Über das Buch

Said Al-Wahid hat seinen Reisepass überall dabei, auch wenn er in Berlin-Neukölln nur in den Supermarkt geht. Als er eines Tages die Nachricht erhält, seine Mutter liege im Sterben, reist er zum ersten Mal seit Jahren in das Land seiner Herkunft. Je näher er seiner in Bagdad verbliebenen Familie kommt, desto tiefer gehen die Erinnerungen zurück, an die Jahre des Ankommens in Deutschland, an die monatelange Flucht und schließlich an die Kindheit im Irak. Welche Erinnerungen fehlen, welche sind erfunden und welche verfälscht? Said weiß es nicht. Es ist seine Rettung bis heute. Eine Lebensgeschichte von enormer Wucht. In diesem bewegenden und poetischen Roman liegt der Klang eines ganzen Lebens.

»Es ist kein Verlaß auf die Erinnerung, und dennoch gibt es keine Wirklichkeit außer der, die wir im Ge-dächtnis tragen.«

Klaus Mann, In meinem Elternhaus

I

»Komm so schnell wie möglich her«, sagt sein Bruder am anderen Ende der Leitung. »Es ist so weit. Unsere Mutter liegt im Krankenhaus. Der Arzt sagt, es wird nicht mehr lange dauern.«

Said Al-Wahid sitzt in einem ICE irgendwo zwischen Mainz und Berlin. Draußen ist es grau und trüb, ein regnerischer Junitag. Saids Mutter war in den Jahren zuvor oft krank. In den vergangenen Wochen hat sich ihr Zustand verschlechtert. Sie schlief ununterbrochen. Nur für wenige Minuten am Tag war sie wach.

Said war bewusst, dass der Moment nahte, in dem der Tod, der alte, unerwünschte Gast, auf der Türschwelle stehen würde. Mit dem Vater und der Schwester wird die Mutter bald vereint sein. Im Himmel ist die Familie vollständiger als auf Erden.

In Mainz hat Said an einem Podiumsgespräch teilgenommen. Er ist auf dem Weg nach Hause zu Monica und seinem Sohn Ilias. Er überlegt, ob er am nächsten Halt aussteigen und mit einem anderen Zug zum Frankfurter Flughafen fahren soll. Mit dem Handy schaut er nach Flügen, die er buchen könnte.

Sein Bruder würde ihn niemals dazu auffordern, nach Bagdad zu fliegen, wenn der Zustand ihrer Mutter nicht wirklich ernst wäre. Aber wie soll er nun schnellstmöglich dorthin kommen? Direkte Flüge gibt es seit Ewigkeiten nicht mehr. Ist der Bagdader Flughafen überhaupt in Betrieb? Während welchen Krieges wurde er geschlossen? Ob er seine Mutter noch sehen wird, bevor sie sich von der Welt verabschiedet? Hat der Tod ein wenig Mitgefühl und lässt sie noch ein paar Tage am Leben? Wartet er auf ihn?

Möglicherweise hat die Mutter es eilig, den Rest der Familie im Jenseits wiederzusehen. Keiner der Überlebenden ihrer Sippe hat eine Ahnung, wo der Leichnam des Vaters beerdigt wurde. Von den Körpern der Schwester und ihrer Familie fand man kaum noch Überreste. Im Irak, das weiß Said, drehen sich die Minutenzeiger nicht über Ziffern, sondern über Wunden.

Zum Glück hat Said seinen Reisepass dabei. Hätte er sich jemals an die Bequemlichkeit der letzten Jahre gewöhnt, hätte er ihn zu Hause liegen gelassen, als er nach Mainz fuhr.

Said ist noch immer jemand, der der Welt nicht traut. In der Fremde gibt es keine Himmelsrichtungen. Das weiß er aus eigener Erfahrung. Man sollte jederzeit dazu bereit sein, das Feld zu räumen oder mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Die Fremde ist eine Fahrt auf einer verflixt langen Straße, die sich in Serpentinen schlängelt und ins Nichts führt.

Said wird nie jenen Sommertag vergessen, an dem er einen blauen Briefumschlag mit der Aufschrift »Förmliche Zustellung« erhielt. Er saß in jener Zeit viel in seiner Einzimmerwohnung in München vor dem Laptop und schaute Nachrichtensendungen zur Lage im Irak. Es gab heftige Straßenkämpfe zwischen den Anhängern des gestürzten Diktators und den US-amerikanischen Soldaten.

Diese grauenhaften förmlichen Zustellungen kannte Said bereits und wusste, welch große Gefahr in ihnen lauern konnte. Albträume vergisst man nie, man verdrängt sie nur und trägt sie doch mit sich herum. Seine Hand zitterte, als er den Brief öffnete. Oben stand der Name des Absenders: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Oder hieß es in jener Zeit noch: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge? Said spürte, wie sein Herz bis zum Hals pochte.

Es war der Bescheid über das Widerrufsverfahren bezüglich seines Asylstatus. Nach dem Sturz des irakischen Regimes, so hieß es in der Begründung, drohe ihm fortan »keine Verfolgung im Heimatland«. Die Rückreise sei zwingend. Oder besser gesagt: Ein grenzüberschreitender Fußtritt eines Polizisten ist unvermeidlich.

Den ganzen restlichen Tag über saß Said auf dem Sofa. Er starrte die Wand an und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er vermied es an jenem Tag, ins Bad zu gehen. Ihm war bewusst: Würde er vor dem Spiegel stehen und sich in die Augen sehen, würde er nicht anders können, als sich Vorwürfe zu machen, weil er dieses und nicht jenes getan hatte. Er hatte sich so oft in seinem Leben selbst geohrfeigt. Am Abend hatte Said gewaltige Kopfschmerzen. Wegen des ununterbrochenen Rauchens, aber auch, weil er seinen Kopf mehrmals gegen die Wohnzimmertür geschlagen hatte.

Am nächsten Tag erfuhr Said, dass er nicht der Einzige war, der so eine förmliche Zustellung erhalten hatte. Viele hatten diesen Brief bekommen.

»Der Himmel über uns blitzt blau! Staubig wie das Antlitz von Euphrat und Tigris. Sichtbar wie die blauen Flecken der Seelen bei uns daheim. Schmerzhaft wie die Wunden, die wir aus der Heimat mitgebracht haben. Aber nicht so wahrhaftig wie das Blau der Augen meiner Freundin«, sagte ein Kerl im Basra-Teehaus auf der Schwanthalerstraße.

»Man hat entschieden, uns alle abzuschieben«, sagte der Teehausbesitzer. »Vor einigen Jahren waren es andere Nationalitäten. Menschen aus den Balkanstaaten, aus Afghanistan. Nun also sind wir dran.«

»Die Afrikaner werden zu jeder Zeit rausgeworfen«, sagte wieder ein anderer. »Sie sind Dauergäste in den Abschiebezentren. Diese sind ihre Wahlheimat.«

Niemand konnte darüber lachen.

Saids Leben in Deutschland neigte sich, so schien es, dem Ende zu. Sechs Jahre verloren schlagartig ihre Bedeutung. Die Arbeit. Die Ausbildung. Die Freunde. Die Träume. Die Zeit, die Said damit verbracht hatte, die deutsche Sprache mit ihren Millionen Ausnahmeregelungen zu lernen. Es war, als ob Saids Leben kein Leben wäre, sondern ein überflüssiger Satz in den Akten der Behörden: Jeder konnte ihn mit einer flüchtigen Bewegung wegstreichen. Es war ein wertloses Leben, nur ein Furz am Rande aller Welten.

Der Teehausbesitzer, der zu allem Erdenklichen eine Meinung hatte und sich mit derselben Bestimmtheit zu Gentechnik und Unterwäsche äußerte, empfahl, Rechtsanwälte aufzusuchen, die auf Asyl-, Aufenthaltsrecht und Widerrufsverfahren spezialisiert seien. Er sprach auch von einem berühmten Einheimischen, der noch nie einen Prozess verloren habe.

Said Al-Wahid fand die Adresse und Telefonnummer der Kanzlei Nussbaum & Partner im Internet. Doch er rief nicht selbst an. Er sprach zunächst mit seinem Chef in der Reinigungsfirma, für die er zu jener Zeit arbeitete. Said bat ihn darum, in seinem Namen einen Termin mit der Kanzlei zu vereinbaren. Der Chef war verständnisvoll und erledigte den kurzen Anruf. Said bedankte sich mehrmals bei ihm und schenkte ihm ein halbes Kilo Baklava.

Es war besser, wenn die weißen Inländer solche Angelegenheiten unter sich erledigten. Wohnungssuche, Termine aller Art, Formalitäten sollte jemand wie Said nie allein angehen. Das war das Terrain der Einheimischen. Ihre Tätigkeit gab den Sachbearbeitern, Beamten und Angestellten das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, etwas Göttliches. Sie redeten nicht gern mit den kümmerlichen Geschöpfen selbst, sondern sprachen lieber zu einem und durch einen inländischen Gesandten mit ihnen. Die unmündigen Ausländer brauchten einen hilfsbereiten Einheimischen an ihrer Seite, wenn sie mit ihren Anliegen einen Schritt weiterkommen wollten. Sie brauchten die weißen Einheimischen als Babysitter und Propheten, in jeder Behörde und manchmal auch beim Einkaufen.

Als Said sich dem prachtvollen Altbau auf der Maximilianstraße näherte, war er mächtig beeindruckt. Die Kanzlei Nussbaum & Partner befand sich in der dritten oder vierten Etage. Said kam sich vor, als würde er in einem Museum herumspazieren. Die Sekretärin schickte ihn in einen Raum und servierte ihm eine Tasse Kaffee mit einem Glas Wasser. Nach einigen Minuten setzte sich ihm ein Junge gegenüber, der einen kaum sichtbaren Oberlippenbart trug. Said schätzte ihn auf Anfang zwanzig, aber er konnte nicht einordnen, ob er Rechtsanwalt, Referendar oder Praktikant war. Der Jüngling machte Kopien von all seinen Dokumenten, setzte sich wieder zu ihm, blätterte sie durch, stand erneut auf, holte ein dickes Buch aus dem Regal und legte es auf den Tisch.

Wie war sein Name? Daran erinnert sich Said nicht, auch nicht daran, was er für Kleidung trug oder wie der Raum aussah. An die Zähne des Jungen wiederum erinnert sich Said schon. Sie waren schneeweiß und gerade wie die Zacken eines Kamms. Warum kann er sich an die Zähne erinnern?

Der Junge-mit-den-schneeweißen-Zähnen stellte Said viele Fragen und notierte die Antworten in einem Heft. Immer wieder wurde lange geschwiegen, und der Junge-mit-den-schneeweißen-Zähnen schlug irgendetwas in diesem dicken Buch nach. Schließlich schob er die Dokumente und das Buch beiseite und sah Said direkt in die Augen. Der Junge-mit-den-schneeweißen-Zähnen fragte, ob Said irgendwelche Straftaten begangen habe.

»Meine Akte ist sauber.«

»Wie lange haben Sie gearbeitet und Steuern bezahlt, seit Sie im Lande sind? Erhielten Sie Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld?«

»Am Anfang, als ich in der Asylunterkunft gewohnt habe, da habe ich monatlich ein wenig Taschengeld bekommen. Seit ich die Aufenthaltserlaubnis besitze, arbeite ich und lerne nebenbei die Sprache. Zurzeit besuche ich tagsüber das Studienkolleg, um das deutsche Abitur zu machen; ich bin im letzten Semester, muss nur noch die Prüfung bestehen, dann kann ich bald mit dem Studium beginnen. Am Nachmittag arbeite ich. Teilzeitjob. Ich habe keine finanzielle Hilfe vom Staat erhalten.«

»Das macht die Sache leichter. Haben Sie eine inländische Freundin?«

»Wie bitte?«

»Eine deutsche Frau, die Sie heiraten können, eine, die Sie lieben und die Sie liebt.«

»Nein.«

»Wann endet Ihre Aufenthaltserlaubnis?«

»In vier oder fünf Monaten.«

Der Junge-mit-den-schneeweißen-Zähnen klappte sein Notizheft zu.

»Es ist so: Sie sollten klagen. Aber Sie werden nicht gewinnen. Obwohl der Grund des Widerrufsverfahrens nicht ausreichend ist, jeder Zeitungsartikel über die Lage im Irak ist ein Beweis dafür. Trotzdem werden Sie verlieren — die Verfahrenskosten werden Ihnen also nicht erstattet.«

Said hing an den Lippen des Jünglings und wartete auf spezifischere Informationen.

»Aber das Ganze ist auch kein Hexenwerk. Wir werden Zeit gewinnen und Ihr Anliegen auf anderem Weg durchsetzen. Unsere Kanzlei verliert nie. Wir garantieren Ihnen die unbefristete Aufenthaltserlaubnis.«

»Wie?«

»Sie sind seit bald sechs Jahren in Deutschland.«

»Ja.«

»Das heißt, Sie haben dann das Recht auf die unbefristete Aufenthaltserlaubnis.«

»Wie kriegen wir das hin?«

»Haben Sie einen irakischen Reisepass?«

»Nein.«

»Ich empfehle Ihnen, einen Reisepass bei der irakischen Botschaft zu beantragen. Wir versuchen, einen Kompromiss mit den Behörden hierzulande zu schließen. Sie geben Ihr Asylrecht ab, dafür erhalten Sie das Recht auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, weil Sie seit Jahren als aktiver Steuerzahler in Deutschland leben. Die Aufenthaltsgenehmigung übertragen wir auf den neuen irakischen Pass. Sie sind dann kein Asylberechtigter mehr, aber ein ausländischer Mitbürger mit einer unbefristeten Aufenthaltsbewilligung.«

»Ja?« Said blieb skeptisch.

»Sie sollten allerdings niemandem von dem neuen Pass erzählen, bis der Prozess abgeschlossen ist. Wenn die Ausländerbehörde davon erfährt, wird es problematisch. Sie sind ein Asylberechtigter und dürfen mit Ihrem Heimatland nicht in Kontakt treten.«

»Okay, so machen wir es.«

Sie vereinbarten eine Vorschuss- und Ratenzahlung.

Obwohl Said Al-Wahid alles, was er in den letzten Jahren angespart hatte, vorstrecken musste und das Geld aller Voraussicht nach nicht wiederbekommen würde, hatte sich der Gang zur Kanzlei für ihn gelohnt. Diese Entscheidung sollte sich als die beste herausstellen, die er für sein Leben in Deutschland je getroffen hatte.

Es dauerte ein paar Monate, bis er den neuen Pass von der irakischen Botschaft erhielt. Das Dokument sah aus, als hätte es jemand mit einem alten Fotokopierer selbst hergestellt. Im Internet las Said, dass der irakische Reisepass einer der schlechtesten Reisepässe der Welt sei. Dieses jämmerliche Exemplar aber war sein Rettungsanker.