Meinen Großeltern und meinem Vater Rüdiger
in liebevollem Gedenken
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© Meißner, Dirk
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Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7504-7912-8
„Einem jeden, der den geistigen Kinderschuhen entwächst, dämmert irgendwann einmal der Verdacht, dass das Leben keine Farce ist, ja nicht einmal eine elegante Komödie, sondern dass es im Gegenteil aus den tiefsten tragischen Tiefen des essentiellen Mangels erblüht und Frucht trägt jenes Mangels, in den die Wurzeln seines Gegenstands versenkt sind.“
William James
Dieser Roman steht in einem historischen Kontext, er rankt sich um die Geschichte des Lebensborn e.V., einer Einrichtung der SS zur Zeit des Nationalsozialismus.
In den Häusern des Vereins fanden schwangere Frauen, die nicht verheiratet waren, Aufnahme zur Entbindung und Betreuung ihrer neugeborenen Kinder. Die Eltern mussten Abstammungsnachweise und Gesundheitszeugnisse erbringen. Denn die Fürsorge galt ausschließlich Müttern „guten Blutes“. Das vom Reichsführer SS Heinrich Himmler überwachte Programm war Bestandteil der nationalsozialistischen Rasse- und Bevölkerungspolitik, ein Instrument, das auf höhere Geburtenraten und Senkung der Schwangerschaftsabbrüche abzielte. Der Lebensborn mit seinen rassischen Auswahl- und Ausschlusskriterien ist daher nur die andere Seite jener Vernichtungsstrategie, die sich gegen „minderwertige Rassen“ richtete.
Über den Lebensborn wurden nach dem Zweiten Weltkrieg viele Halb- und Unwahrheiten verbreitet. Am schlimmsten wog die Behauptung, die Heime des Lebensborn seien „Zuchtanstalten“ der SS zur Zeugung arischen Nachwuchses mit nationalsozialistisch gesinnten, deutschen Frauen gewesen. Nach allem, was über die Gräueltaten der SS während des Krieges bekannt geworden war, passte das gut ins Bild.
Historiker weisen auf die Unhaltbarkeit jener Behauptungen hin, weil sie falsch sind und mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben.
Leider hielt sich die These von SS-Offizieren und blonden Mägden, die deutschstämmige Kinder wie am Fließband produzierten, noch lange Zeit in der Welt, obwohl sie längst widerlegt war.
Eine unrühmliche Rolle spielte in diesem Zusammenhang das 1958 in München erschienene Buch “Lebensborn. Roman aus Deutschlands dunkler Zeit“ von Will Berthold, das als „Tatsachen-Roman“ eine weite, auch internationale Verbreitung fand. Auf der ersten Seite bezog sich der Autor sogar auf „genaue Dokumentation durch Akten des Militärtribunals in Nürnberg“, „Aussagen von Lebensborn-Mitgliedern und Müttern, die mit dem Lebensborn in Berührung gekommen (waren)“, weiterhin auf „Erklärungen von Zeugen, die aus persönlichem Augenschein die Rassenpolitik des Dritten Reiches kannten.“
Eine als Wahrheit verpackte und verbreitete Fiktion ist eine Lüge. Mehr muss man dazu nicht sagen.
Der deutsche Film legte 1960/61 im gleichen Sound nach. Und auch die Presse nahm die Geschichte von den „Zuchtanstalten“ der SS lange Zeit für wahr.
Für Betroffene, die in diesen Heimen außereheliche Kinder zur Welt gebracht hatten, und für die Kinder selbst, die nach vorherrschender Moralauffassung bis in die frühen Jahre der Nachkriegsgeschichte hinein sowieso schon wegen ihrer unehelichen Herkunft stigmatisiert waren, begann damit ein sich über Jahrzehnte wälzendes, historisches Trauma. Es führte in vielen Fällen dazu oder lieferte eine zusätzliche Begründung dafür, dass Eltern ihren Kindern die Wahrheit über ihre Väter und die Umstände ihrer Geburt verschwiegen. Die Folgen dieses Verhaltens reichen zum Teil noch bis in die Enkelgeneration.
Nach Verunglimpfungen in der Öffentlichkeit und Schweigen in den betroffenen Familien begann dann allmählich doch die ehrliche Auseinandersetzung zwischen Lebensborn-Eltern und ihren Kindern. Unbequeme Tatsachen kamen auf den Tisch, Familiengeschichten wurden umgeschrieben. Da waren Unwahrheiten und Täuschungen beiseite zu räumen, Geheimnisse zwischen Eltern und Kindern aufzudecken. Die Story von den „Zuchtanstalten“ klebte währenddessen wie ein zusätzlicher Fluch an den Beteiligten.
Das war sicher noch nicht die Zeit für einen Roman mit fiktiven Scharnieren. Die Betroffenen, die sich zu Recht gegen die Verzerrung ihrer Geschichte durch sensationsheischende Spekulationen wehrten, hatten wahrlich genug von erfundenen Geschichten, die bisher ausschließlich auf ihre Kosten gegangen waren. Es musste erst einmal die Wahrheit ohne Hinzudichtung ans Licht. In der Literatur erschienen einige Bücher mit Berichten über Schicksale von Betroffenen und über ihren teils schwierigen Umgang mit der Wahrheit.
Für die Enkelgeneration des Lebensborn eröffnet sich nun aus größerer zeitlicher und innerer Distanz zum Thema ein neuer und unbefangenerer Blick auf die Ereignisse, die zwischen 1935 und 1945 stattgefunden haben.
Während die einen mit mehr oder weniger Mühsal aus dem Schatten ihrer Vergangenheit traten, stellen sich nun die Enkel mit Neugier und frischer Phantasie die spannende und aktuelle Frage: Was hätte die permanente und subtile Indoktrination im Dritten Reich mit mir persönlich gemacht?
Ein fiktives Experiment zur Beantwortung dieser Frage, die die Vergangenheit an uns stellt, die Erfindung einer Geschichte um die Ereignisse im Lebensborn also, scheint wieder möglich zu sein. Vielleicht können sich die Enkel manchmal besser als ihre Eltern in die Rollen, die die Großeltern seinerzeit annahmen, hineinversetzen, und das Ergebnis könnte eine sehr wichtige Erkenntnis sein, dass nämlich geschicktes Verführen und beharrliches Lügen eine Gesellschaft in den Abgrund reißt, nicht weniger als die Unterwerfung eines Gemeinwesens mit roher und augenscheinlicher Gewalt.
Außerdem gehört die Auseinandersetzung mit ethischen Maximen, die ohne Relativierungen einzuhalten sind, für jede Generation zur gesellschaftlichen und persönlichen Hygiene. Dieser Roman im Format einer literarischen Fiktion möchte dazu einen kleinen Beitrag leisten.
Seine Handlung ist in weiten Teilen frei erfunden. Es handelt sich ausdrücklich nicht um einen „Tatsachen-Roman“. Aber der Autor hangelt sich an historischen Tatsachen entlang und möchte wahrhaftig bleiben. Vor allem die jungen Mütter in den Heimen des Lebensborn sollen ein Antlitz und eine Sprache erhalten, die sie uns unter den Umständen und Bedingungen ihrer Zeit zeigen und menschlich verständlich machen.
Es gibt Gründe, die dem gewählten Format eines Romans verhaftet sind, hier und da etwas zu übertreiben, zu überzeichnen, auch hinzuzudichten, was in der Realität wohl unwahrscheinlich oder nicht möglich gewesen war. Der Text wird selbst an geeigneter Stelle, manchmal mit Augenzwinkern, dazu Stellung nehmen.
Das beschriebene Haus am See in Erweiterung des Heim Pommern hat es zum Beispiel nicht gegeben. Die Verschleppung polnischer Kinder in dieses Heim ist jedoch eine hinreichend belegte Tatsache in der Geschichte des Lebensborn.
Gertrud stieg in Schivelbein aus dem Zug. Der goldene Herbst rettete sich in einen klaren Novembertag und atmete aus. Die aufgeheizte Lokomotive lärmte und barst beinahe vor Kraft. Zischender Dampf übertönte den Lärm, den die Reisenden beim Rufen, Kofferschleppen und Türeschließen auf dem Westpommerschen Provinzbahnsteig machten. Gertrud nahm Fühlung mit ihrer Umgebung auf. Geschäftig liefen Leute daher. Ihr Blick hakte sich an zwei Kindern fest, die sich beim Versteckspielen neckten.
Als einem Fräulein von Welt hatte sich ihr ein Mitreisender erboten, den schweren Koffer aus dem Zug zu heben. Er tat das beflissen und sehr geschickt. Gertrud bedankte sich mit einem Lächeln und reichte zum Abschied die Fingerspitzen ihrer rechten Hand. Ohne es zu merken, der Herr quittierte es mit einer leichten Verbeugung, übte sie sich als vornehme Dame. Sie war so gut wie angekommen. Die Fahrt endete abrupt wegen Bauarbeiten auf einer Nebenstrecke zum Ziel. Deshalb hatte man ihr rechtzeitig mitgeteilt, dass man sie am Bahnsteig in Schivelbein abholen würde. Sie besann sich einen Moment und sah sich nach dem Abholer um, der sie nach Bad Polzin bringen sollte.
Die Spuren ihres Träumens und Nachdenkens lagen noch wie eine Verklärung auf ihrem Gesicht.
Sie hatte eine beschleunigte und anstrengende Lebensreise hinter sich und die letzten Tage nach ihrem zwanzigsten Geburtstag in diesem Zug nach Irgendwo verbracht, nur um sich zu erinnern und abzuwägen, während Dörfer, Städte und Landschaften am Abteilfenster vorüberflogen. Dabei kam es ihr auf jedem der zahllosen Bahnhöfe so vor, als würde immer wieder etwas aus ihrem Leben, das einmal dazugehört hatte, verfertigt und abgeladen, gegen neue Gepäckstücke vertauscht. Sie ließ zweifellos etwas von ihrer Jugend auf dieser Schicksalsreise 1940 nach Pommern zurück. Ihr altes Leben wollte sich auflösen und ein neues beginnen. Das Ziel ihrer Reise war ein beschauliches und friedliches Land, unsagbar weit, malerisch still und deswegen anders als ihre Stadtheimat im Westen. Nur der Koffer mit dem Nötigsten fuhr als vertrauter Reisebegleiter mit. Gertrud tauchte in Melancholie. Fallendes Laub, hatte sie unterwegs gedacht, überall Laub. Die Bäume entkleideten sich und zeigten sich in ihrer wahren Gestalt. Sie mochte diese unbekleidete Ehrlichkeit der Natur. Auch die Bäume waren in Wirklichkeit nackt.
Wie einer den Fuß auf den Boden setzt, eine neue Heimat begründet, und sei es am Anfang nur eine Bahnsteigkante, verrät viel über seinen Charakter. Dieser schlanke Fuß berührte den Bahnsteig in Westpommern ohne fremdelnde Scheu.
Gertruds Haltung, wie sie da ihren Koffer bewachte und ein paar Mal umkreiste, erschien tadellos, aufrecht, und machte sie sogar ein bisschen größer. Sie bewegte sich mit dem überzeugenden Körpergefühl einer Tänzerin, hoch erhobenen Hauptes, von schlanker, hochgewachsener und die Taille betonender Gestalt, eine durch und durch sportliche Figur. Den federnden Gang hatte sie ihr Fechtmeister vom Bund Deutscher Mädel in Dessau gelehrt, der das aussichtsreiche Talent eines Tages aber lieber unsittlich berührte, als es sportlich zu entfalten. Auch das war eine gefühlte Ewigkeit her, sie schüttelte es ab, und aus der Art ihres Gehens im Abfedern und Wiegen war eine elegante Gewohnheit geworden.
Gertruds geistiger Verklärungszustand umgab sie wie herbstlicher Nebel, der sich nur zäh auflösen wollte. Keiner sah der jungen Frau an, dass sie versonnen nachdachte.
Gertrud straffte den Faden ihrer Erinnerungen, den sie während der Zugfahrt abgespult hatte, mit einem energischen Ruck. Sie zog nun das trotzige Resümee: „Ich lasse mich nicht unterkriegen“.
Der Faden in die jüngste Vergangenheit, den sie am anderen Ende hielt, an der Bahnsteigkante in Pommern, spannte und dehnte sich immer noch, er drohte nicht abzureißen.
Hatten sie ihr nicht nach sorgfältiger Prüfung und merkwürdigen Vermessungen ihres Schädels sogar bescheinigt, sie gehöre, wie das Ungeborene unter ihrem Herzen, als Arierin reinsten Blutes zur deutschen Elite? Besonders wertvoll, hatte der Herr von der Kommission anerkennend bemerkt und das phantastische General-Kompliment, das sie nun einmal adelte und entzückte, schriftlich niedergelegt. Sie sei nun nicht nur Teil der Bewegung, Speerspitze, denn Gertrud war auch Mitglied der Nationalsozialistischen Partei, sondern mit Aufnahme in den Lebensborn erwählt, die Herrenrasse „aufzunorden“.
„Heilig soll uns sein jede Mutter guten Blutes!“ Jede, eine beliebige Mutter nicht, denn natürlich musste sie rassisch einwandfrei sein. Wer wollte es wagen, wenn es darauf ankam, eine so Erwählte, eine Heilige also, wegen der unehelichen Geburt ihres Kindes scheel anzusehen. Es war nach der Liaison mit Walter kein Wunschkind, gewiss war es das nicht, und die Kenntnis ihrer sogenannten Hoffnung, die erst einmal keine gute war, hatte sie in eine tiefe Verzweiflung gestürzt. Aber nun, da sie der Lebensborn auffing, diskret und organisiert, entschlossen und mit Respekt, so kam es ihr jedenfalls vor, nun könnte es doch noch ein Wunschkind, ein besonderes, werden.
Gertruds Ehre hieß Treue in ihrer, von vielen Volksgenossen als unehrenhaft bezeichneten Situation, da ihr so unerwartet, denn vom Lebensborn hatte sie bisher keine Ahnung, der Führer selbst die Hand zur Hilfe ausstreckte und sie in einem der vorbildlichen Mütterheime seiner Schutzstaffel vor den üblichen Anfeindungen schützte, denen sie sich als Mutter eines unehelichen Kindes überall ausgesetzt sah. Die Zuflucht beim Lebensborn war mehr als willkommen, da ihre Aussicht auf eine berufliche Anstellung, außerdem suchte sie eine Wohnung, derzeit mehr als hoffnungslos war. Die Leute dachten nicht gut über sie. Ganz ließ sich der Makel auch in ihren eigenen Vorstellungen nicht wegwischen. Dazu war nicht einmal Gertrud eigensinnig genug. Aber nach der Einweisung in eines der Heime des Lebensborn übertünchte sie ihre Zweifel mit einer beachtlichen Sicherheit im Auftreten und mit der Festigung ihrer Haltung zum Kind.
Sie fasste Entschlüsse für ihr weiteres Leben. Dem Kind unter ihrem Herzen wollte sie eine gute Mutter sein und sich dem Führer dankbar erweisen. Es war ein außergewöhnliches Jahr, in dem nach einem blitzartigen Streich des Führers Frankreich erobert und Gertrud, ohne es zu ahnen, mit seinem ausdrücklichen Segen schwanger geworden war.
Auf atemberaubende Weise wollte sich das erst vor einem reichlichen Jahr zertrümmerte Weltbild ihrer Familie, der bis zur Lächerlichkeit gepflegte Wunsch ihrer Eltern, etwas Besseres zu sein und einer vornehmeren Schicht anzugehören, wieder zusammenfügen und auf nationalsozialistische Weise heilen. Man konnte plötzlich des Blutes wegen etwas Besseres sein. Wie oft hatte sie der Vater ermahnt, „so etwas Gemeines macht man in unseren Kreisen nicht“, und Gertrud hatte schon früh begriffen, dass damit nicht die Schippe auf dem Kopf eines anderen im Buddelkasten gemeint war. Gemeinmachen bedeutete, gewöhnlich, ungebildet, volkstümlich, besitzlos und gleich zu sein. „Wir sind anders, Gertrud, immer ein bisschen besser und niemals gemein.“
Sie hatten immer noch eine Angestellte im Haus und einen Gärtner, als schon der Pleitegeier über dem Anwesen ihres Vaters, der einmal ein angesehener Arzt gewesen war, kreiste. Die Schulden türmten sich bis unter das Dach und drohten endlich darüber hinaus zu wachsen, weil die Ausgaben flott die Einnahmen überstiegen. Der Arzt konnte wegen seiner im Kriegsjahr 1918 zugezogenen Verletzungen schon längst nicht mehr praktizieren. Davon merkten die Nachbarn lange Zeit nichts. Denn von Neun bis Zwölf und von Drei bis Fünf zog sich der Vater, der im Krieg den rechten Arm und den größten Teil seines Augenlichts verloren hatte, in seine Praxis im Erdgeschoß zurück, wo er sich hinter zugehängten Fenstern langweilte, da er nichts zu tun hatte.
Gertruds Mutter spielte die Komödie gut gelaunt mit. Das Geld wurde erst knapp, als die Bank keins mehr zur Begleichung von Zinsen und Tilgungen zur Verfügung stellte. Ihre Rücklagen waren verbraucht. Nur Mutter tat so, jetzt erst recht, als ob das nicht störte. Auch zu Pellkartoffeln und Quark legte die Hausangestellte das Silberbesteck vor, das Tafelwasser servierten sie in Kristallkaraffen. Gertrud nahm standesgemäß, und weil es modern war, ein teures Medizinstudium in Leipzig auf. Das verursachte zusätzliche Kosten für Einschreibegebühren und ihren Unterhalt in der fremden Stadt. Sie musste das Studium abbrechen, bevor es richtig begann. Da wurde ihr die Situation um die Kulisse daheim auf dramatische Weise bewusst. Denn mit der Beendigung ihrer Ausbildung in Leipzig büßte sie auch den Platz im Fechtsportverein ein, wo sie gerade der Ehrgeiz zur Meisterschaft packte.
Sie las dem Vater, der nun fast erblindet war, täglich aus seinem Goethe vor. Daraus machten sie ein festes Ritual. Goethe hielt er in großen Ehren. Sie trug ihm oft etwas aus Faust und den Wahlverwandtschaften vor.
Wenn Gertrud gründlich darüber nachdachte, dämmerte sogar in Goethes Wahlverwandtschaften das Besondere, das schicksalhaft füreinander Bestimmte in der Natur herauf. Vom Blut keine Rede, aber von der geheimnisvollen und schicksalhaften Anziehungskraft gesetzmäßig füreinander bestimmter Elemente, während sich andere feindlich voneinander abstießen. Erstaunlich, wie der Dichter das auf die menschlichen Beziehungen übertrug. Von da war es ja nur noch ein kleiner Schritt, die passenden Köpfe zu vermessen und den Liebsten oder die Liebste im Schaufenster auszuwählen. Auch das tat Gertrud, wie das meiste ihrer gutbürgerlichen Bildung, in den unheimlich wabernden, weltanschaulichen Topf des Nationalsozialismus, der seit ihrem vierzehnten Lebensjahr zu Hause und in der Schule unablässig vor sich hin köchelte, um eines fernen Tages rassepolitisch überzukochen und zu explodieren.
Der Musikus Friedhelm bespielte nun für die Hälfte seines Salärs wöchentlich den häuslichen Flügel. Er war inzwischen außer Übung geraten und wiederholte sich mit seinem Repertoire. Bald stand nur noch eine berühmte Sonate von Beethoven auf dem Programm, bei der er sich an immer gleicher Stelle verspielte.
Gertruds Mutter legte selbst das Silberbesteck vor. Endlich hatten sie das Hauspersonal entlassen. Nichts konnte ihr Rollenspiel erschüttern. Sie ermunterte das erwachsene Kind, sich freiwillig zum weiblichen Arbeitsdienst zu melden, der nach Kriegsbeginn ohnehin obligatorisch war.
„Wir wollen gute Deutsche und Teil dieser großartigen Bewegung sein.“
Gertrud erwies sich als ausdauernd beim Arbeitsdienst und fähig, auch schwere und schmutzige, also gemeine Arbeiten in der Landwirtschaft zu erledigen. Sie tat es trotzig, fleißig und mit ganzer Kraft, auch stets ein bisschen besser als die anderen. Das steckte nun mal so in ihr drin.
Kurz darauf war der Vater gestorben und die Gläubiger stürmten das Haus. Als sie das Tafelsilber hinaustrugen, nahm sich Gertruds Mutter das Leben. Sie starb vornehm an einer Überdosis Tabletten im frisch bezogenen, hoch herrschaftlichen Bett. An Gertrud, die mittellos aus dem Arbeitsdienst zurückkehrte, hinterließ sie keine einzige Zeile. Gertrud musste das Haus mit den wenigen, von den Gläubigern für wertlos gehaltenen Gegenständen binnen Wochenfrist räumen.
Der Hausmeister aus dem zwanzig Kilometer entfernten Polzin, „Bad Polzin, bitte schön!“, sah prompt an Gertrud vorbei, an diesem hochgewachsenen und stolzen Fräulein mit aufgesteckten Haaren unter einem modischen Hut. Sie trug ein dezentes, figürlich hervorragend passendes Kleid aus braunem, wollenem Stoff. Es schien nicht zu gewagt, es sah sehr anständig aus. Dieses Kleid verschmolz mit einer auf Taille geschnittenen Jacke, die mit drei großen, perlmuttern glänzenden Knöpfen besetzt war.
Auf ihrem Gesicht mit der etwas hervorspringenden Nase lag der Anflug, nur ein Schimmer von Erhabenheit. Gertruds Augen standen ein wenig zu dicht und der schöne Mund formte sich schmal in ruhender Verfassung, so dass durchaus etwas männlich Herbes durchscheinen wollte, wenn sie die üppige Haartracht nach hinten schob, um ihr Gesicht freizumachen. Jedenfalls war da nichts, was man mit einem süßen Mädchengesicht, Kolleraugen und Kussmund verbindet.
Für ihr Alter war Gertrud eine Spur zu kühn.
Eben deshalb bemerkte sie der Abholer aus Bad Polzin nicht gleich und lief zweimal an ihr vorbei. Er hielt nach einem jungen und unglücklichen Ding Ausschau. Die sahen immer ein bisschen einfältig drein, wenn sie hier mit Schuldgefühlen und einem schlechten Gewissen ankamen.
Für den Hausmeister war das in Ordnung. Das gehörte sich so. Von unten wollten sie der Führer und sein Reichsführer SS im Lebensborn aufheben. So dachte der Hausmeister als Vater einer Tochter jedenfalls. Deswegen wirkte er zu Beginn etwas streng auf die gefallenen Fräuleins, die seit einiger Zeit korrekt mit Frau Soundso anzusprechen waren.
„Entschuldigen Sie bitte! Sind Sie der Abholer vom Lebensborn in Polzin?“
„Bad Polzin, bitte schön! Willkommen.“
Mehr Freundlichkeit war erst mal nicht drin. Ohne Konversation ratterte der Pferdewagen durch Schivelbein. Erst ab Ortsausgang stellte der Hausmeister ein paar Fragen. Er unterschied aus Anlass dieser Jungfernfahrt ins Heim, die nun im wörtlichen Sinne keine Jungfernfahrt war, zwischen den ängstlich Weinerlichen, deren Mittelungseifer sich überschlug, und den Verzagten, die an sich und der Welt verzweifelten und überhaupt nichts mitteilen wollten. Aus der Neuen auf dem Wagen wurde Helmut nicht schlau. Die fragte ihn ziemlich neugierig aus und lachte ohne Respekt über Sachen, die Helmut nicht komisch fand. Dann wirkte sie wieder teilnahmslos und in sich gekehrt, aber ohne den Kopf hängen zu lassen. Dieses Fräulein war ihm zu städtisch und zu modern.
„Vorläufig“, dachte Gertrud, während sie ein Wegstück mit Schlaglöchern passierten, „komme ich allein mit dem Kind klar.“ Es war anders nicht möglich. Walter, der Vater des Kindes, hatte ihr nichts vorgemacht. Kaum war jemand in ihrem Leben so ehrlich mit ihr gewesen. Dennoch hatte ihr Walter ein feierliches Versprechen gegeben, fest und auf sein Gewissen. Davon halte er, wie er sagte, immer noch mehr, als von der spießbürgerlichen Ehre. Er würde für ihr gemeinsames Kind einstehen und sorgen. Allerdings, glaubte er sogleich hinzufügen zu müssen, in Familie mit jener Frau, die er geheiratet hatte. Es offenbarten sich ihr bei diesem Gespräch gleichzeitig eine Sicherheit für das Kind und eine Zumutung für sich selbst. Walter redete nicht drum herum. Was er sagte, war das, was er meinte. Ein Herbstbaum ohne überflüssige Blätter.
Auf Walter konnte sie sich verlassen. Doch woher nahm sie ihre Zuversicht, diese Gewissheit, für die Lebenserfahrene nur ein mildes Lächeln übrig haben? Gertrud fühlte es. Sie besaß dafür eine Intuition, verfügte über einen Sinn, die Wahrhaftigkeit eines Versprechens wie die Bonität eines Wechsels zu prüfen. Darin täuschte sie sich nicht. Sie verließ sich darauf. Es war außer der Aufnahme im Lebensborn zur Zeit das einzige Kapital, ihre Versicherung gegen die Risiken eines einsamen Lebens. Sie hätte sonst, wie tausende Frauen auch, verbotene und gefährliche Wege einer Abtreibung in Erwägung ziehen müssen.
Der Hausmeister legte ihr noch anheim, den Hut beim Empfang durch die Oberschwester abzunehmen, als sie mit dem Gefährt auch schon in den Park bogen und das ehemalige Luisenbad, das nun ein Haus des Lebensborn war, immer mehr von sich preisgab, bis sie es endlich erreichten. Gertrud nahm den Hut mit Ehrfurcht in ihre Hand. So gediegen hatte sie es sich nicht vorgestellt.
Sie stieg vom Wagen und achtete darauf, dem Hausmeister beim Abladen behilflich zu sein. Jedenfalls bot sie es an, bevor Helmut das brummend allein übernahm. Es gelang ihr ein artiger Knicks mit dem Hut in der Hand.
Am Eingang zum Haupthaus, parterre unter einer säulengestützten Terrasse, empfing sie die Oberschwester, die jeden ihrer Schritte mit den Augen einer Sphinx überwachte. Neben ihr hielt sich eine andere Schwester abwartend in Stellung.
Die strenge Mitvierzigerin in NS-Schwesterntracht führte die Aufsicht über die Müttergemeinschaft im Heim Pommern. In der rassisch auserlesenen Herde waren ihr Schwarze und Weiße anvertraut, die Schwarzen, Gattinnen honoriger SS-Offiziere, die Weißen, sich völlig allein überlassen. Alle behandelte sie gleich. Extravaganzen zog sie den Neuankömmlingen am liebsten sofort aus dem Fleisch. Das gab sonst nur Ärger. Sie scheute sich nicht, einen wegen Herkunft oder Bildung herausgehobenen Kopf gleich unter Wasser zu drücken. Sich etwas auf Ehestand, Bildung oder Schönheit einzubilden, gehörte für sie zu den schlimmsten Sünden gegen den herrschenden Geist. Mochten sie sich in der Welt wie Königinnen aufführen oder fühlen, hier im Heim waren sie gleichförmige Glieder einer einzigen Kette.
Gertrud war im fünften Monat schwanger, ohne kleidertechnische Umstände zu machen. Man sah der sportlichen Gertrud kaum etwas an und sie schritt freundlich auf das kleine Empfangskomitee zu, als gelte es, im Lebensborn ein paar Wochen Urlaub zu machen. Das traf einen dünnen Nerv der ehrwürdigen Dame, die sich aus den ersten Eindrücken ein Bild von der jungen Frau mit dem eventuell überschießenden Selbstvertrauen machte.
Im Foyer nahmen sie Platz. Gertrud fiel und versank in einen Ohrensessel auf geschnitzten Löwenfüßen, die Oberschwester setzte sich auf einen Stuhl. Nach einer knappen Begrüßung und Erkundigungen nach den Stationen der Reise wollte sie mit der Bemerkung starten, im Heim tragen eigentlich nur die Herren der Schutzstaffel Hüte. Denn dieser aufgeputzte Hut, dachte sie, ist einfach lächerlich. Jetzt kam ihr aber Gertruds gewaltiger Koffer, den Helmut gerade vorbeischleppte, in den Sinn.
„Ihr Köfferchen ist ein bisschen groß. Da steckt mehr drin, als die zur Einweisung aufgelisteten Dinge. Ich fürchte, das Gepäck wird nicht in Ihren Schrank passen. Und sehen Sie selbst, auch dem Hausmeister ist es zu schwer.“
Oh ja, Angriffe ihrer Gegnerinnen im plötzlichen Ausfallschritt waren Gertruds Spezialität. Die konnte sie immer gut mit dem Florett parieren.
„Es handelt sich nur um den Nachlass meines Vaters. Gewichtig ist der nicht, aber schwer. Deutsche Klassik, Frau Oberin. Die Überbleibsel des Herrn Goethe, den mein Vater sehr verehrte. Vielleicht kann er so lange, ich meine so lange ich hier bleibe, in der Hausbibliothek auf mich warten.“
Was war das? Und dieser ironische Unterton. Also schnell noch ein Versuch in die offene Flanke.
„Richtig, in ihrem Lebenslauf steht ja auch, Sie haben studiert. Ein paar Monate Medizin? Durchaus mit heißem Bemühen? So drückt sich doch der große Herr Goethe aus, nicht wahr?“
Inzwischen hatte Gertrud, die Fechterin aus Dessau, ihre linke Hand auf den Rücken gelegt. Die Spitze des rechten Zeigefingers tippte aufs Knie. Schlagfertig punktete sie: „Nicht direkt Frau Oberschwester. Das hat Goethe bloß dem Doktor Faust in den Mund gelegt, bevor der aus großer Verzweiflung mit dem leibhaftigen Teufel und seiner schwarzen Magie auf Abwege geriet.“
„Fein, aber so weit, so faustisch, lassen wir es hier nicht kommen. Unsere Pensionärinnen machen sich im Haus nützlich. Sie wischen Staub, sie legen Berge von Windeln zusammen, sie erledigen Botengänge und Pförtnerdienste, sie putzen in der Küche eifrig Gemüse und sie gießen die Blumen. Die Bücher können Sie in Ihrem Zimmer lassen. Stapeln Sie die am besten unter ihrem Bett. Ich bin froh, dass Sie nicht Ihren Kleiderschrank mitgebracht haben. Über Bücher im Allgemeinen steht nichts in unseren Regeln. Auf dem Einweisungsschein hatte ich lediglich vermerkt, „etwas Erbauliches zum Lesen“. Ein Schelm, wer da gleich an Goethes Gesamtausgabe denkt! Morgen Vormittag werden Sie untersucht. Dazu füllen Sie bitte das Formular aus. Wann unsere Kurse in Geburtsvorbereitung, Hauswirtschaft und politische Schulungen stattfinden, hängt im Speisesaal aus. Bevor ich Sie nun mit der Hausordnung vertraut mache, ein Hinweis zur Diskretion. Wir sprechen uns nicht mit den Nachnamen an. Sie sind hier nur als Frau Gertrud bekannt. Wir reden nicht über unseren Familienstand, auch über die Kindsväter nicht. Sollte Ihnen jemand zu Ihrer eigenen Verunsicherung oder um Sie herabzusetzen, von den Wonnen des ehelichen Glücks schwärmen, melden Sie mir das bitte. Wir gehen rigoros dagegen vor.“
Es war, jedenfalls nach den Gepflogenheiten der Zeit, kein unfreundlicher Empfang, recht trocken und ohne besondere Wärme. Gertrud kannte das vom Arbeitsdienst. Man musste sich beharrlich in den ersten Wochen eine gute Ausgangsposition schaffen. Dann würde wohl auch im rechten Moment das gefrorene Gesicht dieser Oberschwester einmal auftauen. Nach wenigen Tagen packte sie die Langeweile und Gemüseputzen war, wie andere häusliche Dienste auch, ein wahrer Segen, die Zeit zu verkürzen.
Mit der Mitbewohnerin auf ihrem Zimmer, die Käthe hieß und aus dem Allgäu stammte, machte sie sich bekannt. Käthe wohnte schon seit zwei Monaten im Haus und freute sich über die neue Gesellschaft als willkommene Abwechslung. Was man beachten, tun oder lieber lassen sollte, erfuhr Gertrud nun aus ihrem Mund. Es war eine Menge Klatsch, aber auch Ernstes dabei.
„Was ist eigentlich das Schlimmste, was man sich hier auf keinen Fall leisten sollte?“
Mit Goethe war Gertrud ja nun schon einmal bei der Oberin angeeckt. Käthe überlegte eine Weile. Dann fiel ihr etwas ein, über das sie selbst lachen musste.
„Wenn sie dich auf dem Zimmer mit einem Mann erwischen, wirst du gevierteilt oder gesteinigt. Du glaubst gar nicht, wie sittsam hier alle sind. Man mag davon halten, was man will, aber der Lebensborn ist unglaublich prüde.“
Der späte Herbst brachte Stürme und Regen über das Land. Sie dehnten nun ihre Spaziergänge, die sie oft unternahmen, nicht so weit aus. Die Zeit bis zur Niederkunft, gegen die alle Pensionärinnen anliefen, kam ihnen vor wie ein lausiger und niemals verwehender Wind. Sie erzählten sich ihre Geschichten und Gertrud wusste alsbald, dass Käthe die Geliebte eines Bürgermeisters aus Bayern war.
Je stürmischer und ungemütlicher es draußen wurde, desto lieber hielt sich Gertrud zum Lesen in der Hausbibliothek auf. Natürlich wartete sie nur auf eine passende Gelegenheit, ihren Büchern dort einen angemessenen Platz zu verschaffen. Es kam für sie nicht in Frage, Vaters Goethe etwa unter ihrem Bett zu verstecken. Sie konnte sich sicher sein, dass die auf den Regalen nach Staub fingernde Oberin blind für den literarischen Neuzugang war. Am Fenster, das die Aussicht zum Luisenpark öffnete, vertauschte Gertrud einen Stapel illustrierter Frauenzeitschriften mit der reich von Vaters Hand kommentierten Goetheausgabe. „Die neue Gartenlaube“ musste in die unteren Fächer weichen.
Auf der Supraporte, dem Regal gegenüber, entzifferte Gertrud bei dieser Inbesitznahme für ihre Bücher das Bild, auf dem sie mühelos die Entdeckung des Grabes des Archimedes erkannte. Cicero, der als Finder darauf abgebildet war, und Gertrud, die Ciceros Fingerzeig auf Zylinder und Kugel sofort verstand, kombinierten beide als Eingeweihte diesen Zusammenhang mit dem Grab des berühmten Gelehrten, weil der eine Archimedes` Testament auf Griechisch und die andere Ciceros „Gespräche aus Tusculum“ auf Lateinisch gelesen hatte.
Käthe, die beseelten Blicks unablässig in ihr Tagebuch schrieb, ermunterte Gertrud zu einem Brief an ihr ungeborenes Kind.
„Die Zeiten“, sprach sie, „in der Mutter und Kind so nah beieinander sind, bleiben stehen, wenn sie aufs Briefpapier tropfen.“
Dann fiel Käthe ein, über welche Kleinigkeiten sie sich heute wieder aufgeregt hatten und sie fügte hinzu: „Ich meine natürlich die Zeit, die wir uns bewusstmachen.“
Dazu streichelte sie ihren Bauch.
„Gertrud“, flüsterte sie, „verewige deine Liebe und das Wissen, warum dein Kind geboren wird. Bewahre das auf! Irgendwann, wenn dein Kind groß ist, wird es das alles verstehen und wissen wollen.“
„Ja, Käthe. Es soll sich darin sehen und seine Herkunft anfassen können. Wie einen Stein, den man in die Hand nimmt, rundum betrachtet und im wahrsten Sinne des Wortes begreift. Einen Bernstein für die Zukunft will ich ihm machen und ich schließe, Wort für Wort, meine Gedanken und meine Liebe darin ein. Das ist eine schöne Idee, Käthe.“
Mein liebes Kind,
nun will ich es doch versuchen, ein paar Worte für uns zu finden. Meine Freundin Käthe gibt mir ein gutes Beispiel dafür. Sie sitzt am Fenster und schreibt und schreibt. Zwischendurch sieht sie durch die Schneeflocken, aber nur um einen neuen Gedanken zu fassen, und schon huscht ihr Stift wieder übers Papier. Sie sieht angestrengt, aber froh dabei aus. Neulich kicherte sie nur so vor sich hin, weil sie eine Erinnerung amüsierte. Ich beneide sie um ihr stilles Gespräch mit dem Baby, das, wie Du, noch nicht geboren, aber schon auf die Welt gekommen ist.
Ich habe lange überlegt, wie ich diesen Brief an Dich beginne. Epische Breite ist nicht meine Art. Das habe ich schon in der Schule bemerkt. Meine Aufsätze waren immer sehr kurz. Wenn einer viele Worte um etwas Einfaches macht, ist mir das nicht geheuer. Am einfachsten wäre es, Dir das Wichtigste gleich und in einem Satz mitzuteilen: Ich liebe Dich. Aber, siehst Du, das weißt Du doch längst, seit ich jeden Herzschlag auf Dich übertrage. Was schreibt Käthe bloß den ganzen Tag? Es wird mir ein Rätsel bleiben.
Und ist das überhaupt gut, seinem Kind so viel Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken? In diesem Buch, das sie uns für eure gedeihliche Erziehung mitgaben und seither ausführlich mit uns besprechen, wird eindrücklich davor gewarnt. Man soll euch füttern, baden und trockenlegen, ansonsten vollkommen in Ruhe lassen. Wenn ihr schreit, sollen wir euch nicht aus dem Bett heben, tragen und wiegen, sondern euren kleinen Willen brechen. Sonst sei der Quälgeist, wird jedenfalls behauptet, auf die Dauer hausgemacht. Wir dürfen euch nicht mit Zärtlichkeiten überschütten. Es wird nicht gern gesehen und das leuchtet mir ein. Wir wollen euch nicht verweichlichen und weinerlich machen. Die Mahnung vor äffischer Zuneigung geht hier jeden Tag um.
Ist das äffisch, mein liebes Kind, diesen Brief an Dich zu schreiben? Wir wollen nichts falsch machen. Sie warnen wohl vor zu großer Nähe zwischen Mutter und Kind, aber ich glaube, wir dürfen es trotzdem wagen. Weil Du nämlich schon groß sein wirst, wenn Du das liest und Dir nichts mehr darauf einbilden kannst. Umso inniger und ausführlicher will ich mich an Dich wenden!
(Warum schäme ich mich nur für das Übermaß meiner zärtlichen Gefühle?)
Meine Zuwendung auf dem Papier, hoffe ich, kann Deiner Erziehung nicht schaden. Du sollst stark sein, diszipliniert und artig, ein deutsches Kind! Ich will es mit den Herzlichkeiten nicht übertreiben, während ich Dir all die Dinge aus der Vergangenheit zueigne. Es soll ja kein Liebesbrief werden, … obwohl es, mein Kind, ja doch schon ein Liebesbrief ist.
Manchmal kommen mir Zweifel und ich denke sogar, es sei gegen die Natur, euch Kinderlein nicht so eng am Körper zu halten, verliebt anzuschauen und zu herzen. Da schlagen also zwei Herzen in meiner Brust. - Was sollen die Zweifel! Lass uns das Beste daraus machen, mein Liebes! Unser Führer, der uns so heilig sein soll, wie ihm jede Mutter guten Blutes heilig ist, wird schon einmal ein Auge zudrücken und nicht so genau hinschauen wollen, wenn ich Dich küsse.
Nun summt es in meinem Kopf und wir wollen lieber einen vernünftigen Anfang für unseren Brief finden. Ich erzähle Dir, wie es mir nach dem Tod meiner Eltern erging. Denn nicht lange ist`s her, seitdem meine heile Welt eine andere geworden ist.
Für kurze Zeit hatte ich bei einer Freundin ein Dach über dem Kopf gefunden, Schlafstatt in einer kleinen Kammer ohne Fenster und Ofen. Unser Haus im schönen Dessau-Ziebigk war schon geräumt, meine Mutter gerade unter der Erde.
Merkwürdig, dass ich weder besonders traurig, noch abgrundtief verzweifelt war. Immerhin stand ich ja vor dem Nichts. Das Frühjahr wuchs in einen schönen Sommer hinein. Ich erinnere mich an eine Invasion von Schmetterlingen und die zum Abschied prächtig blühenden Blumen im Vorgarten unseres Hauses. Vom dumpfen Reichsarbeitsdienst hatten sie mich angesichts meiner Notlage befreit. Und da ich nichts weiter zu verlieren hatte, stimmten mich hilfsbereite Gesten in meiner Umgebung und all die schönen Dinge der Natur, die man erleben, aber nicht besitzen kann, dankbar und heiter. Hauptsache ich war in Bewegung. So lief ich ziellos und ausdauernd durch die Stadt.
Denn wehe die Schwermut oder das Grübeln bekamen mich zu greifen! Dann stürzte meine Seele ins Bodenlose hinab. Ich begriff, dass meine Zuversicht keine gefestigte und geduldige war. Ich brauchte etwas, woran ich mich festhalten konnte, so etwas wie einen Plan. Struktur sollte mir der bei meinen Bemühungen um Arbeit und Wohnen geben.
Wenn ich nun schon mein eigenes Geld verdienen musste, dann nicht irgendwie. Gemeinmachen mit irgendwas kam nun einmal überhaupt nicht für mich in Betracht! Das war ich meinen Eltern und mir selbst schuldig. Ich dachte angestrengt über eine Wohnmöglichkeit und eine Anstellung nach, während ich am Ufer der Mulde auf- und ablief und ausgedehnte Streifzüge durch die Stadt unternahm. Zwischen Kavalierstraße, Franzstraße und Ziegelgasse umkreiste ich immer wieder Schloss Altenburg, ein imposantes Kaffeehaus auf zwei Etagen mit angeschlossenem Hotelbetrieb und piekfeiner Restauration. Die Gasträume öffneten sich allesamt zur Franzstraße, die gefühlt schon zur Kavalierstraße, der Flaniermeile der Stadt, gehörte. Die zur ebenso lebendigen, wie berüchtigten Ziegelgasse gelegene Rückfront des Hauses besaß keinen eigenen Zugang zu diesem Stadtviertel.
Ich hatte schon oft mein Kleingeld gezählt und überlegt, im Kaffeehaus eine Rast inmitten gut situierter Leute einzulegen, bevorzugter Weise an einem Tisch im Freien, um mein Gesicht in die Sonne zu halten. Bei einem Stück Torte mit silbernem Kuchenbesteck wollte ich gern ein wenig verweilen. Ich hatte es immer wieder verworfen, weil ich aus verständlichen Gründen geizig geworden war.
Nun fand ich jedoch einen besonderen Grund, mir das Haus, das sich selbst als „führende Vergnügungsstätte Dessaus“ bezeichnete, einmal genauer anzusehen. Vielleicht würde ich ausgerechnet hier eine Gelegenheit finden, dachte ich, feinen und gebildeten Menschen, die Manieren haben, Kaffee und Gebäck zu servieren. Ich wollte mir als Kaffeehausgast, inkognito sozusagen, ein Bild von den Bedingungen im Schloss Altenburg machen und den adretten, in schneeweiße Schürzen gekleideten Kellnerinnen unbemerkt auf die fleißigen Finger sehen.
Ein paar Meter vor der Schwelle scheute ich noch einmal zurück. Ich bekam weiche Knie. Was bildete ich mir ein? Ich sah mich vor den Chef hintreten, bis dahin würde ich es bestimmt schaffen, an den niedlich beschürzten Mädchen vorbei. Aber dann, im entscheidenden Augenblick verließe mich sicher der Mut. Die verwaiste und niedergeschlagene Gertrud meldete sich, die ach so bemitleidenswerte. Der Herr würde doch nur große Augen machen, der Chef, was ich überhaupt von ihm wollte, und meinen Auftritt ganz und gar unangemessen finden. Weil ich nun mal so einen Trumpf, das Mitleid anderer Leute zu erregen, nicht ausspielen kann. Fordern oder Verzichten, ja, aber die Töne dazwischen, ein bisschen werben und etwas klagen, liegen mir fern.
„Bedaure sehr, Fräulein“, würde er kurz und knapp sagen. Als schwierig erwiese sich zudem eine zufriedenstellende Auskunft über meine Wohnverhältnisse, sollte sich am Ende doch ein knappes Bewerbungsgespräch ergeben.
Du wirst in ähnliche Lebenslagen geraten, mein liebes Kind. Merke Dir, immer wenn Du etwas willst, aber Dich nicht traust, danach zu fragen, mache es nicht dümmer als die Raben!
Ich hielt mich nämlich immer noch bedeckt und suchte den Schutz vor neugierigen Blicken unter einer Platane, dem Kaffeehaus schräg gegenüber, zögerte arg, weil mich plötzlich alle guten Geister verließen. Über dem Baumwipfel und den beiden mit Säulen geschmückten Häuschen am Leipziger Tor flatterten und zankten Raben einer kleinen Stadtkolonie. Einer landete direkt vor meinen Füßen. Er beobachtete mich, hielt den Kopf schräg, hüpfte drollig von einem aufs andere Bein und pickte mit seinem Schnabel auf den Boden, weil er etwas zu Fressen von mir wollte. Besser hätte er es nicht anstellen können. Alles richtig gemacht. Ich gab ihm von meinem Nachmittagsapfel. Deshalb, mein liebes Rabenkind, wenn Du eines Tages alleine zum Bäcker gehst und ein Brot willst, musst Du laut und deutlich sagen, dass Du bitte ein Brot haben möchtest. Sonst stehst du dumm im Laden an der Theke und wunderst dich, dass nichts daraus wird.
Ich lief hinüber und nahm an einem Tisch Platz, der gerade frei geworden war. Von hier konnte ich alles gut überblicken, die Flaniermeile und den regen Kaffeehausbetrieb. Besonders lange hielt es mich nicht auf dem Sitz. Meinen Platz reservierte ich mit Sonnenbrille und Fächer, weil ich mich im Inneren genauer umsehen wollte. Ich verband das geschickt mit einem Gang zur Toilette. Alles sehr gepflegt, dachte ich. Aber die Einrichtung war nach meinem Geschmack dunkel und schon in die Jahre gekommen. Einen hellen, freundlichen Anstrich hätten die Innenräume vertragen. Weniger Polster, Vorhänge und gründerzeitlichen Kitsch hätte ich mir gewünscht. Alles sah gediegen und teuer aus, aber nicht mehr modern.
Im Außenbereich lief das Publikum, weil es ein Sonnentag war, reichlich zusammen. Es gab kaum einmal einen freien Tisch. Das machte wiederum einen guten und nachhaltigen Eindruck auf mich.
Ich muss lachen, mein liebes Kind, wenn ich das schreibe.
„Möchten Sie ein Kissen für den Rücken, liebes Fräulein?“
„Sitzen Sie bequem?“
„Darf ich Ihnen noch eine Portion Schlagsahne bringen?“
„Das geht selbstverständlich aufs Haus.“
„Sind Sie zufrieden?“
„Recht guten Appetit!“
„Das freut uns sehr, dass es Ihnen schmeckt.“
„Darf ich ihnen noch eine Tasse Kaffee bringen?“
Sie warfen nur so mit Freundlichkeiten um sich, scherzten mit den Gästen und strahlten über alle Gesichter. Keiner stand müßig herum. Niemand musste nach der Bedienung rufen oder lange auf eine Bestellung warten. Aufmerksame Kellnerinnen hoben Kaffeelöffel und Servietten vom Boden, da hatte man noch gar nicht realisiert, dass sie heruntergefallen waren. Ich war sehr in meine Beobachtungen vertieft, alles interessierte mich. Das Lokal im Innenbereich, dachte ich, könnte schlagartig an Helligkeit gewinnen, würde man zur Ziegelgasse ein paar Fenster durchbrechen.
Da fragte ein Herr: „Entschuldigen Sie! Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“
„Aber bitte sehr.“
Was hätte ich sonst sagen sollen? Eigentlich wäre ich lieber alleine geblieben. Im Schlepp hatte der Herr einen hochgewachsenen Mann, der einen bedenklich abgerissenen Mantel trug und sich mit einem Hut übertrieben gegen die Sonne schützte. Dem musste in seinem Mantel ordentlich warm sein. Die großen Innentaschen benötigte er, wie sich später herausstellte, zum Mitführen einiger Mappen. „Der schlecht gekleidete Mann passt entschieden nicht in dieses Lokal“, konstatierte ich.
Der Andere war vornehm und selbstbewusst, verschmitzt und behaglich. Er machte eine flotte Geste darum, dem Landstreichertyp einen Stuhl unterzuschieben. Sein Habitus ließ Großzügigkeit erahnen. Wie er ruhig auf den Mantelträger einredete und ihn unauffällig dirigierte, deutete auf einen Mann von Welt, der die Leute in ihrer Art zu nehmen und zu beeinflussen versteht. Sein Gesicht hatte eine gesunde Fülle, Lebensfülle, kompakt, aber nicht zu dick. Er vergaß nicht, sich artig bei mir vorzustellen, aber den Namen hatte ich gleich wieder vergessen. Dann sagte er mit einem Blick auf die Tischblumen: „Die Blumen passen sehr schön zu Ihrem Kleid. Man hätte das nicht besser arrangieren können. Ein sehr schönes Kleid.“
Er sah mich freundlich dazu an, väterlich, nicht wie ein wagemutiger Mann. Ich errötete ein bisschen.
Nun war wieder der Landstreichertyp an der Reihe, dem der Charmeur nebenbei einen Kaffee bestellte. Der zog zwei Mappen aus den Tiefen seines Mantels und zündete sich umständlich eine Zigarette zwischen seinen nikotingefärbten Fingern an. Ich sah neugierig auf die abgegriffenen Mappen und tippte auf ein paar billige Zeichnungen. Der Abgerissene rauchte, grinste und triumphierte. Die mit schmutzigen Leinfäden verschnürten Mappen öffnete er noch nicht.
Der vornehmere Herr nahm einen spitzen Bleistift, den er zwischen den Fingern rollte. Damit signalisierte er ausreichend Geduld. Was für ein Pokerspiel bahnte sich hier an? Es ging dann ziemlich schnell von statten. Der Mann mit den Mappen legte Albenblätter mit Briefmarken auf den Tisch und eine Lupe dazu. Kolonialmarken aus Süd-West-Afrika, Australische Marken, farbenfrohe Miniaturen aus Übersee. Dazu flüsterte der Landstreicher Preise.
„Diese kostet viertausend, das Stück hier sechshundert. Der ganze Satz neuntausendfünfhundert.“
Der Herr schrieb die Zahlen mit Bleistift daneben. Er kommentierte sie nicht. Der Landstreicher packte alles wieder zusammen und verabschiedete sich.
„Morgen Abend bei Albert.“
So trennten sie sich. Ich saß nun alleine mit dem Anderen am Tisch.
„Sie sind sicher ein Experte für Briefmarken?“
Er schüttelte bescheiden den Kopf, skeptisch beinahe.
„Nein, aber Albert schaut sich das morgen noch einmal in Ruhe für mich an. Das ist der Experte. Der bewahrt mich vor leichtsinnigen Entschlüssen, vor allem wenn ich es mit besonders schönen Marken zu tun habe.“
„Das waren sehr schöne Briefmarken, Kunstwerke, nicht wahr? Da muss man sich auskennen. Sonst kauft man so etwas nicht. Haben Sie beruflich mit Briefmarken zu tun?“
Der Herr schmunzelte und freute sich sichtlich über mein Interesse.
„Ich war Beamter bei der Post. Da habe ich eine Lehre gemacht und mein erstes, bescheidenes Geld verdient. Albert war damals mein treuester Kunde. Den musste ich Woche für Woche mit Neuigkeiten aus der Briefmarkenwelt versorgen. Die Marken und Erstbriefe schickte er zum Stempeln um die ganze Welt. Und einmal gelang ihm in Kette über mehrere Philatelisten ein sagenhafter Briefmarkentausch. Keine Mauritius, aber Albert könnte wohl davon leben. Manchmal haben wir uns hier im Kaffeehaus getroffen. Irgendwann kam seine Schwester hinzu. Genau an diesem Tisch, wo wir jetzt sitzen, hat er uns eines Nachmittags miteinander bekanntgemacht. Briefmarken, könnte man sagen, haben mir Glück gebracht. Auch keine Mauritius, aber Albert ist nun mein Schwager.“
Er gab das mit verblüffender Offenheit preis. Es klang nicht zu intim, obwohl es das war. Ich wollte, ohne lange zu überlegen, noch etwas Freundliches über Briefmarken sagen.
„Was immer an einer schönen Briefmarke fasziniert, vielleicht kommt es in Wirklichkeit nur auf die Klebseite an.“
Na da war mir ja etwas herausgerutscht! Aus meinem Unterbewussten war etwas aus Goethes Wahlverwandtschaften durchgesickert, anders kann ich es mir nicht erklären. Ich hatte ihn nun aus dem Konzept gebracht. Er fing sich gleich wieder, aber seine Verlegenheit zwischendurch berührte mich, während er über meine Aussage nachdachte. Ja, dass er überhaupt darüber nachdachte und währenddessen vielsagend schwieg. Denn für so einen gefestigten Herrn, der an einem einzigen Sonnentag wie diesen so viele Reichsmark für ein paar Briefmarken verschwendet, war man als Kaffeehausbekanntschaft doch eigentlich nur ein unbedeutendes Fräulein. In dem Augenblick, da sich hinter seinen blauen Augen ein Brunnen auftat, erkannte ich Tiefe darin.
„Sie gehen gern in dieses Kaffeehaus.“
Schnell das Thema wechseln, dachte ich. Er schmunzelte und wir kamen ins Gespräch.
„Am liebsten spiele ich hier mit Albert Schach. Wir haben da einen Stammtisch im Haus. In den Abendstunden ist es hier, vom Restaurant einmal abgesehen, meistens sehr ruhig. Dann gehen in der Ziegelgasse die Lichter der Amüsierbetriebe an.“
„Für Ihr gemütliches Schachspiel wäre es natürlich ein Nachteil“, sagte ich, „aber stellen Sie sich vor, man bräche das Mauerwerk zur Ziegelgasse durch. Am Tage gäbe es dadurch mehr Licht und abends könnte die Kavalierstraße aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen, den Sie ja gerade selbst beschreiben.“
„Ach so?“
„Das Kaffeehaus könnte ein Schmelztiegel für Kavaliere und Damen auf der einen, und die Burschen und Mädel auf der anderen Seite sein.“
„Nun ja, Schmelztiegel für die Halbseidenen, Lebenskünstler und leichteren Damen dann aber auch. Wenn man genau wüsste, wie das die Kavaliere quittieren, wie sich die Gegensätze anziehen oder abstoßen wollen.“
Ich weiß auch nicht, was da plötzlich in mich gefahren war. In Gedanken verlieh ich dem Lokal einen neuen Anstrich. Das malte ich ihm nun alles genau aus. Man musste ja nicht gleich etwas „Entartetes“, ein Bauhaus etwa, daraus machen, aber warum nicht was Neues mit moderneren Farben und ein paar einfachen Stilelementen kreieren. Die Geschäftsidee begeisterte mich. Ich redete mich heiß. Und endlich warf der Herr auch ein paar Überlegungen ein, die aber eher den Umsatz des Geschäfts, als die von mir propagierte Volksgemeinschaft betrafen. Er wollte sich nicht mit einem schmalen Türdurchbruch zufrieden geben. Über ein paar Fensterelemente dachten wir längst hinaus. Wir rissen in Gedanken schon eine breite Front zur berüchtigten Ziegelgasse ein.
„Statt Steine brauchen wir Glas. Viel mehr Glas!“
Aber dann fragte er noch einmal: „Und wie soll sich das miteinander vertragen, das Ziegelgevölk und die Kavaliere?“
„Durch Neugier!“ behauptete ich felsenfest.
„Aha.“, sagte er bloß.
Dann schob ich noch einen Gedanken hinterher.