in Russland unser Leben lang.

Die Bäuerin schien sich für mich und Mama entschieden zu haben. Sie sagte etwas zu dem Milizmann, der nickte kurz, und schon liefen drei Jungen zum Schlitten – in großen Russenmützen und so komischer Fußbekleidung, dass ich unwillkürlich lachen musste. Und sofort sah ich, dass ich etwas vermasselt hatte:

Der Gesichtsausdruck der Russenkinder wurde hart, ja verschlossen. Doch die Bäuerin redete auf sie ein, und an den Augen meiner Mutter konnte ich ablesen, dass nichts Schlimmes folgen würde. Die Frau nahm das vor unseren Schlitten gespannte Pferd am Zügel, schnalzte mit der Zunge, und bald hielten wir vor einer Bauernkate am Rande des Dorfes. Ich war begeistert von der Kate! Sie war aus runden Baumstämmen gebaut, die von der Zeit und dem Regen dunkelbraun geworden waren und an den Ecken etwas hervorstanden. Die Kate erinnerte mich an ein Häuschen aus einem Märchen. Sie war fast bis zu den kleinen Fenstern im Schnee versunken, und das Strohdach wirkte jetzt im Winter wie eine riesengroße weiße Mütze.

Noch mehr aber war ich erstaunt, als ich durch den nach Vieh und Mist stinkenden Flur in die Küche trat: Fast den ganzen Raum nahm ein riesiger Ofen ein, ein wahres Haus im Haus! Längs des ganzen Ofens war eine Bank angebracht, auf der eine bunte Steppdecke aus Stoffresten lag. Ich setzte mich auf die Ofenbank und wollte mich gerade umsehen, als die Bäuerin in die Küche kam. Sie versuchte mir etwas zu erklären und zeigte immer wieder auf den Ofen. Da ich überhaupt nichts verstehen konnte, gab sie es auf und begann mich zu entkleiden. Als sie meine blaugefrorenen Füße sah, stieß sie einen entsetzten Schrei aus, lief hinaus und kam mit einer Schüssel Schnee zurück. Damit begann sie meine Füße, dann auch die Hände und das Gesicht einzureiben, ohne von meinem lauten Gebrüll Notiz zu nehmen. Zum Schluss betrachtete sie sichtlich zufrieden das Ergebnis ihrer Arbeit und schubste mich auf den Ofen, was mich veranlasste, noch lauter loszubrüllen, denn ich wollte doch nicht gebraten werden. Woher hätte ich auch wissen sollen, dass dieses „Schlafzimmer“ in der rauen Winterzeit für die ganze Familie die einzige Rettung vor der bitteren Kälte war?

Zum Glück kam Mama in die Küche, die mir die Vorteile des berühmten „russischen Ofens“ erklärte. Nun hatte ich keine Angst mehr und konnte mir alles genau ansehen.

Ich saß auf irgendwelchen alten Decken, auch ein Kissen war da, hart wie Stein. Die Ziegelsteine des Ofens wärmten angenehm, auch die Luft war hier oben viel wärmer. Das Beste aber: Von hier aus konnte man alles sehr gut beobachten. Zum Beispiel konnte ich sehen, dass das, was ich zuerst für die Zimmerdecke gehalten hatte, ein Hängeboden war, auf dem ebenfalls Decken und Kissen herumlagen.

Ich setzte meine Entdeckungsreise fort und kroch vorsichtig auf den Hängeboden. Mir war dabei nicht geheuer, denn ich hatte Angst, das Ganze könnte zusammenkrachen. Es krachte nicht, dennoch verschwand ich eiligst, denn eine ganz dicke Schicht von irgendwelchen kleinen Tierchen – Küchenschaben, wie ich später erfuhr – bedeckte hier die Wände. Ich bemühte mich, die ekelhaften Viecher nicht zu beachten, aber da entdeckte ich, dass es sie auch auf dem Ofen in rauen Mengen gab. Ich drehte ihnen einfach den Rücken zu, legte mich bäuchlings auf die Ziegelsteine und erwachte erst am nächsten Morgen.

Heute gibt es kein Frühstück

Ich wachte in einem fremden Zimmer auf und erschrak heftig, doch der Anblick meiner Mutter, die neben mir im Bett schlief, beruhigte mich. Allmählich begann ich mich an die Ereignisse am Vorabend zu erinnern. Auch daran, dass das hier jetzt unser Zuhause sein würde.

Ich musste auf die Toilette, wollte Mama aber nicht wecken. Vorsichtig kroch ich aus dem Bett und hätte beinahe aufgeschrien, so kalt war es im Zimmer. Zähneklappernd schlüpfte ich in meine Sachen. Die Schleifen der Schürze wollten und wollten sich nicht binden lassen. Ich warf sie achtlos in die Ecke. Und was weiter? Wohin führte wohl diese Tür? Ich machte sie vorsichtig auf und kam in die Küche mit dem überwältigenden Ofen. Wie wohlig warm es hier war! Und wie herrlich es da nach frischgebackenem Brot und gekochten Kartoffeln roch!

Die russische Familie – die nette Bäuerin mit ihren drei Söhnen – saß schon am Frühstückstisch. Die Frau stand auf, nahm meine Hand und führte mich zum gedeckten Tisch. Sie zeigte auf die Speisen und sprach, sprach in dieser fremden Sprache, wo ich doch kein Wort verstehen konnte! Es war zum Verzweifeln. Wie sollte ich bloß zurechtkommen? Ich rannte zurück in unser Zimmer und rüttelte Mama wach, damit sie mir zeigte, wo dieser verdammte „stille“ Ort war! Doch Mama sagte klipp und klar, so etwas hätten die Russen hier nicht. Vor lauter Staunen vergaß ich meine Not. Sollte das etwa heißen, dass die Russen nicht …? Resolut nahm Mama meine Hand und führte mich durch den Flur hinters Haus, wo sich ein schmaler Pfad durch die Schneehügel wand.

„So, da wären wir!“

Ich sah meine Mutter entgeistert an: Wo wären wir?

Mama schien sich über meine Begriffsstutzigkeit zu ärgern und erklärte, dies hier werde fortan unser Klo sein – im Schnee und überhaupt nicht vor fremden Augen geschützt.

Nein, so was! Das war ja schlimmer als zu Hause bei uns in Marienheim, da hatten wir wenigstens ein Häuschen hinten im Garten gehabt!

Das Leben hier wird ganz schön anstrengend sein, dachte ich mir. Aber ich hatte schon gelernt, dass ich nicht viel zu melden hatte und meiner Mutter das ohnehin schwere Los nicht noch schwerer machen durfte. Deshalb hielt ich mich mit Fragen nach dem Wieso und Warum zurück und versuchte, den Dingen um mich herum anders auf den Grund zu gehen. Ich musste so schnell wie möglich herausfinden, was das für eine Welt war – dieses fremde, kalte, verschneite Russland, das voller Überraschungen zu sein schien.

Die nächste Begebenheit ließ nicht lange auf sich warten: Mama sagte, es gebe kein Frühstück, weil wir nur noch ganz wenig Lebensmittel hätten und kein Geld, um welche zu kaufen. Sie hatte wieder diesen besorgten Gesichtsausdruck, der mir immer Angst machte, weil sie dann oft weinte und besonders lange betete.

„Ich hab‘ überhaupt keinen Hunger“, sagte ich leichthin, „außerdem hatte ich sowieso vor, Klara und Lore zu besuchen!“

Mama nickte nur gedankenverloren, und so beeilte ich mich, wegzukommen, ehe sie es sich anders überlegte.

Ich hatte meine Freundinnen seit gestern nicht mehr gesehen und wollte unbedingt wissen, wie es ihnen in Russland ergangen ist. Schnell zog ich mich an und stürmte davon.

Ich musste den Atem anhalten: Häuser, Scheunen, Heuschober und Bäume hatten dicke weiße Gewänder an, die in der Novembersonne glitzerten und funkelten. Die Schneeberge zu beiden Seiten des Pfades, den unsere Wirtin Tante Njura schon früh am Morgen freigeschaufelt hatte, waren so hoch, dass ich nicht einmal einen Blick über sie werfen konnte. Die Straße war auch keine richtige Straße, sondern eine von Schlitten festgefahrene Spur, zu deren beiden Seiten Bauernkaten standen.

Ich war schon ziemlich weit weg von unserem Haus, als ich merkte, dass ich die Kälte unterschätzt hatte. Meine Füße in den flachen Schuhen froren entsetzlich, die Finger waren klamm und ungehorsam, die Wangen brannten, als jagte mir jemand Nadeln unter die Haut. Am liebsten hätte ich kehrt gemacht, aber wohin? Verzweifelt sah ich mich um, die Häuser hinter den Schneebergen waren alle gleich. Ich war schon nahe daran, loszuheulen, da sah ich eine Frau mir entgegenkommen.

Sie fuchtelte entsetzt mit den Armen, redete in dieser unverständlichen Sprache aufgeregt auf mich ein, doch da ich nichts verstand, zeigte sie mir, ich sollte ihr folgen, und so trabte ich ihr gehorsam hinterher. Wir kamen bald zu ihrem Haus, wo sie mir die Schuhe auszog und meine Füße in große Filzstiefel, sogenannte Walenki steckte. In Zeichensprache bedeutete sie mir, ich solle auf den Ofen klettern. Als ich nach oben sah, traute ich meinen Augen nicht: Der ganze Ofenrand war mit Kindergesichtern gesäumt – Mädchen und Jungs, alles durcheinander gewürfelt! Sieben Augenpaare starrten mich neugierig und erwartungsvoll an. Ich starrte bestürzt zurück.

Die Frau kam mir zur Hilfe: sie drückte mir eine Tasse heiße Milch und ein Stück Brot in die Hand und schubste mich leicht zum Tisch. Schon rutschten die Kinder eins nach dem anderen vom Ofen und Hängeboden. „Kak tebja sowut?“ – wie heißt du? –, fragte eines der Mädchen in die Stille. Ich zuckte gewohnheitsmäßig mit den Schultern – verstehe leider nichts! Doch sie fragte weiter, und ich wurde wütend auf die ganze Welt! Das Mädchen tippte sich plötzlich auf die Brust, sagte ganz langsam:

‚Si-na’, streckte den Zeigefinger in meine Richtung und sah mich fragend an. Bei mir dämmerte es, ich sagte zögernd: „Emmi.“ Es hatte geklappt! Weiter ging es in der Vorstellungsrunde wie am Schnürchen – Dunja, Nadja, Galja, Sina – das waren die Mädchen. Dann kamen die Jungs an die Reihe – Wassja, Kostja, Sascha.

Ich wäre gerne noch länger geblieben, doch Mama machte sich sicher schon Sorgen. Ich musste nach Hause, und die Mutter meiner neuen Freunde schien mich nach Hause bringen zu wollen.

Ich zog den dünnen Wollmantel an, stülpte mein Mützchen über, verabschiedete mich von den Kindern mit einem ‚Auf Wiedersehen!’, das mit einem vielstimmigen ‚Doswidanja‘ beantwortet wurde, und zog mit der Frau ab.

Mama war nicht zu Hause, also konnte sie über meine Abwesenheit gar nicht beunruhigt gewesen sein, wohl aber unsere Wirtin Tante Njura.

„Mama – Kommandant“, sagte sie, „ponimajesch – verstehst du, – Kommandant?“ So, Mama war also irgendwo im Dorf bei jemandem, der „Kommandant“ hieß. Nicht weiter schlimm, dachte ich und machte, dass ich auf den Ofen kam.

Ich war recht zufrieden mit meinem ersten Tag in Russland. Ich hatte erstens viele russische Wörter gelernt: Ofen, Milch, Auf Wiedersehen. Zweitens, und das war die Hauptsache: Ich fand die Russen gar nicht so schlimm, im Gegenteil, sie waren alle sehr nett zu mir. Dass es aber auch ganz andere Russen gab als diese einfachen Bäuerinnen mit ihren Kindern, diese Erfahrung stand mir noch bevor.

Verbannt für alle Zeiten

Es dämmerte schon, als Mama nach Hause kam. Sie beachtete mich nicht und ging wortlos in unser Zimmer. Beunruhigt schlüpfte ich vom Ofen und machte vorsichtig die Tür auf. Mama lag in ihren Kleidern auf dem Bett, das Gesicht im Kissen vergraben und weinte. Ich weinte gleich mit. Es war immer so mit mir. Wenn Mama weinte, konnte ich meine Tränen auch nicht zurückhalten – wahrscheinlich aus Angst, denn Mama, das sagten alle, war eine starke Frau, und wenn sie weinte, musste etwas Furchtbares geschehen sein.

Mama richtete sich auf, drückte mich fest an sich, als wollte sie mich vor allem Unheil der Welt schützen, und flüsterte unter Tränen:

„Nun sind wir endgültig verloren, mein Kleines! Ich war gerade bei diesem Kommandanten …“

„Wer ist das?“, ich konnte mit diesem Wort nichts anfangen. Ein neuer Weinkrampf schüttelte Mama, dann fuhr sie fort:

„Wie der uns angebrüllt hatte! Verräter der sowjetischen Heimat wären wir, deutsche Schweine, faschistisches Gesindel, und krepieren würden wir in diesen Wäldern, wie räudige Hunde, büßen sollten wir für all das, was die Deutschen in Russland angerichtet hätten.“ – Jetzt weinte sie laut. „Ab morgen sollen wir zur Arbeit gehen. Wir sind einer Holzfällerbrigade zugeteilt und sollen in einer Forstwirtschaft Bäume fällen. Sie liegt, hat er gesagt, zehn Kilometer von unserem Dorf entfernt. Er hat unsere Angst sichtlich genossen und gefragt, warum denn keine von uns wissen will, wie lange wir so arbeiten müssen. Da wir schwiegen, meinte er:

„Ein paar Stunden zum Ausschlafen täglich werden wohl reichen? Die übrige Zeit wird geschuftet, – tagein, tagaus, auch sonntags, und wehe der Schlampe, die das Soll nicht erfüllt! So geht es euch euer Leben lang! Auch euren Kindern und Kindeskindern!“

Mama erhob sich mühsam und ging im Zimmer auf und ab. Dann wandte sie sich mir zu:

„Du bleibst morgen schön zu Hause, denn du könntest dich leicht verlaufen, und dann gnade dir Gott! Du merkst es selber nicht, wie du erfrierst. Ja, noch etwas: Du musst wissen, dass wir hierher verbannt sind für ewige Zeiten.“

„Was ist ‚verbannt’?“, wollte ich wissen, obwohl ich sah, dass ich meiner Mutter allmählich mit der Fragerei auf die Nerven ging.

„Weil wir Deutsche sind, dürfen wir nie mehr nach Hause nach Marienheim, sondern müssen lebenslänglich hier bleiben, in diesem Dorf, das wir ohne die Erlaubnis des Kommandanten nicht verlassen dürfen – das heißt verbannt.“

Sie weinte schon wieder.

„Wie Sklaven?“ Mama schaute mich verdutzt an. „Woher kennst du überhaupt dieses Wort?“

„Ich habe mal eine Geschichte über die Sklaven gelesen“, ich war noch nicht ganz fertig mit meinem Satz, als Mama mich in die Arme nahm und unter Tränen murmelte:

„Mein Kleines, mein ein und alles.“

Wir klammerten uns aneinander, ein kleines Mädchen und eine Frau, die in den Wirren des Krieges alles bis auf dieses Kind verloren hatte. Verloren zu haben glaubte.

Den ersten großen Verlust hatte sie schon viel früher hinnehmen müssen, als 1937 auf dem Höhepunkt des stalinschen Terrors, in der Zeit der Massenverhaftungen und Hinrichtungen, ihr Mann, mein Vater, verhaftet und verschleppt wurde. Während der allgemeinen Denunziationen, Verdächtigungen und des Terrors waren die Russlanddeutschen den Schergen Stalins schon allein wegen ihrer Herkunft verdächtig, und so wurde in den Jahren der berüchtigten ‚Jeshowschtschina‘, die nach dem 1938 von L. Beria abgelösten Innenminister N. Jeshow benannte Terrorwelle in der Sowjetunion, nahezu die ganze gebildete Schicht der Deutschen in der UdSSR umgebracht.

An diesem sonnigen Altweibersommertag Ende September 1937 sind die Straßen des deutschen Dorfes Marienheim im Gebiet Odessa menschenleer. Ab und zu durchbricht das Gackern eines Huhnes oder das Kläffen eines im Schlaf gestörten Hundes die träge Mittagsstille. Kinder spielen vor dem Haus am Rand der Dorfstraße, über die gerade eine schnatternde Entenschar watschelt. Von Zeit zu Zeit hört man ein Pferdefuhrwerk vorüberrollen. Die Bauern nutzen die Gunst der Stunde und haben es eilig, die Wassermelonen und den Mais, der hier Welschkorn heißt, einzubringen, solange das Wetter noch schön ist. Dann kehrt wieder friedliche Ruhe im Dorf ein.

Plötzlich ein gellender Schrei. Um die Ecke der Straße zum Dorfplatz kommen schnellen Schrittes zwei Milizionäre, die schussbereiten Waffen auf einen jungen Mann vor sich gerichtet. Eine Frau, tränenüberströmt und völlig aufgelöst, versucht, die seltsame Gruppe einzuholen, aber der Abstand vergrößert sich immer mehr. Die Frau gibt nicht auf, sie drückt das Kleinkind in ihren Armen noch fester an sich, als habe sie Angst, man könnte es ihr auch noch wegnehmen. Ihr Weinen hört sich wie das Heulen eines tödlich verwundeten Tieres an, dann wimmert sie nur noch. Bevor die Männer hinter dem letzten Haus auf der Straße zur Bahnstation verschwinden, dreht sich der Mann, ihr Mann, noch einmal um: „Leb wohl, Marie. Vergib mir …“

Die Frau bleibt zurück. Ihr Blick wirkt leblos und entrückt. Dann macht sie kehrt und schleppt sich zurück zu einem schmucken, weißgetünchten Häuschen. Die Frau, die hinter der Tür dieses Häuschens verschwindet, ist meine Mutter, die gerade ihren Mann, den Vater ihrer drei Kinder verloren hat. Das Bündel auf ihrem Arm bin ich, knapp einen Monat alt, das kleine Mädchen, das sich mein Vater immer schon gewünscht hat, das Nesthäkchen, das er während des einzigen Besuches im Gefängnis von Odessa, den seine Frau erbettelt und mit viel Geld bezahlt hat, nicht einmal in die Arme nehmen kann. Hilflos streckt er die von seinen Peinigern im Türspalt zerquetschten und in Lappen gewickelten Hände vor und wiederholt immer wieder:

„Hier kommen wir nie wieder raus, für uns gibt es kein Entkommen.“

Mein Vater verschwindet spurlos in den endlosen Weiten des Archipels Gulag. Erst sehr viel später bekommt meine Mutter die Nachricht, er sei als „feindlicher Spion“ zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, „ohne Recht auf Briefwechsel“. Doch die ganze Wahrheit erfahren wir erst Anfang der 90er Jahre, als das KGB, der sowjetische Geheimdienst, der Rechtsnachfolger von Stalins NKWD, dem sogenannten Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, in Odessa sein Archiv öffnete. In der Liste von mehr als 4 000 in den Jahren 1937/38 im Odessaer Gefängnis erschossenen Russlanddeutschen wird auch der Name meines Vaters geführt: „Wagner Oskar, Sohn des Eduard, geb. 1900, erschossen am 23.2.1938“, steht da lapidar und nüchtern.

Mama beeilte sich mit dem Abendbrot, denn Licht gab es hier nicht. Die Bauern hatten wohl Petroleumlampen, wir aber hatten nur einen kleinen Docht, der durch eine Blechplatte gezogen in einem Fläschchen mit Petroleum schwamm. Die Flamme war winzig klein und beleuchtete nur einen kleinen Kreis auf dem Tisch.

Unser Abendbrot fiel ganz bescheiden aus. Die Vorräte waren zum größten Teil auf unserer monatelangen Reise verbraucht worden. Ein bisschen Mehlsuppe und eine Pellkartoffel für jede von uns, das war alles. Wir saßen danach noch lange am Ofen, sahen den lustig tanzenden Flammen zu und gingen dann traurig zu Bett, ungewiss, ob uns der nächste Tag etwas Erfreuliches bescheren würde.

Die Russen haben auch einen Führer!

Am nächsten Morgen blieb ich allein zu Hause. Mama musste zur Arbeit, Tante Njura ging zum Viehstall der Kolchose, und die Jungs waren in der Schule. Es war unheimlich, allein in diesem fremden Haus zu sein. So würgte ich schnell den Rest der Mehlsuppe vom Vortag hinunter, um möglichst schnell nach draußen zu kommen. Ich musste die Augen zudrücken, so sehr blendeten mich Sonne und Schnee. Gestern noch hatte Mama mir ganz genau erklärt, wo Klara und Lore wohnten, und dass man sich zwischen den paar Häusern verlaufen könnte, schien mir einfach unmöglich.

Also, das fünfte Haus auf der gegenüberliegenden Seite. Da, dies müsste es sein. Vorsichtig stieg ich die vereisten Stufen hinauf. Ich war noch nicht richtig an der Tür, als drinnen ein Hund anschlug und eine Frauenstimme etwas fragte.

Eingeschüchtert fragte ich nach Lore und Klara, auf Deutsch selbstverständlich. Die Tür wurde aufgerissen und eine Frau, das Gesicht vor Hass verzerrt, schrie und keifte mich an. Am liebsten hätte ich Reißaus genommen, aber die steilen, mit dicker Eisschicht bedeckten Stufen verhinderten meinen Rückweg.

Plötzlich ergriff die Frau meine Hand und zerrte mich in die Küche. Die sich in ihrem Gekeife wiederholenden Wörter „Njemzy“, „Fritzy“, „Faschisty“ kannte ich schon allzu gut. Die Frau hasst mich, weil ich eine Deutsche bin! Kaum hatte ich diesen Satz zu Ende denken können, als die Frau mich in einen Raum schubste und die Tür mit einem Knall zuschlug. In der winzigen Kammer gab es nur wenig Licht, so konnte ich meine beiden Freundinnen, die mit bleichen Gesichtern und vor Angst weit aufgerissenen Augen auf dem Strohsack in einer Ecke saßen, zuerst gar nicht erkennen.

„Sie ist eine Hexe“, Lore machte runde Augen, „so schreit und donnert sie schon den dritten Tag – seitdem wir hier sind! Heute ist sie ganz außer sich, und Mama ist zur Arbeit!“

Lore flüsterte, und ich flüsterte zurück:

„Warum bleibt ihr dann hier?“

„Hast noch nichts kapiert, was?“, Klara, die älteste von uns dreien, sah mich mitleidig an, „wir sind hier eingewiesen worden, weil die ‚Hexe’ ganz allein wohnt, das Haus aber groß ist. Sie hat uns in diese Vorratskammer gesteckt. Nachts macht unsere Mama heimlich die Tür auf, damit ein bisschen Wärme hereinkommt, aber tagsüber ist es hier furchtbar kalt. Sie hasst uns, weil ihr Mann im Krieg gefallen ist.“

„Das hat sie unserer Mama ins Gesicht geschrien“, flüsterte Lore, „warum schreit unsere Mama sie nicht an? Unser Vati ist ja auch im Krieg gefallen!“ Es schien, als wolle sie anfangen zu weinen.

„Ach, ihr könnt das alles doch überhaupt nicht verstehen!“, Klara kehrte wieder mal die Überlegene heraus, „Wir haben den Krieg verloren.“

„Wir?!“, fragten Lore und ich ungläubig wie aus einem Munde.

„Ihr zwei dummen Ziegen doch nicht! Das deutsche Volk meinte ich. Nun wird es versklavt, hat unsere Mama gesagt. Das alles wäre nicht passiert“, jetzt flüsterte auch sie, „wenn der Führer nicht verraten worden wäre. Das hat Mama gesagt.“

Tante Rosie, Klaras und Lores Mutter, war Lehrerin, sie musste es schon wissen. Ich hatte so meine Zweifel, weil meine Mama ganz anders darüber sprach, wenn sie überhaupt in meiner Anwesenheit über solche Dinge redete. Dass es uns Deutschen aber schlimm ergehen würde, befürchtete sie auch.

„Hast du schon den Russenführer gesehen?“

Ich schreckte aus meinen Gedanken und sah Klara verdutzt an. Ach ja, natürlich! Die Russen müssen ja auch einen Führer haben, wie dumm von mir, das zu vergessen! Von diesem Führer hatte mir Mama erzählt, aber gesehen? Nein, ich hatte von ihm noch nie ein Bild gesehen.

Klara legte den Zeigefinger an die Lippen, ging auf Zehenspitzen zur Bretterwand und winkte mich zu sich heran. In der Wand waren breite Ritzen, durch die man in ein anderes Zimmer, offensichtlich die gute Stube, sehen konnte. In der Ecke sah ich Heiligenbilder hängen, darüber je ein bunt besticktes Handtuch mit Spitzenbesatz an beiden Enden.

„Von wegen Führer!“ Ich war froh, Klara endlich eins auswischen zu können. „Das da“, sagte ich triumphierend, „ist nicht der Russenführer, sondern der russische Gott mit der heiligen Jungfrau Maria!“

„Doch nicht die Bilder in der Ecke, du Trottel!“ Klara schien endgültig die Geduld zu verlieren, „das Bild daneben, neben dem Fenster! Du musst mehr nach rechts schauen!“

Tatsächlich, als ich meinen Kopf mehr nach rechts neigte, sah ich einen Mann mit einem Schnurrbart und buschigen Brauen, unter denen mich zwei gutmütig-listige Augen anlächelten. Das soll der russische Führer sein? Ein ganz netter Onkel?!

„Bist du denn ganz sicher?“, fragte ich ratlos zu Klara hinüber, „dass dies der Russenführer ist und nicht vielleicht der gefallene Mann eurer Wirtin?“

„Pah!“, meinte Klara schnippisch, „unsere Mama hat ihn uns gezeigt und gesagt, wir sollen uns dieses Gesicht gut einprägen, denn niemand, so hat sie gesagt, niemand auf der Welt hat den Deutschen in Russland so viel Leid angetan wie dieser, warte mal, Lore, wie hat Mama noch gesagt?, ach ja, wie dieser Tyrann!“

Ich drückte meine Nase noch einmal an die Bretterwand und sah durch den Spalt: Der Tyrann lächelte mir freundlich zu, ein gutmütiger Opa, fast wie ein wahrhaftiger Weihnachtsmann.

Nebenan giftete die „Hexe“.

„Wie ihr das bloß aushalten könnt“, sagte ich in die Stille und schlug vor, völlig unerwartet für mich selbst, zu unserer Tante Njura zu gehen.

Doch Klara und Lore hatten Angst, dass ihre Hauswirtin sie womöglich nicht mehr ins Haus lassen würde.

„Ach was, dann bleibt ihr eben bei uns, bis unsere Mütter von der Arbeit kommen. Wir können es uns auf dem Ofen gemütlich machen und vielleicht etwas spielen. Wenn ihr wüsstet, wie schön warm es da oben ist!“ Der Ofen gab den Ausschlag, und meine Freundinnen begannen sich in größter Eile anzuziehen. Als wir dann durch die Küche gingen, schrie uns die „Hexe“ an und zeigte auf die Pfützen auf dem Boden, die sich offensichtlich vom Schnee an meinen Schuhen gebildet hatten. Klara holte einen Lappen und wischte alles weg, dann flüchteten wir vor dem Geschrei der Wirtin nach draußen.

Doch da war es auch nicht viel stiller. Ganz plötzlich hatte sich das Wetter geändert, der wildgewordene Wind wirbelte den Schnee durch die Luft, warf ihn uns ins Gesicht, zerrte an unseren Kleidern. Am liebsten hätten wir kehrtgemacht, doch im Haus war die „Hexe“, und keine von uns wäre jetzt da wieder hineingegangen. Also arbeiteten wir uns vor, bemüht, nicht von dem festgetretenen Pfad abzukommen. Aber wohin? Im Schneesturm erkannte man kaum ein Haus, auch sahen sie sich alle jetzt zum Verwechseln ähnlich. Wer weiß, wie lange wir noch herumgeirrt wären, wenn wir nicht plötzlich Kostja, den ältesten Sohn unserer Wirtin, getroffen hätten. Als er uns ins Haus brachte, war der Ofen schon von den beiden anderen Jungs, Walja und Pawlik, besetzt. Tante Njura scheuchte die beiden auf den Hängeboden und bedeutete uns: Hinauf mit euch!

Da saßen wir nun, die Russenjungen auf dem Hängeboden und wir deutschen Mädchen auf dem Ofen, und starrten uns an. Wir hätten etwas spielen können, aber wie, wenn wir uns doch gar nicht verständigen konnten? Einen Ausweg fand Pawlik. Er nahm ein Lehrbuch in die Hand und sagte: „Kniga.“ „Buch!“, schrie unser Trio zurück. Das wundersame Spiel, mit dessen Hilfe wir dann im Laufe nur weniger Monate Russisch gelernt haben, begann. Unsere „Russischlehrer“, die ihre Hausaufgaben übrigens auf diesem Wunderofen erledigten, lernten zwar kein Deutsch, aber der kleine Dorfjunge Pawlik begeisterte uns mit seiner Erfindung. Wir hatten schon alle möglichen Dinge benannt, doch bei den Küchenschaben blieben wir dann stecken. Keine von uns wusste, wie diese ekligen Viehcher hießen. „Schön, dann erzählen wir Märchen“, Klara kannte viele Märchen und konnte sie spannend erzählen. Doch schon bei „Hänsel und Gretel“ mussten wir aufgeben. Unsere neuen Freunde hatten zu wenig Deutsch gelernt, um das Märchen zu verstehen. Auch Walja scheiterte mit seinem russischen Märchen, wir schüttelten nur traurig die Köpfe und verloren immer mehr das Interesse an der Erzählung.

Hier werdet ihr auch verrecken

Inzwischen war es Abend geworden, und wir hatten kaum etwas gegessen. Zwar hatten wir noch ein bisschen Mehl übrig, aber Mama hatte ausdrücklich gesagt, ich sollte es für morgen aufheben. Sie wollte nach der Arbeit einige Kleider bei den Russinnen gegen Nahrungsmittel eintauschen. Aber Mama kam und kam nicht. Tante Njura hatte schon die Schafe und die Kuh versorgt, die Petroleumlampe angezündet und Essen auf den Tisch gestellt. Wir vergaßen unsere Märchen, denn in keinem gab es so viele essbare Dinge wie auf Tante Njuras Tisch: Milch, die den ganzen Tag in einem Tonkrug im Ofen gestanden hatte und deshalb mit einer goldbraunen Kruste bedeckt war, eine Menge Brot und eine Schüssel mit dampfender Kohlsuppe, die in der Küche ein betäubendes Aroma verbreitete!

Wir wussten, dass es sich nicht gehört, so unverschämt auf den Tisch zu starren, hatten aber, von Hunger geplagt, angesichts der Köstlichkeiten einfach nicht die Kraft, wegzusehen. Gebannt verfolgten wir jede Bewegung am Tisch, wie sich alle, als hörten sie auf ein Kommando, gleichzeitig bekreuzigten, langsam ihre Holzlöffel in die Hand nahmen, sie zu der in der Mitte stehenden Schüssel und gefüllt zurückführten, immer die dicke Scheibe Brot sorgfältig unter dem Löffel haltend. Die Verwunderung darüber, dass sie alle aus einer Schüssel aßen, war nur flüchtig. Ich führte meinen unsichtbaren Löffel mit, kaute, ja schmatzte, was ich sonst scheußlich fand. Ich war so vertieft in meine Betrachtung, dass ich nicht rechtzeitig wegschauen konnte, als Tante Njura, – durch die Stille auf dem Ofen aufmerksam geworden, – zu uns heraufsah.

Sie winkte uns herunter an den Tisch, wir jedoch bedankten uns, schüttelten die Köpfe: Nein, nein, wir haben keinen Hunger, überhaupt keinen! Doch unsere Hände arbeiteten sich schon hinunter, die Beine trugen uns zum Tisch, und die Augen verschlangen gierig alles, was darauf noch übriggeblieben war. Es kostete mich viel Mühe, den Blick von dieser Pracht loszureißen und Tante Njura fragend anzusehen.

Ihr schien etwas in die Augen gekommen zu sein, denn sie wischte dauernd mit ihrer Schürze daran herum.

Die Frau nahm ihren Söhnen die Löffel weg, denn im Haus gab es nur fünf davon, und schob die Schüssel näher an uns heran. Es war nicht mehr viel Suppe darin, aber wir wollten uns nicht wie arme Bettler darauf stürzen, und so führten wir unsere Löffel bedächtig zum Mund. Die Griffe der Holzlöffel waren rund, unbequem und boten keinen richtigen Halt, was aber am schlimmsten war: die Dinger waren viel zu groß und passten beim besten Willen nicht in den Mund. Wie sehr wir uns auch bemühten, es wollte und wollte nicht klappen, bis Tante Njura uns zeigte, dass man den Inhalt einfach seitlich in den Mund kippen musste. Wir machten es ihr dankbar nach, und schon bald kratzten wir die Kohl- und Kartoffelreste aus der Schüssel. Danach wurden die Löffel sorgfältig von innen und außen abgeleckt, und drei Augenpaare richteten sich erwartungsvoll auf Tante Njura.

Sie hatte auch schon drei Tontassen mit der schokoladengebräunten Milch gefüllt und reichte jeder von uns eine ganz dicke Scheibe Brot. Wir bemühten uns, langsam zu essen, um den Genuss in die Länge zu ziehen. Als wir dann vom Tisch aufstanden, satt und zufrieden, kam meine Mutter. Ich hatte sie zuerst gar nicht erkannt, diese vermummte, mit einer Schnee- und Eiskruste bedeckte Gestalt, die da an der Türschwelle stand. Sie sah Tante Njura mit einer Geste der Entschuldigung an und ging vorsichtig, damit keine Eisstücke von ihrer Kleidung auf den Boden fielen, in unser Zimmer. Ich lief ihr nach.

Mama versuchte verzweifelt, die an den Fußlappen festgefrorenen „Lapti“, selbstgeflochtene Bastschuhe, auszuziehen, aber ohne Erfolg. Auch die übrige Kleidung war ein einziger Eisklumpen, so dass wir warten mussten, bis sie etwas auftaute. Ich löste die Knoten des dicken Schals, den Mama um den Kopf gebunden hatte, und knöpfte die Steppjacke auf. Allmählich schälte sich Mama aus der grässlichen Kleidung.

Sie war schlecht gelaunt. Mürrisch zog sie ein Stückchen schwarzes, durch und durch gefrorenes Brot aus der Jackentasche:

„Hier, das ist alles, was ich heute verdient habe!“

Ich hielt das Brot in den Händen und schämte mich in Grund und Boden: Während ich auf dem warmen Ofen faulenzte, musste sich meine Mama in bitterer Kälte für dieses Stückchen Brot abschinden.

„Iss es selber, iss nur, Mama, ich habe keinen Hunger“, sagte ich leise, bemüht, meiner Mutter nicht in die Augen zu schauen. Sie sah mich aufmerksam an, als habe sie Verdacht geschöpft.

„Hast du …“, ihre Stimme wurde gefährlich leise, „hast du gebettelt?“ Ich senkte schuldbewusst den Kopf.

„Ich habe dir doch schon oft genug gesagt: Wir sind arm, aber keine Bettler, willst du dir das endlich merken? Versprich, dass du es nie wieder tust!“

„Ja, Mama.“ Es hatte keinen Sinn, sich zu rechtfertigen, das wusste ich. Sie stand auf und begann, ihre nassen Kleider am Ofen aufzuhängen.

„Mein Gott, wie bekomme ich die bloß wieder trocken bis morgen früh um sechs? Der Ofen ist ja schon fast aus.“

Mama lief verzweifelt im Zimmer umher.

„Dafür musst du ab morgen sorgen, ich meine, dass wir immer genug Brennholz haben. Und kochen musst du für uns – ich werde ab jetzt immer erst um diese Zeit nach Hause kommen, in der Nacht. Nun aber werde ich versuchen, bei Tante Njura etwas von unserer Kleidung gegen Kartoffeln und Grütze einzutauschen.“

Ich heulte los. Nicht dass ich Angst vor der Arbeit gehabt hätte, es war nur das erste Mal, dass meine Mama in diesem harten Ton mit mir sprach. Sie nahm mich auch sofort in die Arme und sagte mit bebender Stimme:

„Du musst wissen, mein Kind, in dieser verrückten Zeit ist man eben schon mit acht Jahren erwachsen. Du bist doch mein großes Mädchen, nicht wahr? Wir werden versuchen, zu überleben. Wenn bloß dieses Hungergefühl nicht wäre und die mörderische Arbeit!“