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© 2020 Christoph von Campenhausen
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7519-1151-1
Geständnis.
Du toller Wicht, gesteh nur offen:
Man hat dich auf manchem Fehler betroffen!
Ja wohl, doch macht´ ich ihn wieder gut.
Wie denn? Ei, wie´s ein Jeder thut.
Wie hast du denn das angefangen?
Ich hab´ einen neuen Fehler begangen;
Darauf waren die Leute so versessen,
Daß sie des alten gern vergessen.
J. W. VON GOETHE, ZAHME XENIEN III
Alle Menschen sehnen sich nach Glück, Wohlergehen und Gerechtigkeit. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle Menschen dasselbe erstrebten oder dass ihnen das Gleiche zustünde, und noch weniger, dass alle Menschen gleich wären. Der Wunsch nach Wohlstand, Glück und Gerechtigkeit kann nur in Erfüllung gehen, wenn die Unterschiedlichkeit der Menschen nicht geleugnet, sondern berücksichtigt wird. Die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen ist genetisch angelegt und wird im Laufe des individuellen Lebens immer weiter ausgebaut. Gleichzeitig entwickelt sich bei den Menschen die Einsicht, dass das durch Erfahrung und Forschung immer weitergehend gesicherte Wissen bei der Fortentwicklung der Weltanschauungen berücksichtigt werden sollte. Tatsächlich stützen die Menschen ihre Vorstellungen von der Welt, wie sie ist oder sein sollte, weniger auf ewig geltende Wahrheiten als auf ihre persönlichen Überzeugungen, die sie – das ist nicht zu leugnen! – manchmal revidieren.1 Weltanschauungen, die für alle Menschen gleichermaßen Geltung beanspruchen können, gibt es nicht. Die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen gehört dagegen zum Kernbestand menschlichen Selbstverständnisses. Menschen wollen wissen, wer sie selbst sind, was ihnen gut bekommt und von wem sie abstammen. Das ist zumindest ein naturgegebener Grund dafür, sich mit Genealogie zu befassen.
Wer Schneider heißt, hat mit der Erforschung seiner Herkunft ein Problem. Schneider ist mit 4 % der dritthäufigste Familienname in Deutschland nach Müller (9,5 %) und Schmitt (6,9 %).2 Seit der Renaissance wurde der Name Schneider von Akademikern immer wieder ins Lateinische übersetzt. Darum gibt es viele Menschen, die Sartorius heißen, ohne miteinander verwandt zu sein.3 Unter den Vorfahren meiner Frau war der Schulmeister und Pfarrer Johann Wilhelm Schneider (1639–1704) aus Darmstadt der Erste, der sich seit 1651 Sartorius nannte.4 Die Familie von meiner Frau und mir kann zumindest in statistischer Hinsicht als normal gelten, weil unter den z. Z. 28 Personen mit unserer Schwiegertochter Katharina wieder eine geborene Schneider vorhanden ist.
Der nicht verwandte ehemalige Vorsitzende der Lutheriden-Vereinigung5, Pfarrer Otto Sartorius (1864–1947) in Harste bei Göttingen, hat versucht, alle Träger des Namens Sartorius jeweils bestimmten Familien zuzuordnen.6 Er kam auf 16 Sartorius-Familienstämme. Einer davon ist die sogenannte Darmstädter Sartorius-Familie, zu der der Weingutsbesitzer Otto Sartorius d. Ä. (1842–1911) auf dem Herrenhof in Mußbach/Weinstraße und sein gleichnamiger Sohn Dr. phil. Otto Sartorius d. J. (1892–1977), mein Schwiegervater, gehörten.
Von der Darmstädter Sartorius-Verwandtschaft war Dr. Otto Sartorius d. J. der letzte männliche Namensträger in Deutschland. Nahverwandte Sartorii gab es zu Lebzeiten seiner Töchter nicht mehr. Von den entfernteren Vertretern der Darmstädter Sartorius-Familie wusste man, dass einige in den Niederlanden, Mexiko und vielleicht auch in Spanien lebten. Aber die Verbindungen zu den ausländischen Familienangehörigen wurden in Mußbach kaum gepflegt.
Die Töchter von Otto Sartorius d. J. erfuhren über die Sartorius-Familie erstaunlich wenig. Für die Älteste, Erika Großer, geb. Sartorius, gilt das nur mit Einschränkung. Sie sammelte und verwahrte einen großen Teil der heute im Sartorius-Archiv (SA) aufbewahrten Dokumente. Sie kümmerte sich auch um die stattliche Sartorius-Grabstätte in Darmstadt, die ihren jüngeren Schwestern meines Wissens nie gezeigt wurde. Im Sartorius-Archiv befinden sich Fotografien7 der erst 1975 aufgelassenen großen Grabanlage. Einige Grabplatten davon sind meines Wissens von Erika Großer nach Mußbach gebracht worden. Ob und wo sie sich dort noch befinden, weiß ich nicht.8
Warum die Erinnerung an die zum Teil recht bedeutenden Vertreter der Sartorius-Familie in Mußbach nicht gepflegt wurde, ist rätselhaft. In der Familie Campenhausen ist das jedenfalls ganz anders. Das ist auch schon anderen aufgefallen. So schrieb ein Rezensent9 der Lebenserinnerungen meines Vaters10, er habe bedauert, dass dieses Buch schon nach beinahe 400 Seiten aufhöre, obwohl der darin zelebrierte „geradezu atavistische Verwandtschaftskult“ für ihn „Züge des ethnologisch Rätselhaften“ habe. Die intensive Pflege von Beziehungen zu weitläufigen Verwandten ist offensichtlich nicht jedermanns Sache.
Für meine Frau und mich bestand ein erheblicher Nachholbedarf im Erwerb genealogischer Sartorius-Kenntnisse. Was uns im Lauf der Jahre nach und nach zur Geschichte der Darmstädter Familie Sartorius bekannt geworden ist, soll hier in lockerer Form als eine Art von Materialsammlung weitergegeben werden. Wir wissen, dass uns die niederländischen und mexikanischen Verwandten mit ihren genealogischen Forschungen weit voraus sind. Was hier mitgeteilt wird, ist als Anregung für die Mußbacher Nachkommenschaft gedacht, sich mit den zitierten Arbeiten der anderen Sartorius-Familienzweige zu befassen.
1 Siehe Ausführungen zum Inneren Umweltmodell in Campenhausen Christoph von (2017), Kap. IV, 2.
2 Kunze (2000), S. 198.
3 Sartorius geht nicht notwendigerweise auf den textilverarbeitenden Beruf Schneider zurück. Er kann auch aus der Landwirtschaft (Sartor, der Hacker oder Sämann) oder der Viehzucht (Beschneider) hergeleitet sein (Kunze (2000), S. 126 ff.).
4 Ewald (2014), S. 9; Johann Wilhelms Sohn Johann Valentin soll den Namen Schneider noch über zwei Generationen weitergereicht haben, bevor sich auch seine Nachkommen Sartorius nannten (Sartorius, H. (1969), S. 56).
5 Nachkommen von Martin Luther.
6 Sartorius, O. (1936).
7 SA K 1 a.
8 Herr Dr. Karl Adams teilt mir 2018 telefonisch mit, dass sie sich in der Obhut der Fördergemeinschaft Herrenhof in Mußbach befinden.
9 Cymorek (2005).
10 Campenhausen, H. v. (2005).
Glücklicherweise war es dank der vorzüglichen Vorarbeit des niederländischen Onkels Hugo Sartorius in Amsterdam möglich, überraschend entdeckte Sartorius-Verwandte systematisch einzuordnen. Dieser Onkel Hugo hatte die Erforschung der Darmstädter Sartorius-Familie vorangetrieben und in einer 1939 erschienenen Broschüre zusammengefasst.11 Ein Exemplar schenkte er mit einer liebevollen Widmung seiner Nichte Erika Großer, geb. Sartorius, in Mußbach. Deren Schwester Gabriele besuchte die holländischen Verwandten in Amsterdam 1952 als Schülerin auf der Rückreise von England, was von ihrem Onkel Hugo in einem kleinen Fotoalbum dokumentiert wurde.12 Auch ihre etwas jüngere Schwester Elisabeth, später verheiratete Wiegräbe, besuchte die Holländer in ihrer Schulzeit einmal, was fotografisch belegt ist.13 Ob der 1957 angekündigte Besuch von Hugo und Frieda Sartorius in Mußbach stattgefunden hat, ist nicht mehr zu ermitteln.14 Die Verbindung zu den Niederländern wurde anscheinend nur von Erika Großer gepflegt.
Hugo Sartorius verlor den größten Teil seines Sartorius-Archivs im 2. Weltkrieg. Umso bewundernswerter ist es, dass er durch neue mühsame Forschungen die Lücken nach dem 2. Weltkrieg weitgehend wieder schließen und die Ergebnisse 1969 in einer erweiterten Schrift veröffentlichen konnte.15 Ihm gebührt die größte Anerkennung dafür, dass die ältere Sartorius-Genealogie einigermaßen vollständig erfasst ist und auch fortgeschrieben werden kann. Sowohl der verwandte Hugo wie auch der nicht verwandte Lutheriden-Pfarrer Otto Sartorius fragten brieflich bei dem Mußbacher Otto Sartorius d. J. nach genealogischen Daten.16 Es gibt Stammbaumskizzen von der Hand des Otto Sartorius d. J.17 Aber von diesen genealogischen Kenntnissen hat er zumindest an seine vier jüngeren Töchter beinahe nichts weitergegeben. Das haben wir alles erst später entdeckt.
Einen wichtigen Beitrag verdanken wir meinem Schwippschwager, Dr. rer. nat. Winfried Wiegräbe, und seiner Frau Elisabeth, geb. Sartorius. Die beiden hatten im Jahr 1993 die Sartorius-Verwandten in Mexiko besucht und eine Abschrift der Lebenserinnerungen von Karl Christian Sartorius (1796–1872) erhalten und über unsere Tochter Dorothee Löhr, die damals Pfarrerin der Reformierten Kirche in Hamburg war, Verbindung zur dortigen Familie Speckter aufgenommen, die zu den Nachkommen des eben genannten mexikanischen Karl Christian gehört. In Hamburg machte man den Wiegräbes eine zusätzliche Abschrift der Lebenserinnerungen zugänglich. Es gelang Winfried Wiegräbe, aus verschiedenen Überlieferungen eine textkritisch kommentierte Ausgabe zusammenzustellen, die er uns zunächst 2004 als Privatdruck zugänglich machte.18 Erst später entdeckte ich, dass die Lebenserinnerungen von Karl Christian zum Teil schon einmal in deutscher Sprache veröffentlicht und kommentiert worden waren.19 Das war in Mußbach nicht bemerkt worden. Mehr dazu im Kapitel 7 über die mexikanischen Sartorii.
Angelika Stränz-Speckter besaß in Hamburg noch eine unveröffentlichte Familienchronik20 der Darmstädter Sartorius-Familie von Dr. Rudolf Ewald, der mit einer Nachkommin aus der mexikanischen Sartorius-Verwandtschaft verheiratet war.21 Der in der Heidelberger Gaisbergstraße (also ganz dicht von meinen Eltern und dem Großonkel Oswald von Campenhausen) lebende Dr. phil. Rudi Ewald hatte anscheinend in diversen Archiven und Kirchenbüchern recherchiert. Ob er dabei mit dem Onkel Hugo Sartorius in Verbindung stand, habe ich nicht herausgefunden. Seine Familienchronik reicht von 1651 bis zur Geburt von Karl Christian Sartorius (1796).22
Wolfgang Stränz, der Ehemann von Angelika, geb. Speckter, ließ die von Winfried Wiegräbe bereits als Privatdruck edierten Memoiren des Karl Christian in einem Band und die „Geschichte unserer Vorfahren“ von Rudi Ewald zusammen mit Archivalien der Familie Speckter in einem zweiten Band23 drucken. Er fügte diverse Abbildungen verschiedenen Ursprungs in die Texte ein. In beiden Bänden ergänzte das Ehepaar Stränz-Speckter die Texte mit übersichtlichen Stammtafeln, die allerdings bei den deutschen Sartorii nur bis zu Ernst Ludwig Sartorius (1754–1829) reichen. Völlig unverständlich ist das Buch: Sartorius K C (2017), ein Druck der Lebenserinnerungen von Karl Christian ohne Einleitung, ohne Angaben über die Herkunft der Textvorlage und Herausgeber und ohne Fußnoten, wahrscheinlich nach einer der Abschriften, die Winfried Wiegräbe vorgelegen haben. Wolfgang Stränz wusste, als ich ihn 2018 befragte, nichts davon. Zur Mußbacher Sartorius-Familie fehlt bislang noch eine Familiengeschichte. Die hier vorliegende Materialsammlung kann die Lücke nicht schließen, aber die genannten Vorarbeiten ein wenig ergänzen.
Glücklicherweise hat unsere Tochter, Dr. phil. Ruth Slenczka, Dokumente gesammelt, die ich in Mainz in unprofessioneller Weise zu einem Sartorius-Archiv (SA) vorsortiert habe. Ein Teil davon stammt, wie gesagt, aus dem Nachlass von Erika Großer, geb. Sartorius, die einige schwer lesbare Texte von unserer Tante Edit Prang24 in Neuwied transkribieren ließ. Erika ist zu loben, weil sie einige in Gabelsberger Kurzschrift verfasste Notizen ihres Vaters entzifferte. Ihre Tochter Henriette Paech, geb. Großmann, reichte die Sammlung ihrer Mutter an das Sartorius-Archiv (SA) weiter. Auch Winfried und Elisabeth Wiegräbe, geb. Sartorius, überließen ihre Bestände dem Sartorius-Archiv.
Hilfreich waren für mich die Schriften von Dr. Karl Adams, einem ehemaligen Direktor der Weinbauschule zur Geschichte des Herrenhofes, siehe Literaturverzeichnis. Was ich nicht ahnte, war, dass er auf dem Herrenhof ein reichhaltiges Archiv angelegt hatte, in dem sich auch Dokumente befinden, deren Existenz ich aus den mir zugänglich gewesenen Briefen rekonstruieren musste. Dass sie von meinem Schwiegervater seinerzeit Herrn Dr. Adams übergeben und von diesem vorzüglich geordnet worden sind, fanden wir erst heraus, als ich gerade dabei war, meinen Text abzuschließen, und als ich für weitergehende Studien in Mußbach nicht mehr hinreichend geländegängig war. Für alles, was ich berichtet habe, gebe ich die Belegstellen an. Darum ist meine Darstellung zwar lückenhaft, aber vertrauenswürdig. Das Herrenhof-Archiv bietet, wie das Archiv-Verzeichnis25 verrät, noch genauere Einzelheiten.
Wer sich für Familienforschung begeistert, neigt dazu, das Interesse seiner Gesprächspartner dafür zu überschätzen. In der Mußbacher Sartorius-Familie war das Interesse an Vorfahren und verwandten Sartorius-Namensträgern, wie gesagt, erstaunlich gering. Der Mangel an Kenntnissen über die durchaus bedeutenden früheren Familienvertreter ist für uns nicht nachvollziehbar. Er führte bis in die neueste Zeit immer wieder zu überraschenden Entdeckungen, aber auch zu Irrlehren. Von beidem soll noch berichtet werden.
11 Sartorius, H. (1939).
12 Die Verwandtschaft zu der im erwähnten Fotoalbum mehrfach abgebildeten Cousine (?) Helga Sartorius aus Nastätten im Taunus ist allerdings unbekannt. Das kleine Fotoalbum ist z. Z. nicht auffindbar.
13 Fotografie mit Onkel Hugo und Tante Frieda Sartorius in Rotterdam in SA K 1 c.
14 Brief von Frieda Sartorius an Erika Grosser, geb. Sartorius, vom 12. IV. 1957 (SA K 1 c).
15 Hugo Sartorius (1969).
16 Brief von Hugo an Otto Sartorius d. J. vom 14.V.1950 wegen des Wappens „Sehr geehrter Herr Vetter “ (SA K 1 c.) In SA K 1 e findet sich ein Brief des Pfarrers Otto Sartorius vom 9. Jan. 1940 (im 2. Weltkrieg, aber vor Besetzung der Niederlande), in dem er dem Mußbacher Otto Sartorius d. J. vorschlägt, seinem Vetter Hugo Sartorius ein Kistchen Wein zu schicken als Entschädigung für dessen Druckkosten bei seiner Publikation (1939).
17 SA K 1 a.
18 Wiegräbe (2005).
19 Hessisches Staatsarchiv (HStAD 0 59, Nachlass Sartorius 1), „Chronik der Familie Sartorius 1796–1912 (maschinenschriftliches Manuskript)“; Haupt, Herman (1939).
20 Ein maschinenschriftliches Manuskript davon entdeckte ich im Hessischen Staatsarchiv in Darmstadt (HSTAD 0 59 Sartorius Nr. 1).
21 Zur Verwandtschaft siehe Ewald (2014), S. 74, und Sartorius, K. C. (2014), Seite 283.
22 Zwei Briefe aus dem Jahr 1927 von Ewald an Otto Sartorius d. J. in Mussbach zeigen, dass er bei diesem genealogische Angaben nachfragte (SA Kasten 1, Rote Mappe, Hugo Sartorius).
23 Wiegräbe, Stränz-Speckter, Hrsg. (2014), hier zitiert als Sartorius, K. C. (2014), und Ewald, Stränz-Speckter, Hrsg. (2014), im Folgenden zitiert als Ewald (2014).
24 Siehe Nachfahrenliste Weddigen.
25 Siehe SA K 11.
Der älteste bekannte Darmstädter Sartorius-Vorfahr ist Martin Schneider, der 1540 geboren wurde. Von ihm wusste der niederländische Onkel Hugo Sartorius nur, dass sein Sohn Hans Sartorius (1575–1636) Ackerbürger und Sattlermeister in Darmstadt gewesen sei. Die Tabelle 1 zeigt die Ahnenfolge von diesem Hans Schneider bis zum Weingutsbesitzer und Reichstagsabgeordneten Otto Sartorius d. Ä. (1842–1911), mit dem der Mußbacher Familienzweig beginnt. Die Ehefrauen wurden in dieser Tabelle weggelassen. Sie werden in den anderen Tabellen genannt. Von den Geschwistern sind hier nur diejenigen aufgeführt, mit denen jeweils eine Abzweigung von Sartorius-Namensträgern anfing. Mehr findet man in den Kapiteln über die einzelnen Familienzweige. Diese sind im Druck der Tabelle jeweils deutlich hervorgehoben. Hugo Sartorius (1969) erwähnt noch als Abzweigung von den Mexikanern einen US-amerikanischen und einen kanadischen Familienzweig, mit denen ich mich nicht beschäftigt habe.
Der sogenannte Königsberger und der Mußbacher Zweig sind im Mannesstamm ausgestorben. Für die ältere Familiengeschichte gibt es in der Chronik von Dr. phil. Rudi Ewald auch Angaben über die Vorfahren der Ehefrauen.26 Bis zum Jahr 1969 sind alle Sartorius-Namensträger der Darmstädter Familie, also auch die hier nicht aufgeführten, von Hugo Sartorius27 berücksichtigt worden.
Auffallend sind in der Darmstädter Sartorius-Familie die vielen evangelischen Theologen. In den Abstammungslisten sind sie durch das Kürzel „Pfr.“ gekennzeichnet. Damit kann man die ununterbrochenen Folgen von Predigern durch bis zu acht Generationen verfolgen. Häufig waren sie nach dem Studium zuerst Lehrer oder Gymnasialprofessoren und einige blieben das bis zu ihrem Lebensende. Auf den Autobahnen im Rhein-Main-Gebiet zwischen Rüsselsheim, Darmstadt und Mainz wecken viele Abfahrtstafeln Erinnerungen an ehemalige Wirkungsstätten von Pfarrern und Lehrern aus der Darmstädter Sartoriusfamilie wie Trebur, Goddelau, Nauheim im Hessischen Ried, Biebesheim, Leeheim, Dornheim, Groß-Gerau, Rüsselsheim, Gräfenhausen (heute OT von Weiterstadt), Wallau, Stockstadt, Gundernhausen (heute OT von Roßbach) und natürlich Darmstadt – hoffentlich habe ich keine Orte übersehen! Der Pfarrer Johann Daniel Sartorius (1684–1736) war als Vikar 1712 auch in den Städten Braubach und Bad Ems an der Lahn tätig, die damals zu Hessen-Darmstadt gehörten. Nimmt man auch Apotheker und Juristen hinzu, so sind auch noch Gernsheim und Groß-Umstadt als Sartorius-Erinnerungsstätten im Landgräflich- und später Großherzoglich-Hessischen Bereich zu nennen.
Von den frühen Vorfahren ist der Pfarrer Johann Wilhelm Schneider (1639–1712), später Sartorius, erwähnenswert. Er wurde im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1689 von Truppen Ludwigs XIV. unter General Melac mit neun Leidensgenossen aus seiner Biebesheimer Gemeinde über den Rhein nach Oppenheim entführt. Damit sollte Lösegeld erpresst werden für „13 Schiffspferde der Rheinbesatzung“, die gestohlen worden waren. Die Gefangenen wurden mithilfe des Oppenheimer Pfarrers befreit, so dass sie „mit Hilfe von Stricken bei Nacht“ über die Mauern entweichen konnten. „Nur einer von den Gemeindemännern hatte sich beim Springen von der Mauer die Nase verfallen.“ Die Flucht wurde von den Franzosen bemerkt, aber die Flüchtlinge hatten schon die Mitte des Rheinstromes erreicht (ob schwimmend oder mit einem Kahn konnte nicht ermittelt werden) so dass keine der nachgeschickten Kugeln Unheil anrichten konnte.“28
Von seinen acht Kindern wird Johann Valentin Schneider (1678–1734) im 5. Kapitel behandelt, weil aus seiner Nachkommenschaft der spanische Zweig der Darmstädter Sartorius-Familie hervorging. Von dem Sohn, von dem alle anderen Darmstädter Sartorius-Namensträger abstammen, dem Pfarrer Dr. theol. Johann Daniel Sartorius (1684–1748), soll sich eine ausführliche Lebensbeschreibung auf dessen Grabstein in der Leeheimer Kirche befunden haben.29 Dort soll auch bereits das Sartorius-Wappen mit dem Weinstock abgebildet gewesen sein. Johann Daniel Sartorius soll eine Familienchronik verfasst haben. Diese ist wahrscheinlich zusammen mit einer Bibel, die er zur Hochzeit bekommen hatte, in der Königsberger Linie vererbt worden30 und wird wohl in Crossen an der Elbe bei dem letzten Namensträger des Königsberger Familienzweigs, Ernst Sartorius, der wie sein Bruder Martin im 2. Weltkrieg vermisst geblieben ist, verloren gegangen sein.
In welcher Reihenfolge sollen die wichtigeren Sartorius-Verwandten hier genannt werden? Eine Rangordnung nach der historischen Bedeutung ist schwer zu erstellen, weil man darüber immer verschiedener Ansicht sein kann. Darum ordne ich die Familienglieder nicht nach ihrer Wichtigkeit, sondern nach der Reihenfolge der Familienzweige in der Tabelle 1 von oben nach unten.
Was hier mitgeteilt wird, ist, wie gesagt, nur eine höchst unvollständige Materialsammlung von dem, was mir mehr oder weniger zufällig bekannt geworden ist. Das erklärt und entschuldigt auch die unterschiedliche Ausführlichkeit der einzelnen Kapitel. Das Ganze soll die genealogischen Kenntnisse zur Sartorius-Familie, die bisher vor allem in den niederländischen und mexikanischen Familienzweigen gepflegt wurden, auch für die Mußbacher Sartorius-Nachkommen erschließen.
26 Ewald (2014). Sehr hilfreich sind die vom Ehepaar Stränz erarbeiteten Stammbäume in Sartorius K C (2014) und Ewald (2014).
27 Sartorius, H. (1969).
28 So berichtet Ewald (2014), S. 10 f., unter Berufung auf das Hessische Staatsarchiv.
29 Ewald (2014), S. 17. Ich habe inzwischen vom derzeitigen Pfarrer erfahren, dass die alte Kirche und der Grabstein nicht mehr existieren.
30 Ewald (2014), S. 15.
Die spanische Sartorius-Familie gehört zum iberischen Hochadel, Tabelle 2. Dass sie von der Darmstädter Sartorius-Familie abstammt, steht bei Hugo Sartorius.31 Dieser korrespondierte mit dem General der Luftwaffe, Carlos Sartorius y Tapia, Conde de San Luis y Viz-Conde de Priego und 4. Marquis de Marino (1900–1966), der ihm Dokumente für das Familienarchiv in Den Haag zur Verfügung stellte. Vielleicht besuchte Hugo Sartorius auch spanische Verwandte. So kann man zumindest seinen Bericht über eine Spanienreise in einem Brief an Erika Großer, geb. Sartorius, interpretieren.32 Obwohl man bei den Vettern Hugo und Carlos Sartorius in der 5. Generation nach einem gemeinsamen Vorfahren nicht mehr von naher Verwandtschaft reden kann, ist dieser Geschichte ein gewisser Unterhaltungswert kaum abzusprechen, zumal die Verbindung mit Isabel Sartorius y Zorraqui, wie das Internet verrät, mittlerweile gefährlich nah an das spanische Königshaus heranreicht. Diese Dame hatte 1989 bis 1991 ein Verhältnis mit dem damaligen Prinzen von Asturien, dem derzeitigen König der Spanier. Obwohl sie eine standesgemäße Partie gewesen wäre, wurde sie aus diversen Gründen, so das Internet, als Ehefrau nicht zugelassen.
Ich habe keinen Grund, an der Sorgfalt der Forschung von Hugo Sartorius zu zweifeln, will aber trotzdem auf Eigentümlichkeiten in der genealogischen Rekonstruktion hinweisen. Diese fangen schon bei dem Ahnherrn Johann Valentin Schneider (1668–1734) an. Seine Zugehörigkeit zu den Darmstädtern war anscheinend früher umstritten, gilt den Genealogen aber jetzt als erwiesen.33 Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern der Darmstädter Sartorius-Familie waren allerdings weder Johann Valentin noch seine Nachkommen Theologen, sondern Förster oder Sattler, Juristen, und sogar ein Leutnant der Artillerie war dabei. Letzterer studierte nicht an der Universität in Gießen, sondern in Marburg, das zwar dicht dabei, aber trotzdem außerhalb der damaligen hessen-darmstädtischen Landgrafschaft liegt. Schwer zu beantworten ist die Frage, warum ein Marburger Lutheraner in den Jahren zwischen der Französischen Revolution und Napoleon I. im katholischen Spanien so erfolgreich wurde, dass sein Sohn bereits bis zum Regierungschef unter Königin Isabella II. aufsteigen konnte. Ich habe darüber im hessischen Staatsarchiv in Marburg34 nichts gefunden, was an meiner Ungeschicklichkeit beim Internetzugang des Archivs gelegen haben kann. Ergiebiger wäre es wohl, in spanischen Archiven nach den hessischen Vorfahren des Ministerpräsidenten Graf Luis José Sartorius (1815–1871) zu fahnden. Diese Forschungsaufgabe muss ich der Nachwelt überlassen. Die Tabelle 2. gibt nur eine Auswahl der Sartorius-Namensträger von Valentin Schneider bis zu Isabel Sartorius wieder. Bei Sartorius, H. (1969), findet man noch viel mehr davon.
31 Sartorius, H. (1969).
32 Briefe von Hugo Sartorius an Erika Grosser vom 31.X.1967 und 31.X.1957 in SA K 1 c.
33 Sartorius, H. (1969), S. 56 f.
34 HStAM > Ki > Orte M.
Peinlicherweise weiß ich fast nichts über diesen Familienzweig, obwohl meine Anmerkungen zur Familiengeschichte in mehreren Kapiteln den genealogischen Forschungen von Hugo Sartorius verpflichtet sind, Tabelle 3. Fotos seiner Familie befinden sich im Sartorius-Archiv.35 Seine englisch abgefassten Texte sind sehr knapp und insbesondere bei Berufsangaben schwer verständlich. Die Erinnerungen meiner Frau und ihrer Schwester Elisabeth, die vor mehr als 50 Jahren die holländischen Verwandten je einmal in Amsterdam besucht hatten, sind verblasst.36 Ein Erholungsaufenthalt von Hugos Tochter Irmi Elfriede 1951 in Mußbach ist durch ihren Brief an Erika37 nachweisbar, hat aber kaum Gedächtnisspuren hinterlassen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich den Onkel Hugo nicht besucht habe, als ich in den 1960er-Jahren im Physiologischen Institut der Universität von Rotterdam, wo er damals lebte, einen Vortrag hielt. Er hörte oder las davon und beschwerte sich später bei meiner Schwägerin Erika Großer, geb. Sartorius, über meinen Mangel an Familiensinn. Wenn ich mich richtig erinnere, erfuhr ich erst dadurch, dass es diesen Onkel überhaupt gab.
Den knappen Angaben in seinen Veröffentlichungen38 und den wenigen Briefen und Familienfotografien im Sartorius-Archiv39 kann ich nur entnehmen, dass Hugo Sartorius nicht nur in Holland und Deutschland genealogische Daten gesammelt hat, sondern darüber hinaus die mexikanischen und möglicherweise auch die spanischen Verwandten besucht hat.
Ahnungslos bin ich auch über den vermutlich berühmtesten Vertreter des holländischen Familienzweigs, den Theologieprofessor in Amsterdam, Georg Frederik Sartorius (1775–1845). Nach Hugo Sartorius war er ein Universalgelehrter (“man of science: Mathematics and Natural-Science, Vice President Bible-Society in the Netherlands and of Lutheran Synode”).40 Vielleicht regt dieser Text einen der beiden Kirchenhistoriker41 oder sonst eine historisch gebildete Person in unserer Familie an, diese Wissenslücke zu schließen.
35 SA K 1 c.
36 Den Besuch von Gabriele Sartorius in Rotterdam auf der Rückreise von England dokumentierte Hugo Sartorius mit einem Fotoalbum. Elisabeth Sartorius´ Besuch ist durch ein Foto belegt in SA K 1 c.
37 Vom 22. Jan. 1952. SA K 1 c.
38 Sartorius, H. (1969), S. 58.
39 SA K 1 c.
40 Sartorius, H. (1969), S. 59, Porträt: ohne Seitenzahl weiter hinten.
41 Prof. Dr. em. Reinhard Schwarz an der Universität München, Prof. Dr. Winrich Löhr an der Universität Heidelberg.
Ernst Wilhelm Christian Sartorius (1797–1859) war offensichtlich ein bedeutender Vertreter der Darmstädter Sartorius-Familie.42 Er war ein gelehrter Theologe, dessen Bücher hohe Auflagen erreichten und noch heute – im übernächsten Jahrhundert nach seinem Tod! – nicht nur zitiert, sondern auch noch nachgedruckt werden.43
Nach dem Gymnasium in Darmstadt, an dem sein Vater lehrte, bezog er die Göttinger Universität. Schon mit 24 Jahren wurde Ernst Wilhelm Christian Professor an der Universität Marburg. 1824 folgte er einem Ruf nach Dorpat und übernahm 1835 mit 38 Jahren das kirchenleitende Amt in Königsberg. In Göttingen brachte er sich unter dem Einfluss des Professors Johann Gottlieb Planck, übrigens des Urgroßvaters von Max Planck, als Gegner moderner Richtungen der Theologie nach der Aufklärungsepoche in Stellung. Der fromme preußische Kronprinz, ab 1840 König Friedrich Wilhelm IV., war davon beeindruckt und setzte 1835 bei König Friedrich Wilhelm III. gegen den Rat des Kultusministers Altenstein seine Berufung zum 1. Prediger an der Königsberger Schlosskirche und Generalsuperintendenten der Provinz Preußen durch.
Ich halte mich trotz allen Respekts für den Urgroßonkel meiner Frau mit einer laienhaften Beurteilung seiner Bedeutung zurück, zumal ich mich nach oberflächlichem Studium lieber der Kritik eines anderen Familienvertreters anschließe, der sich von Ernst Wilhelm Christians Lehren distanzierte, siehe Kapitel 7 (d). Angemessen wäre es, seine theologischen Schriften und seine Verdienste in der Kirchenleitung inhaltlich zu würdigen. Vielleicht erbarmt sich eine oder einer der kundigen Familienglieder und schließt die Lücke, die ich mangels Sachkompetenz lieber offen lassen will. Wenn das nicht geschieht, empfehle ich den Nachgeborenen die Darstellung seiner Lebensleistung in der ADB44.
Bemerkenswert an Ernst Wilhelm Christian Sartorius ist auch seine Frau45: Maria Charlotte Wilhelmina von Engelhardt (1812–1887). Sie war die älteste Tochter des Dorpater Mineralogieprofessors Otto Moritz Ludwig von Engelhardt (1778– 1842) und Schwester von dessen jüngstem Sohn, dem Dorpater Theologieprofessor Moritz Baron Engelhardt (1828–1881). Damit verband sich Ernst Sartorius mit einer deutsch-baltischen Familie, die auch zwei Ururgroßmütter von mir stellte. Somit bin ich mit meiner Frau, wenn auch nur angeheiratetermaßen und recht weitläufig, aber dafür zweifach verwandt.
Von dem Königsberger Sartorius-Zweig, Tabelle 4, weiß ich nur, dass er traurig endete. Von den Nachkommen des Generalsuperintendenten waren je ein Sohn, Ernst Moritz Sartorius (1834–1919), und ein Enkel, Ernst Wilhelm August Sartorius (1867–1929), Pfarrer in Jüterbog bzw. Rädnitz. Die beiden Urenkel Ernst Sartorius (*1903) und Martin Sartorius (*1906) blieben im 2. Weltkrieg vermisst. Auch von den weiblichen Nachkommen des Generalsuperintendenten weiß ich nur, was Hugo Sartorius (1969) in Erfahrung gebracht hat. Ob von diesen Nachkommen jemals jemand bei den Verwandten in Darmstadt oder Mußbach gewesen ist, ist nicht bekannt. Fotografien von der Familie des Generalsuperintendenten sind überliefert, von den Enkeln und Urenkeln dagegen keine.46
42 Familienfotos: Großes rotes Fotoalbum: S. 31.
43 Z. B. sein Beitrag zur Apologie der Augsburgischen Confession (1853) im Jahr 2010 als Kissinger Legacy Reprint und die Lehre von der Heiligen Liebe oder Grundzüge der evangelischen Moraltheologie bei Forgotten Books.
44 ADB = Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 30 von D. Erdmann (Kopie in SA K 1 g).
45 Wikipedia nennt als erste Ehefrau Emilie von Vietinghoff, die Ernst W. C. Sartorius am 18.2.1830 geheiratet und im selben Jahr durch Tod verloren haben soll. Ich kann diese Dame bei GeneSys (Genealog. Datenbanksystem des Verbandes der Balt. Ritterschaften) nicht finden.
46 SA K 1 g.
In Mainz lehrte Prof. Dr. Erdmann Gormsen an der Universität das Fach Geografie. Er war mit einer Deutsch-Mexikanerin verheiratet. Im Jahr 1986 sprach ihn bei einem Empfang in der deutschen Botschaft in Mexiko Ingrid Sartorius, geb. Klein, an. Diese Mexikanerin deutscher Abstammung war in der Deutschen Botschaft beschäftigt. Sie hatte sich mit der Familiengeschichte ihres damals schon verstorbenen mexikanischen Mannes Günter Sartorius beschäftigt und war durch das Familienarchiv des Onkels Hugo Sartorius in Amsterdam darüber informiert, dass sie in Mainz eine Cousine mit Namen Gabriele von Campenhausen, geb. Sartorius, habe. Über diese Mainzer Cousine konnte Herr Gormsen genau Auskunft geben. Seine beiden Kinder waren mit unseren, die zur selben Schule gingen, freundschaftlich verbunden. Als ihre Mutter gestorben war, hatten die Kinder vorübergehend bei uns im Haus gelebt. Wenige Monate nach ihrem Gespräch mit Herrn Gormsen saß Ingrid Sartorius mit ihrer Tochter Fiona bei uns in Mainz.
Ingrid Sartorius war besser informiert als wir. Dass es mexikanische Sartorius-Verwandte gibt, war in Mußbach bekannt gewesen. Von einem Besuch des Ehemanns von Ingrid, des 1986 bereits verstorbenen Günter Sartorius, gab es sogar eine Fotografie, die ihn an der Parkmauer des Johannitergartens zusammen mit meinen Schwiegereltern und den vier jüngeren Töchtern zeigt.48 Meine Frau und andere Mußbacher Familienglieder konnten sich noch an den Besuch erinnern. Meine Schwiegereltern hatten aber aus ungeklärten Gründen kein weitergehendes Interesse an dem Verkehr mit den mexikanischen Verwandten entwickelt. Erika Großer, geb. Sartorius, stellte mir nach dem höchst aufschlussreichen Besuch von Ingrid Sartorius in Mainz die Schriften des Onkels Hugo Sartorius49 zur Verfügung, mit denen ich die Verwandtschaftsbeziehung verifizieren konnte. Mit Ingrid haben wir noch einige Jahre lang korrespondiert.50
Ingrid Sartorius konnte es kaum fassen, dass wir nichts von Karl Christian Sartorius wussten. Dieser war 1824 aus Deutschland nach Mexiko geflohen, weil er als Burschenschafter revolutionärer Umtriebe verdächtig und, was schlimmer war, als Freund von Karl Ludwig Sand, dem Mörder des Erfolgsschriftstellers und russischen Reichsrates August von Kotzebue, politisch verfolgt wurde. Ingrid staunte, dass wir das prachtvoll illustrierte Buch „Mexiko about 1850“ von Karl Christian Sartorius nicht kannten, obwohl es 1961 im Verlag F. A. Brockhaus in Stuttgart neu aufgelegt worden war, und dass wir offensichtlich keine Ahnung von der Bedeutung des Autors für die Geschichte von Mexiko hatten.
Sie wusste, dass Karl Christian Sartorius Lebenserinnerungen verfasst habe, die auf dem Mirador, seinem Landsitz im Staat Veracruz bei der Stadt Huatusco, von seinen Nachkommen noch immer aufgehoben würden. Sie glaubte, sie seien noch unveröffentlicht, was, wie ich später herausfand, nicht der Fall war.51 Sie versprach uns, sich um eine Abschrift für uns zu bemühen. Daraus wurde nichts. Für uns hat erst Winfried Wiegräbe 2004 diesen Schatz gehoben.52
Wir können uns heute nicht mehr vorstellen, jemals so unwissend über die Familie Sartorius in Mexiko gewesen zu sein. Wir kauften sofort einen Stapel des Prachtwerks, verschenkten es mehrfach und berichteten überall in der Familie von dieser Entdeckung. Damit weckten wir allerdings zunächst kaum Interesse. Wir spekulierten über die Gründe dafür, dass wir von diesem bedeutenden Verwandten noch nichts wussten. Wir dachten, dass der seinerzeit polizeilich gesuchte und gerichtlich verurteilte Revolutionär Karl Christian Sartorius vielleicht in der Familie, deren hiesige Vertreter im 19. Jahrhundert fast alle im Staatsdienst standen, totgeschwiegen und später vergessen worden sei. Diese Erklärung passte allerdings nicht recht zur fortschrittlichen Gesinnung von Otto Sartorius d. Ä., der 1903 für die Partei der Freisinnigen in den Berliner Reichstag einzog. Er müsste seinen berühmten Onkel 2. Grades, Karl Christian, als Kind noch kennengelernt haben, als dieser sich Anfang der 1850er-Jahre in Darmstadt aufhielt.
Ich durchsuchte unsere aus Mußbach geerbten Bücherbestände und entdeckte ein Geografiebuch53, in dem zwei Kapitel aus der Augsburger Zeitung stammten. Sie waren von Karl Christian Sartorius54 geschrieben worden. Die Existenz dieses Buches in Mußbach zeigte, dass Karl Christian Sartorius dort vielleicht doch nicht ganz unbekannt gewesen ist. Es wurde anscheinend nur nicht über ihn gesprochen. Die mexikanische Verwandtschaft ist von dem Ehepaar Stränz-Speckter in Stammbäumen und Listen sehr übersichtlich zusammengestellt worden.55 Das soll hier nicht wiederholt werden.
Unser Interesse lebte erneut auf, als ich im Jahr 2016, nach Lebensdaten von Alexander von Humboldt suchend, das Buch „Auf Humboldts Spuren“56 aus meinem Bücherregal zog. Dieses Buch war von uns noch nicht, wie sich aber herausstellte, von meinem Schwiegervater sehr wohl gelesen worden. Das verraten die Unterstreichungen von seiner Hand und seine Anmerkungen. Karl Christian Sartorius wird in diesem erst 1958 erschienenen historischen Werk von Pferdekamp als eine Lichtgestalt der deutsch-mexikanischen Geschichte im 19. Jahrhundert gefeiert.57 Warum mein Schwiegervater nichts davon in der Familie weitergegeben hat, ist, wie gesagt, unklar. Vielleicht wusste er nicht, dass Karl Christian sein Großonkel gewesen ist. Seine Anstreichungen bezogen sich überwiegend auf den Weinbau, Alexander von Humboldt und Mexiko.
Es ist nicht nötig, das Leben von Karl Christian Sartorius hier zu beschreiben, weil es bereits gute Literatur über ihn gibt.58 Die ursprünglich deutsche Ausgabe seines Hauptwerkes „Mexiko und die Mexikaner“ ist inzwischen auch als Faksimile-Reprint mehrfach erschienen. Die Schreibweisen seiner Vornamen variieren in den Titeln, weil der Name Christian in Mexiko unüblich und Karl auch Carl geschrieben wurde.59 Nach den unterschiedlichen Titelblättern zu urteilen, ist das Buch in den 1850er-Jahren möglicherweise mehrfach gedruckt worden. Die bibliografische Unübersichtlichkeit dürfte damit zusammenhängen, dass der Darmstädter Verlag bald nach der ersten Auflage bankrott ging.60
Dieses Hauptwerk ist eine schriftstellerische Leistung hoher Qualität. Es ist stofflich zwar sehr dicht geschrieben, aber trotzdem so anmutig abgefasst, dass man es auch heute noch wie ein Buch der schönen Literatur mit Vergnügen lesen kann. Es ist mit Stahlstichen nach Vorlagen von Moritz Rugendas, der auch für Alexander von Humboldt arbeitete, illustriert. Karl Christian hatte Rugendas, der einer Augsburger Künstlerfamilie entstammte, in Mexiko kennengelernt.61 Die Literaturangaben in den biografischen Beiträgen von Herman Haupt62 verweisen auf weitere Publikation in Deutschland und den Vereinigten Staaten, und auch Karl Christian selbst erwähnt mehrfach, dass er Manuskripte zur Publikation eingereicht habe.63
Für das persönliche Leben des Karl Christian Sartorius sind seine Lebenserinnerungen besonders aufschlussreich. Dieses interessante Buch wurde nur für die Jahre von 1796 bis 1819 von ihm selbst geschrieben. Seinem Sohn Florentino Sartorius verdanken wir die Fortsetzung nach Briefen und eigenen Erinnerungen. Der erste Teil ist eine wichtige Quelle für die Befreiungskriege in Deutschland, speziell für die deutsche Einigungsbewegung in Darmstadt und unter den Studenten in Gießen sowie die Anfänge der dortigen Burschenschaften. Die hier ausgewählten Mitteilungen sollen das Interesse des Lesers dafür wecken, die Erinnerungen von Karl Christian Sartorius selbst zu lesen. Die Seitenzahlen der Anmerkungen beziehen sich auf den von Winrich Wiegräbe edierten Text in der Druckausgabe von Wolfgang Stränz (Sartorius, K. S. (2014)).
Karl Christian nahm als Soldat der Freiheitskriege an dem unblutig verlaufenen Feldzug des Hessischen Freiwilligenkorps durch die Schweiz nach Südfrankreich 1813/14 teil. Er berichtet, dass die Freiwilligen ihren Kommandeur, einen General Prinz Emil von Hessen, durch Absingen revolutionärer Lieder verspotteten. Sie wollten nicht vergessen, dass das Großherzogtum noch kurz zuvor dem Rheinbund angehörte und Prinz Emil als General aufseiten Napoleons gedient hatte.64
In Gießen trafen viele von den Freiheitskämpfern beim Studium wieder zusammen. Sie gründeten eine „Teutsche Lesegesellschaft“, eine Vorstufe der späteren Burschenschaft, die nach ihrer Kleidung auch die „Gießener Schwarzen“ genannt wurden. Außerdem wurden von den Studenten Turnerschaften mit der nationalen Gesinnung des Turnvaters Jahn ins Leben gerufen. Karl Christian Sartorius richtete im preußischen Wetzlar einen Turnplatz ein. Einmal in der Woche wanderte er zum Turnunterricht von Gießen nach Wetzlar. Dabei lernte er den dortigen gleichgesinnten Direktor des Preußischen Gymnasiums Ludwig Snell kennen.
Karl Christian dichtete vaterländische Lieder, die zusammen mit Versen von Theodor Körner, Ernst Moritz Arndt, Max von Schenckendorff und dem Führer der Gießener Burschenschaft, Karl Theodor Follen usw. gedruckt wurden. Aus dem zeitgenössischen Turnliederbuch65 zitiere ich von Karl Christian Sartorius:
„Wir wissen nichts von arm und reich,
von Titel, Rang und Stand.
Turnbrüder sind in allem gleich,
ihr Gut heißt Vaterland!“66
Und:
„Ja wir woll’n ein Reich erschaffen
für den Geist mit Geisteswaffen.
Gerne sei da jeder Knecht,
Herrscht nur: Glaube, Freyheit, Recht.“67
Unveröffentlichte Gedichte sollen sich bei den Vernehmungsakten von Karl Christian Sartorius in Berlin befinden. Bundesarchiv?
Die frühen Burschenschaften bildeten ein politisches Gesinnungsnetzwerk über ganz Deutschland. Studenten der Universität Jena luden mit Bezug auf das 300-jährige Reformationsjubiläum zum Burschenfest auf die Wartburg ein. Am 18. und 19. Oktober 1817 fanden sich dort 450 Teilnehmer ein. Vom Ablauf dieses Festes lieferte der Jenenser Student Friedrich Johannes Frommann noch im selben Jahr einen detaillierten Bericht, der alsbald im väterlichen Verlag erschien.68 Was Karl Christian Sartorius knapp 40 Jahre später auf dem Mirador aus dem Gedächtnis aufschrieb, stimmt damit überein. Karl Christian Sartorius war einer der vier „Burgmänner“, die mit dem sogenannten „Burgvogt“ die Spitze des feierlichen Zuges vom Eisenacher Markt zur Wartburg bildeten. Am zweiten Tag des Festes war er auch einer der Redner auf der Wartburg.
Karl Christian Sartorius brach bald nach dem Wartburg-Fest unter dem Einfluss des gleichgesinnten Lehrers Snell in Wetzlar sein Jurastudium ab, um nach kurzer Vorbereitungszeit noch 1819 ein Examen für den Schuldienst abzulegen und die Stelle eines Hilfslehrers in Wetzlar anzutreten. Ganz harmlos können seine revolutionären Aktivitäten in dieser Zeit nicht gewesen sein. Er erwähnt, dass er an einem geheimen nächtlichen Treffen von aufständischen Bauern im Odenwald teilgenommen habe.69 Zu Fuß wanderte er 1819 nach Koblenz, um die damals noch revolutionär gesinnten älteren Gesinnungsgenossen Johann Joseph Görres (1776–1848) in Koblenz, Ernst Moritz Arndt (1769–1860) in Bonn und den Kölner Staatsprokurator Ludwig von Mühlenfels (1793–1861) vor in Berlin beschlossenen Durchsuchungsabsichten der Polizei zu warnen und ihnen beim Beseitigen belastender Papiere zu helfen.70 Er erwähnt, dass er Papiere des Oberst Christian Karl August Freiherr von Massenbach (1758–1827) vor dessen Verhaftung in Sicherheit gebracht habe. Massenbach hatte kritische Schriften zur Kapitulation von Preußen 1807 veröffentlicht.71
Die Schwierigkeiten eskalierten, als er am 21. Mai 1819 seine Mutter in Darmstadt besuchte. Dort traf er mit dem befreundeten72 Jenenser Burschenschafter Karl Ludwig Sand zusammen, der am Folgetag in Mannheim den Erfolgsschriftsteller und russischen Reichsrat August von Kotzebue ermordete. Die bewegende Schilderung dieser Episode sollte man in Karl Christians Lebenserinnerungen selbst lesen.73 Karl Christian wurde danach verhört. Man konnte ihm aber keine Mitschuld nachweisen. Im Mai 1820 wurde er mit einer Urkunde vom Hofgericht Mannheim „von jedem Verdachte der Mitwisserschaft freigesprochen“.74
Der Mord an Kotzebue wurde ihm aber trotzdem zum Verhängnis, weil er zu den Karlsbader Beschlüssen und den sogenannten Demagogenverfolgungen in den deutschen Staaten führte. Bei den gerade erwähnten revolutionären Gesinnungsgenossen wie auch bei Ludwig Snell und Karl Christian Sartorius fanden Hausdurchsuchungen statt. Karl Christian wurde im November 1819 verhaftet und später mit der Auflage, Preußen nicht zu verlassen, auf freien Fuß gesetzt. Er verlor seine Lehrerstelle und musste sich als Hauslehrer durchschlagen, u. a. bei den Freiherrn Löw von und zu Steinfurt bei Friedberg. Zum Aufenthalt im hessischen Steinfurt benötigte der im preußischen Wetzlar wohnende Karl Christian eine ministerielle Sondererlaubnis.
Der Sohn Florentino berichtet, dass sein Vater im Herbst 1820 eine „lange Verteidigungsschrift verfasste, die an die oberste preussische Justizbehörde gerichtet war und seine vollständige Freisprechung beantragte“.75 Die gerichtlichen Untersuchungen zogen sich in die Länge. Darum wartete er das Urteil nicht ab, das erst gefällt wurde, als er bei Arndt in Bonn untergetaucht und von dort 1824 nach Veracruz in Mexiko aufgebrochen war. Er wurde zu sechs Jahren Festungshaft verurteilt.76 Es hätte schlimmer kommen können. Der spätere als Dichter berühmt gewordene Fritz Reuter (1810–1874) wurde 1836 wegen burschenschaftlicher Umtriebe in Berlin verhaftet, zum Tode verurteilt, zu lebenslänglicher Festungshaft begnadigt und kam erst 1840 auf Grund einer von König Friedrich Wilhelm IV. erlassenen Amnestie frei.
Die gemeinsame Aufbruchstimmung zur Schaffung eines geeinigten Deutschen Reiches ohne Zensur und ohne Standesprivilegien muss großartig gewesen sein. Die Burschenschafter schwärmten dafür, waren allerdings untereinander über Einzelheiten ihrer Ziele und Satzungen in der Anfangszeit höchst uneinig. Der Pfarrerssohn Karl Christian schreibt in seinen Lebenserinnerungen: „In religiösen Dingen waren wir eigentlich alle Rationalisten, und da wir Katholiken und Protestanten in unseren Kreisen hatten, einigten wir uns auf rein christlichem Fuße über Glaubenssätze. Aber das hinderte nicht, dass wir an poetischem Mystizismus Gefallen fanden, an jenem dunklen Schauen des Unbegreiflichen.
Es fiel in diese Zeit, dass mein Vetter Ernst Sartorius77 in Göttingen Theologie studierte. Er korrespondierte mit mir und entwickelte in einem seiner Briefe, dass er sich streng an den Glauben halte, an die Offenbarung als die einzige Quelle aller Religion. Als erklärter Supranaturalist wollte er auf keinen meiner Einwürfe eingehen, und so kündigte ich ihm meine Freundschaft auf, weil ich mit einem Finsterling nicht Hand in Hand gehen könne. Und dieser Riss wurde nie wieder geheilt, sosehr auch später mein Oheim eine Annäherung wünschte und herbeizuführen versuchte.“78
Diese Episode darf aber nicht als vollständige Abkehr von der christlichen Familientradition verstanden werden. Im Zusammenhang mit der Konfirmation seines Schülers Löw zu Steinfurt soll Karl Christian 1820 einmal in Friedberg in einer Kirche gepredigt haben.79 Kompliziert waren die konfessionellen Verhältnisse in Mexiko, weil Karl Christian, wie er schreibt, als Mexikaner gewissermaßen definitionsgemäß katholisch war. Einige seiner Nachkommen erhielten bei der Taufe durch mexikanische Priester erstaunliche Vornamen, wie Melqiades, Pumposa oder Guillerma, die an dort verehrte Heilige erinnern sollten.
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