ISBN: 978-3-96861-283-6
1. eBook-Auflage 2021
© Aquamarin Verlag GmbH
© der Holländischen Originalausgabe: 2020 Hans Stolp
Originaltitel: DE MYSTERIËN VAN CHRISTUS – VOOR WIE HET GEHEIM BEGRIJPEN WIL
Übersetzung aus dem Holländischen: Andrea Fischer
Aquamarin Verlag GmbH, Voglherd 1, 85567 Grafing, www.aquamarin-verlag.de
Für Wilma
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Das höchste Licht, die tiefste Finsternis –
wir durchmaßen sie Schritt für Schritt.
Doch auf dem Weg wurden die Schleier gelüftet,
und wir bekamen beispiellose Einblicke.
Wie wahr ist es doch, dass selbst die tiefste Finsternis
Geschenke in sich birgt. Wie wahr ist es doch,
dass die Finsternis die Wiege einer neuen,
höheren Erkenntnis und eines höheren Bewusstseins ist.
Wie wahr, dass Christus uns dann so nahe kommt.
Die Grenze zwischen Leben und Tod verschwimmt,
du spürst, wie dir geholfen wird, und du getragen wirst.
Dein inneres Auge öffnet sich, und fortwährend
verspürst du die stille Verbundenheit mit all jenen, die
vor uns gegangen sind. Du weißt dich geborgen.
In der Finsternis des Lebens: Auch dann, ja,
gerade dann, sind wir so geborgen und werden getragen.
Diese Erfahrung hat uns reich gemacht.
Ein Reichtum, der uns verändert und uns Frieden schenkt.
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Mein ganzes Leben steht im Zeichen von zwei Geheimnissen: „Was ist der Tod?“ und: „Wer ist Jesus Christus?“
Dem ersten Thema habe ich viele Bücher gewidmet. Vor ein paar Monaten wurde zum Beispiel mein Buch „Die ersten drei Tage im Jenseits – Was die Seele unmittelbar nach dem Ablegen des Körpers durchlebt“ neu aufgelegt.1 Immer mehr Menschen wollen verstehen, was der Tod wirklich ist, und was passiert, wenn man stirbt. Zu meiner Freude habe ich entdecken dürfen, dass es zu diesem Thema sehr viel mehr zu sagen gibt, als vielen Menschen bewusst ist.
Aber auch dem zweiten Thema „Wer ist Jesus Christus?“ habe ich mehrere Bücher gewidmet.2 Nun bin ich inzwischen achtundsiebzig Jahre alt – ein Alter, in dem ich öfter als früher auf das Leben zurückblicke, das hinter mir liegt, aber gleichzeitig auch erwartungsvoll auf das Leben nach dem Tod vorausblicke, das vor mir steht. Wenn ich auf die Jahre zurückschaue, die hinter mir liegen, erfüllt mich das mit großer Dankbarkeit, denn ich stelle fest, dass ich über die Jahre einen wachsenden Einblick in die beiden großen Lebensthemen gewinnen durfte, die mich schon als Kind beschäftigt haben, und die ich damals überhaupt nicht verstand.
Aus dieser Dankbarkeit heraus möchte ich in diesem Buch die Erkenntnisse niederschreiben, die ich in diesem Leben über die Mysterien von Jesus Christus gewinnen durfte. Ich fühle mich durch die Erkenntnisse, die mir geschenkt wurden, bereichert – und ich möchte diesen Reichtum nur zu gerne mit jedem teilen, der dafür offen ist.
Vor vielen Jahren war ich auf der Insel Patmos, wo der Apostel Johannes das letzte Buch der Bibel geschrieben hat – die „Offenbarung des Johannes“. Während meines Aufenthalts dort hatte ich einen Traum, der mich bis heute nicht losgelassen hat: Ich saß in einer Kirche unter vielen Menschen, die den Worten des Pfarrers lauschten. Auf einmal, ganz unerwartet, erteilte mir der Pfarrer das Wort. Da sagte ich ganz spontan, ohne darüber nachzudenken: „Christus ist in den Kirchen gestorben. Er lebt dort nicht mehr.“ Als ich das sagte, liefen mir Tränen über das Gesicht. Wieder sagte ich: „Christus ist tot, er ist in den Kirchen noch einmal gestorben.“ Der Pfarrer schaute mich freundlich an. Er sagte nichts. Aber ich las Anerkennung in seinem Gesicht – und Verständnis. Dann bin ich aufgewacht. Die Tränen auf meinem Gesicht waren noch feucht.3
Es war ein Traum, der mich tief berührt hat und genau das ausdrückte, was ich tief in meinem Inneren fühlte: Eine tiefe Trauer darüber, dass immer mehr Menschen (innerhalb, aber auch außerhalb der Kirchen) die innere Verbindung zu Christus verlieren. Doch zugleich gab mir dieser Traum auch einen starken Impuls, anderen von Christus in einer Weise zu erzählen, die sie vielleicht doch berühren und überzeugen könnte. Dieser Impuls sowie meine Beobachtung, dass in der heutigen Zeit immer mehr Menschen die innere Verbindung zu Christus verlieren, haben mich dazu veranlasst, dieses Buch zu schreiben.
Vieles in meinem Leben verdanke ich anderen: Carl Gustav Jung, Swedenborg, den Mystikern, den Nag-Hammadi-Schriften und so weiter: Wir alle stützen uns stets auf das Werk anderer. Am meisten verdanke ich aber Rudolf Steiner, dessen Bücher ich erst in höherem Alter zu lesen begann – ich musste nämlich erst meine eigenen Gedanken und Erkenntnisse entwickeln, bevor ich mich mit dem großen Meister unserer Zeit verbinden durfte, der uns so viele Einblicke in das esoterische Christentum geschenkt hat. Insbesondere ihm gelten meine Liebe und meine Dankbarkeit.
Glauben Sie im Übrigen bitte nicht, dass ich die Erkenntnisse von Rudolf Steiner blind übernommen habe: Das hätte weder er selbst gewollt noch entspricht es meinem Naturell. Aber das, was meine Seele bei der Lektüre sofort gesagt hat: „Ja, so ist es, ich spüre, dass das wahr ist“, habe ich in mir aufgesogen und von da an als Wissen meiner Seele mit mir getragen.
Was mich betrifft, so müssen Sie nichts von dem glauben, was in diesem Buch steht – die Zeit des Glaubens an die Autorität eines anderen ist definitiv vorbei. Doch vielleicht finden sich darunter ja Erkenntnisse oder Themen, die Sie berühren und bei welchen Ihre Seele sagt: „Ja, ich spüre, dass das die Wahrheit sein muss.“ Nehmen Sie diese Erkenntnisse dann mit auf Ihren Weg und lassen Sie zu, dass diese Ihr Leben bereichern. Wenn Sie als Leser/in so damit umgehen, gibt mir das den Freiraum, ohne Wenn und Aber zu schreiben, wie ich diese Dinge persönlich sehe, und worin für mich die Mysterien Jesu Christi bestehen.
Warum ich mich in meinem Leben so intensiv mit diesem Thema beschäftigt habe, hat auch damit zu tun, dass ich einmal den Christus sehen durfte – ein einziges Mal. Das war tiefgreifend und anfangs auch verwirrend. Ich habe viele Jahre gebraucht, um diese Erfahrung zu verarbeiten. Es hat auch lange gedauert, bis ich herausgefunden habe, wie solche Erfahrungen denn eigentlich möglich sind – und wie ich sie verstehen kann. Warum begegneten sie mir, und was wollten sie mir sagen?
Aus diesen Jahren des Nachdenkens und aus den Erkenntnissen, die ich währenddessen gewonnen habe, ist dieses Buch entstanden.
Jeder Mensch, der stirbt und eine innere Verbindung zu Christus hat, wird ihn, den großen Wächter an der Schwelle, sehen dürfen, wenn er stirbt; denn dort, an der Schwelle des Todes, ist es Christus, der uns mit Liebe, mit Verständnis für die vielen Fehler, die wir gemacht haben, und mit Erkenntnis umhüllt. Er ist es, der uns empfängt und uns mit seiner allumfassenden Liebe von den geistigen Wunden heilt, die wir auf Erden erlitten haben.
Zu den tiefgreifendsten Erfahrungen meines Lebens gehört folgende: Harm, mein Ehemann, durfte – als er Weihnachten 2018 das Tor des Todes durchschritt – sehen, dass Christus auf ihn wartete. Er wurde sein Begleiter in dem neuen Leben, das dann für ihn begonnen hat. Harm hat mich an dieser Erfahrung teilhaben lassen. Harm war auch derjenige, der mir den Titel für dieses Buch mit auf den Weg gab: „Jesus Christus – Die Mysterien des esoterischen Christentums“. Wie ich bereits festgestellt habe – die Zeit des Glaubens ist vorbei. Die Engel, die früheren Generationen noch zum Glauben verhalfen, haben sich etwas mehr zurückgezogen, um uns Menschen das große Geschenk der Freiheit zu machen. Das hat zur Folge, dass wir die Mysterien Jesu Christi nicht mehr einfach nur glauben – wir müssen sie nun auch verstehen können. Wir brauchen in der heutigen Zeit Wissen, um uns mit den Mysterien Jesu Christi verbinden zu können.
Möge Ihnen, liebe Leserin/lieber Leser, dieses Buch als kleiner Wegweiser auf dem Pfad zu diesem Wissen dienen.
Warum, so fragte ich mich schon als Kind, gab man ihm drei verschiedene Namen: „Jesus“, „Christus“ und „Jesus Christus“? Ich spürte, dass mit diesen verschiedenen Namen große Geheimnisse verbunden waren. Aber niemand konnte mir sagen, welche Geheimnisse das waren. Der Pfarrer in der Kirche wusste es anscheinend auch nicht – bei allem, was er am Sonntag von der Kanzel aus über den Christus sagte, hatte ich als Kind das Gefühl: „So ist es nicht, es ist anders.“ Aber wie es wirklich war, das wiederum wusste ich natürlich auch nicht.
Jahre später konnten mir auch die gelehrten Theologie-Professoren während meines Theologie-Studiums diese Geheimnisse ebenso wenig verraten. Ich hatte mir davon viel erhofft und erwartet. Auch bei ihnen hatte ich immer wieder das Gefühl: „Irgendwie stimmt das nicht – es ist tiefer, anders.“ Aber wie war es denn wirklich? Ich wusste es nicht.
Nach meinem Theologie-Studium habe ich die Mystiker entdeckt: Jakob Böhme, Johannes vom Kreuz, Hildegard von Bingen, Meister Eckhart, Johannes Tauler und so viele andere des Mittelalters, aber auch Persönlichkeiten wie Emanuel Swedenborg, den schwedischen Wissenschaftler und Mystiker aus dem 18. Jahrhundert. Wie habe ich ihre Bilder und Erkenntnisse genossen! Bei ihnen spürte ich ein tieferes Wissen – als ob sie irgendwie mit den großen Geheimnissen Jesu Christi vertraut wären. Darüber hinaus spürte ich bei den meisten von ihnen eine echte, lebendige Verbindung zur geistigen Welt. Dadurch wurde mir klar, dass ihre Erkenntnisse auf irgendeine Weise jener Welt entsprangen.
Um uns eine Vorstellung von ihrer Denkweise zu machen, müssen wir uns nur einmal mit dem berühmten polnischen Arzt und Mystiker Angelus Silesius befassen. Er lebte im 17. Jahrhundert und wurde mit folgendem Ausspruch sehr berühmt: „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir – du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.“ Aber auch der folgende schöne Text von Meister Eckhart ist sehr aufschlussreich: „Wer also Licht finden will und Unterscheidung aller Wahrheit, der warte auf diese Geburt in sich und im Inneren und nehme ihrer wahr: So werden alle Kräfte und der äußere Mensch erleuchtet. Denn so, wie Gott das Innere mit der Wahrheit berührt hat, so wirft sich das Licht in die Kräfte, und der Mensch versteht alsdann mehr, als ihn jemand lehren könnte.“ 4
Wie diese Zitate deutlich machen, zeigen uns die Mystiker den Weg nach innen, zu unserem eigenen Herzen. Unser Herz ist der Ort, an dem der Christus geboren werden möchte. Theologen hingegen verwiesen meist nach außen: Auf die Bibel, die Kirchenväter oder die Dogmatik. Man könnte auch sagen, dass die Mystiker aus ihrer eigenen Erfahrung und Wahrnehmung sprachen, die Theologen hingegen hauptsächlich aus ihrem (begrenzten, rationalen) Denken und Glauben heraus. Aber als ich mich dann zwischen diesen beiden entscheiden musste – und offensichtlich gab es keine andere Wahl als die zwischen den beiden – sprach mich der Weg der Mystiker mehr an. Was sie sagten, berührte mich, und das war bei den Texten der Theologen selten der Fall.
So fand ich bei den Mystikern eine Lebenswelt, die mich ansprach und mir irgendwie vertraut war. Darüber hinaus spürte ich bei ihnen auch eine tiefe Verbundenheit zum Mysterium Christi. In jedem Wort, das sie schrieben oder sprachen, war diese Verbundenheit spürbar, und sie drückten sie mit einer tiefen Ehrfurcht aus. Insbesondere diese Ehrfurcht und die Tiefsinnigkeit ihrer Gedanken berührten mich immer wieder und nährten meine Seele.
Es gab jedoch ein „Aber“: Die Mystiker präsentierten die Geheimnisse Christi nicht auf eine logische, kohärente und verständliche Weise, und damit nicht in der Art, wie der moderne Mensch nun einmal denkt. Es war mehr wie eine Flut von Metaphern und tiefgründigen Gedanken, die mir immer den Eindruck von Wasser vermittelten, das aus einer verborgenen Quelle sprudelt. Doch in dieser Vielzahl von Bildern und Gedanken konnte ich kaum einen richtigen Zusammenhang in Bezug auf das Thema finden, das mich so sehr beschäftigte, nämlich: „Wer ist Jesus Christus?“ Doch weil ich nun einmal ein Mensch dieser Zeit bin, wollte ich die Mysterien Christi so gern auf eine klare und logische Weise verstehen.
Bald entdeckte ich auch die Nag-Hammadi-Schriften. Es handelt sich um Evangelien und andere christliche Schriften, die 1945 in Ägypten gefunden wurden und aus den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung stammen. Obwohl diese Schriften nicht in die Bibel aufgenommen wurden, spiegeln sie doch das tiefere Wissen der christlichen Eingeweihten in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung wider. Von diesen Schriften ist das Thomas-Evangelium inzwischen die berühmteste Schrift geworden: Eine Sammlung von kurzen Sprüchen oder Texten, die einen tiefen Einblick in die menschliche Seele verraten. Die Erkenntnisse, die Psychiater wie Freud, Jung, Adler und ganz viele andere Wissenschaftler erst Jahrhunderte später entdeckten – die Grundlagen der Psychologie – sind hier bereits zu finden, allerdings eben in Bildersprache. Eines der berühmtesten sogenannten Logien (Sprüche) aus dem Thomas-Evangelium lautet:
„Jesus sagte:
‚Wer das All erkennt,
sich aber selbst verfehlt,
verfehlt das Ganze.‘“5
Wie in allen Nag-Hammadi-Schriften wird auch in diesem Text ausdrücklich betont, wie wichtig es ist, den Weg nach innen zu gehen: Selbsterkenntnis bildet die Grundlage allen Wissens. Wer sich selbst nicht kennt, wird die Welt daher nie (wirklich) verstehen können – er kennt die Dinge nur von außen. Deshalb stand über dem Eingangstor des Tempels in Delphi geschrieben: „Gnothi seauton“, was so viel bedeutet wie „Erkenne dich selbst“. Das Heiligtum stand in Griechenland (eben in Delphi) und stammt aus vorchristlicher Zeit. Die Besucher des Heiligtums bekamen den Rat mit auf den Weg: „Alles (wahre) Wissen beginnt mit der Selbsterkenntnis.“
Keine Frage: Dies ist eine wichtige Erkenntnis, gerade auch für unsere heutige Zeit. Sie bedeutet, dass eine Wissenschaft, die sich nur auf das Objekt (außerhalb ihrer selbst) und nicht auch auf sich selbst konzentriert, niemals in der Lage sein wird, die Essenz des Objektes zu verstehen. Wir haben es dann mit einer Wissenschaft zu tun, die sich nur auf das (materielle) Äußere konzentriert, die Essenz, den Geist, jedoch ignoriert. Mit anderen Worten: Man erhält keine Verbindung zum Wesen des Objekts, sondern lediglich zu seinem Äußeren.
Je länger ich über die Texte aus den Nag-Hammadi-Schriften sinnierte, desto mehr begann ich ihre große Bedeutung zu erkennen. Gerade für unsere heutige Zeit, die sich vor allem auf die Materie konzentriert, den Geist jedoch vergisst, sind sie von unschätzbarer Bedeutung.
Die Nag-Hammadi-Schriften haben uns einen tieferen Einblick in die Ursprünge und Anfänge des Christentums geschenkt.6 In der Tat haben diese Schriften in der Theologie eine Revolution ausgelöst: Sie zeigen, dass es in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung in den Kreisen der Eingeweihten eine ganz andere, tiefsinnigere und tiefgründigere Art gab, über die Mysterien Christi nachzudenken, als die Theologie es seit Jahrhunderten kannte und erkannte: In ihnen werden esoterische Geheimnisse offenbart. Zum Beispiel die Geheimnisse, die mit dem Jesuskind verbunden sind, oder die Geheimnisse, die der Auferstehung von Jesus Christus zugrunde liegen. Das sind Schriften, in welchen ich immer noch regelmäßig lese und Inspiration finde: Allein schon der Geist, der aus diesen Schriften spricht, tut meiner Seele spürbar gut. Aber auch bei diesen Schriften stieß ich auf das gleiche Problem wie bei den Mystikern: Sie enthalten eine Vielzahl von beeindruckenden Bildern und tiefgehende Erkenntnisse, aber sie geben keinen zusammenhängenden und verständlichen Einblick in die Mysterien Christi.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Schriften der Mystiker und die Nag-Hammadi-Schriften über viele Jahre hinweg meine spirituelle Nahrung gewesen sind – ich habe ihnen viel zu verdanken. Doch tief in meiner Seele nagte eine Sehnsucht nach mehr: „Wo könnte ich einen zusammenhängenden Einblick in die Mysterien Jesu Christi finden, der auch mein Denken befriedigen und mir die Erkenntnis schenken würde, nach der ich schon mein ganzes Leben lang gesucht habe?“ Mit den Jahren schwand allmählich die Hoffnung, dass ich jemals eine Antwort auf diese Frage finden würde.
In meinem Buch über Rudolf Steiner habe ich bereits erwähnt, dass ich vor fünfundzwanzig Jahren auf einem Flohmarkt zufällig auf ein paar Bücher von Rudolf Steiner stieß.7 Vier Bücher, um genau zu sein – und jedes davon enthielt eine Auslegung zu einem der vier Evangelien der Bibel. Ich kaufte sie für ein Butterbrot – einen Gulden pro Stück (das war noch zu der Zeit vor der Einführung des Euro). Aber so preisgünstig sie auch waren, so wertvoll sind sie für mich geworden. Weil ich eine tiefe Liebe zum Johannes-Evangelium empfand, zugleich jedoch auch merkte, dass es mir nicht gelang, in die tieferen Schichten durchzudringen, zur verborgenen Botschaft, die in diesem Evangelium enthalten war, hatte ich schon etliche Kommentare gelesen. Aber nicht ein einziges dieser Bücher hat mich wirklich weitergebracht.
Als ich jedoch nach der Rückkehr vom Flohmarkt begann, Rudolf Steiners Auslegung des Johannes-Evangeliums zu lesen, spürte ich eine wachsende Begeisterung in mir: „Das ist die Auslegung und Erklärung, nach der ich mein ganzes Leben lang gesucht habe!“ Ich las den ganzen Tag, und obwohl es kein leichter Stoff ist, habe ich bis tief in die Nacht weitergemacht. Beim Lesen bekam ich vor Aufregung ganz rote Ohren, und in mir kam eine immense Freude auf – hier fand ich die klare, logische Sprache, mit der die großen Geheimnisse Jesu Christi nacheinander, aber zugleich auch als ein zusammenhängendes Ganzes beschrieben wurden. So habe ich jenen Tag in meiner Erinnerung in Gold eingerahmt.
Seitdem habe ich begonnen, auch andere Bücher von Rudolf Steiner zu lesen. Zum Beispiel das Buch, das den Titel „Das fünfte Evangelium“ erhalten hat. Darin schildert Rudolf Steiner die Ereignisse im Leben Jesu Christi aus der Sicht seiner Jünger: Aus dem heraus, was sie damals fühlten und erlebten, als sie mit Jesus Christus, ihrem Meister, zusammen waren.8 Das Buch enthält fünf Vorträge, die Rudolf Steiner 1913 in Oslo (das damals noch Christiania bzw. Kristiania hieß) gehalten hatte. In jenen Vorträgen beschreibt er ein großes Mysterium aus dem Leben von Jesus Christus nach dem anderen. Aber woher hatte er diese Erkenntnisse?
Er fand sie im „Weltgedächtnis“, das „Akasha-Chronik“ genannt wird. Doch was müssen wir uns unter diesem Begriff vorstellen? Ed Taylor schreibt darüber: „Jeder Mensch hat jeden Tag Tausende von Erfahrungen, Gedanken und Eindrücken: Was passiert eigentlich damit? Seit Langem gibt es die Vorstellung, dass all diese Ereignisse in einem ‚fünften Element‘ abgespeichert werden, das in der hinduistischen Tradition ‚Äther‘ und bei Jung ‚das kollektive Unbewusste‘ genannt wird. Und so, wie jeder Mensch lernen kann, niedergeschriebene Erinnerungen zu lesen, gibt es auch Möglichkeiten, die in der Akasha-Chronik eingetragenen Ereignisse zu lesen.“9
Rudolf Steiner besaß die einzigartige und bislang nicht gekannte Fähigkeit, in der Akasha-Chronik zu lesen – die in ferner Zukunft jeder Mensch beherrschen wird, wenn er will. Das heißt, er war imstande, sich mit den Gefühlen der Menschen aus früheren Zeiten zu verbinden und sie zu nutzen, um Einblicke in die Ereignisse zu gewinnen, die diesen Gefühlen zugrunde lagen. Dies war jedoch nicht einfach. Rudolf Steiner selbst sagt dazu: „Ich erlebte viele Schwierigkeiten und musste mich sehr anstrengen, als es darum ging, aus der Akasha-Chronik Bilder zu entnehmen, die mit den Mysterien des Christentums verbunden waren.“10
Rudolf Steiner hatte bereits zuvor etwas über die Geheimnisse Jesu Christi erzählt. Doch es war das erste Mal, dass er so ausführlich und so tiefgründig über die Mysterien Jesu Christi berichtete, wie er sie in der Akasha-Chronik wahrgenommen hatte. Wie ich oben bereits angedeutet habe, tat er dies aus den Gefühlen und Erfahrungen der Apostel Jesu Christi heraus. So markieren diese Vorträge aus dem Jahr 1913 in Oslo einen Wendepunkt in der Geschichte: Nie zuvor wurde uns auf so klare Weise Einblick in die Mysterien Christi gewährt – und das auf eine Weise, die für den Menschen von heute nachvollziehbar und verständlich ist.
Andrej Belyj – ein Schüler Rudolf Steiners – war knapp dreiunddreißig Jahre alt, als er diese besonderen Vorträge in Oslo besuchte. Er war, wie er selbst sagte, tief bewegt. In seinem Buch, in dem er seine Erinnerungen an Rudolf Steiner beschreibt, erwähnt er, dass dieser stets gut auf einen Vortrag vorbereitet war und das Material, das er vortragen wollte, immer sehr geordnet und gut durchdacht hatte. Nicht so hier, in Oslo – diesmal lief es beim ersten Vortrag dieser speziellen Veranstaltungsreihe ganz anders. Belyj erzählt: „Er kam einfach (im wahrsten Sinne des Wortes) hereingeflogen. Eine Art – verzeihen Sie mir die Ausdrucksweise – verwirrte Person mit einem zerzausten Haarschopf (sein Haar stand nach allen Seiten hin ganz wirr ab) sprang auf die Bühne.“
Die Anwesenden waren schockiert, erstaunt und beunruhigt. Belyj fährt fort: „Er machte den Eindruck eines Mannes, der mit enormer Anstrengung den Sinai erklommen, dort bestimmte Dinge gesehen hatte und plötzlich über etwas schockiert war, was er nicht erwartet hatte. (…) Erst als er das Rednerpult bestieg, begann er darüber nachzudenken, wie er ‚das‘ vermitteln könnte: Erstmals richtete er dann seinen Blick auf das Material, das noch nicht für den Vortrag arrangiert war.“11
Bei jenen denkwürdigen Vorträgen in Oslo im Jahre 1913 kamen also die Mysterien Christi damals zum ersten Mal in einer klaren, logischen und zusammenhängenden Weise, die dem modernen Menschen entspricht, an die Öffentlichkeit. Deshalb bilden diese Vorträge einen Meilenstein in der Geschichte der Menschheit.
Später entdeckten Forscher, dass durch Rudolf Steiners Beschreibungen der Mysterien Jesu Christi viele rätselhafte Aussagen aus den Schriftrollen vom Toten Meer (Schriften der Essener aus dem ersten und zweiten Jahrhundert vor Christus) und den Nag-Hammadi-Schriften verständlich wurden. Die Bedeutung vieler dieser Aussagen war bis dahin verborgen geblieben. Doch nun wurde dank Rudolf Steiner ein Einblick in den tieferen Sinn vieler rätselhafter Formulierungen möglich.
Zum Beispiel sprechen die Schriftrollen vom Toten Meer vom Kommen zweier Messiasse – eines königlichen Messias und eines priesterlichen Messias. Das war eine rätselhafte Aussage, denn wir kennen ja nur einen Messias aus der Bibel. Dieser Text wurde somit erst verständlich, als die Forscher erkannten, dass Rudolf Steiner ihnen gesagt hatte, dass vor 2.000 Jahren nicht nur ein Jesuskind, sondern zwei Jesuskinder gelebt hatten: Ein königlicher Jesus und ein priesterlicher Jesus.12 In Kapitel 11 erzähle ich mehr über dieses Mysterium.
Auch unverständliche Bibeltexte wurden plötzlich nachvollziehbar. Die großen Unterschiede zwischen den vier Evangelien zum Beispiel oder die Wundergeschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel aus dem Lukas-Evangelium. Je mehr Forscher die Erkenntnisse Rudolf Steiners mit alten Überlieferungen verglichen, desto öfter kam es vor, dass plötzlich ein neues Licht auf diese alten Überlieferungen fiel. Und dieses neue Licht wurde der Menschheit zum ersten Mal 1913 in Oslo in einer so tiefgreifenden und umfassenden Weise geschenkt.
Sind die Erkenntnisse, die Rudolf Steiner uns geschenkt hat, neu? Ja und nein. Tatsächlich stellen seine Erkenntnisse eine neue Form des jahrhundertealten Urchristentums dar – das spirituelle oder esoterische Christentum. Esoterisch bedeutet verborgen: Es handelt sich um Erkenntnisse, die den Eingeweihten bereits bekannt waren und über Jahrhunderte hinweg im inneren Kreis weitergegeben wurden. Rudolf Steiner machte diese Geheimnisse öffentlich und schenkte sie uns in einer völlig neuen Form: Logisch, klar durchdacht und damit in einer Fassung, die dem modernen Menschen entspricht.