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Originalausgabe.
© 2020
edition andiamo - Jan Turovski
Lektorat : Anna Schneider.
Umschlag-Fotografik: Jan Turovski.
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.
ISBN 978-3-7504-5807-9
Printed in Germany
Nowhere Point
ist ein Roman, eine erfundene Geschichte.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen
wäre daher rein zufällig.
Jan Turovski
Pain - has an Element of Blank -
It cannot recollect
When it begun - or if there were
A time when it was not -
It has no Future - but itself -
Its infinite contain
Its Past - enlightened to perceive
New Periods - of Pain
*
Schmerz - hat einen leeren Fleck
Er weiß nicht mehr
Wann er begann - und ob da Zeiten
Wo es ihn nicht gab.
Hat keine Zukunft - nur sich selbst -
Sein Endlossinn
Vergangenheit - erhellt zu spüren
Neuer Zeiten - Schmerz.
(Emily Dickinson, 1830-1886 - Amherst, Massachusetts)
Übersetzung: Jan Turovski
Sie war noch nicht gänzlich wach. Sie, und alles was sie umgab, war ein einziges Gefühl. Es gab keine Ecken und Kanten. Es gab weder Konturen noch Verläufe. Irgendwo mochten da Grenzen sein, doch sie fühlte sie nicht. Sie lag, sie schwebte. Ein winziges Geräusch, das Knistern einer Feder. Helles Rosa hinter den Lidern. Wohlige Wärme, Licht, wie wachsweiche Wolle. Eine zärtliche Berührung. Angenehme Töne, vielleicht auch einige Stimmen. Es war, als löse sie sich aus puderigen Horizonten, käme schmerzlos zur Welt. Das alles, glaubte sie, hatte sie zuletzt als Kind gefühlt. Doch wusste sie nicht einmal genau, ob sie noch Kind war oder nicht.
Sie wagt ein Blinzeln. Ein helles, diesig verhangenes Fenster. Ein kleiner schwarzer Wecker, ein weißes Zifferblatt, zehn vor neun. Soviel sie weiß, stand sie als Kind um sieben Uhr auf. Als Erwachsene um sechs, oder um fünf. Sie hat also eine Erinnerung an Kindheit und Erwachsensein. Doch was ist sie jetzt? Und wenn sie sich an ein Erwachsensein erinnert, kann sie kein Kind sein. Doch sie kennt keinen kleinen, schwarzen Wecker. Und Voile-Gardinen, die ein Fenster bodenlang verhängen, kennt sie auch nicht. Ist sie eingesperrt? Wie heißt sie, wer ist sie?
Guten Morgen, Darling!
Jetzt fühlt sie im Rücken den warmen Körper eines Mannes. Irgendwo aus unteren Räumen dringen Kinderstimmen zu ihr. Sie würde wetten, dass der Mann schlank ist, braun gebrannt und dass er dunkles Haar hat. Aber hat sie nicht allein gelebt? Oder ist sie klein, ist es ihr Vater?
Guten Morgen, sagt sie vorsichtshalber.
Sie hält die Augen weiter geschlossen. Etwas kann hier nicht stimmen. Sie scheint wach zu sein. Ja, wach. Sie, und alles was sie umgibt, ist kein einziges Gefühl mehr. Es gibt unverständliche Ecken und Kanten, es gibt Konturen und Verläufe. Irgendwo sind Grenzen, aber sie kann sie nicht sehen. Sie liegt, doch sie schwebt nicht. Sie hat eine gut entwickelte Brust. Sie muss erwachsen sein.
Winzige Geräusche zeichnen Bilder ins Ohr. Das Knistern von Federn. Helles Rosa hinter Lidern. Wohlige Wärme, Licht. Eine zärtliche Berührung. Angenehme Töne, ein Traum vielleicht. Sie hat diesen Pastell-Horizont verlassen, sie ist auf der Welt. Doch wo ist sie? Sie kennt die Gardine nicht, nicht diesen Wecker, nicht die Stimme des Mannes, oder die zweier ferner Kinder. Aber seine Stimme ist warm, voll und angenehm, und sie möchte das alles für einen Traum halten.
Es ist Sonntag, sagt der Mann, ich mache das Frühstück. Bleib du noch liegen. Die Kinder spielen. Ich liebe dich.
Sie wohnen nahe Camden, am Meer. Sein Geruch ist überall, bis hinauf auf die Höhe der neuen Siedlung.
Du lieber Gott! Er küsst sie tatsächlich in den Nacken und steht auf. Sie schauert ein wenig. Er ist schon rasiert. Sie wagt nicht sich umzudrehen, wagt nicht hochzusehen. Sie hält die Augen geschlossen, presst die Lider bis es schmerzt. Sie ist erwachsen. Sie wird geliebt. Das ist nicht ihr Vater. Ihre Mutter wird auch nicht da sein. Das sind nicht ihre Geschwister. Hatte sie überhaupt welche?
Welcher Sonntag? Welches Haus? Welcher Mann? Was für Kinder? Das Merkwürdige ist, sie hat keine Angst. Sie ist entsetzt, aber sie hat keine Angst. Sie fühlt sich sicher. Alles was sie hört und fühlt, hat sie sich immer gewünscht. Aber sie kennt es nicht. Sie weiß nicht wo sie ist und warum sie hier ist; sie weiß nicht einmal wie sie heißt. Es ist, als lebe sie in zwei unterschiedlichen Körpern.
Guten Morgen, Darling!
Ally Fullerton erwacht in einem fremden Haus, bei einem wildfremden Mann, mit unbekannten Kindern. Wesentliche Teile ihrer selbst scheinen ihr zu fehlen. Ally Fullerton erwacht in einem ganz anderen Leben.
Er erinnert sich. Sie sitzen alle vier am Tisch. Sarah hantiert vor dem Fenster, das sie mit Licht übergießt. Sie überkommt eine unwirkliche Aura. Er erinnert sich gern. Er hasst sich dafür, dass er sie manchmal für banal gehalten hat, wenn sie müde war. Seine Erinnerung ist ihm dann zuweilen lästig, aber ohne sein Gedächtnis wird er diese Geschichte nicht durchstehen. Auch seine Nase erinnert sich jetzt und sie scheint den Abstand zu Sarah messen zu können. Er erinnert sich gern an die ersten Sommernächte hier draußen, die neuen Einzelhäuser der Nachbarn in genügender Entfernung, auf dem Laken lediglich Licht und Lust aus dem im Nichts endenden Himmel.
Ich durchschaue dich, hatte er leise lachend gesagt. Ich lese in dir. Ob Du es willst oder nicht.
Und er hatte gemeint, dass er sie kannte für immer, dass er aus ihrer Geheimnislosigkeit ein neues, ewiges Geheimnis für sich gemacht hatte. Und auch er hatte für sie geheimnislos sein wollen. Waren sie nicht angekommen in einer eigenen unangreifbaren Welt, mit diesen beiden Kindern, William und Evelyn, vier und fünf Jahre alt?
Ich weiß wie du es meinst, hatte Sarah gesagt, und ihre offene Hand auf seiner nackten Brust liegen lassen, ich will nur nie unsichtbar für dich sein. Niemals.
Er erinnert sich. Vier am Tisch. William im hohen Kinderstuhl, Evelyn auf zwei Kissen, damit sie größer ist. Sarah hantiert mit den Corn-Flakes und das Licht verbrennt ihr Haar. Er sieht die eibenrote Kommode, hört Geräusche, sieht in der Durchreiche den Streifen der Küchenfliesen, die darin immer wieder entstehenden Phantasiefiguren und auch die im Furnier der Kommode. All das flieht in ihn, als wolle es Sicherheit und es erzeugt das Gefühl hier zu sein, in seinem Leben, in den richtigen Umständen. Und dann plötzlich wieder diese quadratisch blank-weiße Stelle im Hirn, wie ein Stück Milchglas, das fehlende Viertel in einem gefälligen Foto. Das helle Loch, ein weißer Blackout.
Sie hört ihn nach oben kommen. Er geht langsam und umsichtig. Er trägt etwas. Doch er muss jung sein. Seine Füße sind jedenfalls jung. Seine Stimme ist jung. Sie liegt jetzt halb auf der Seite, doch kann sie das Zimmer in einem Ausschnitt erkennen. Im linken Augenwinkel bewegt sich die weiße Tür mit farbig ausgemalten Kassetten. Er kommt rückwärts herein, sein Haar tiefdunkel.
Er trägt einen schwarzweiß gestreiften, seidigen Morgenmantel. Mit dem rechten Ellenbogen schiebt er die Tür zur Wand. Ally schaut wieder zum Fenster, sie will ihn noch nicht sehen, sie fürchtet sich vor der Endgültigkeit seines Gesichts. Mit dem Fuß schließt er die Tür bis zu einem kleinen, verschwiegenen Spalt.
So, Darling, sagt er, Sonntag, Frühstück im Bett! Wie immer.
Sie dreht sich langsam herum, länger kann sie nicht warten. Der Mann mag sechsunddreißig sein. Starke Augenbrauen, feine Nase, braune leidenschaftliche Augen. Schöne Lippen und Zähne. Ein graues Unterhemd auf schwarz behaarter Haut. Ein modisches Worker-Shirt. Er lächelt, beugt sich herab, und stellt ihr das Tablett auf den Schoß.
Danke, sagt sie beeindruckt und verwirrt.
Du bist wirklich wunderschön heute Morgen, sagte er leise.
Oh, sagt sie lächelnd, und schüttelt ihr offenes Haar.
Er hat es auf eine Weise gesagt, als sähe er sie zum ersten Mal.
Danke, ... John, sagt sie wie durch einen Schleier.
Damit hat er nicht gerechnet. Noch einmal liest sie den eingestickten Namen auf der Brusttasche seines Morgenmantels. Er denkt einen Augenblick nach, dann streift er selbst fast unmerklich die Stickerei.
Ally Fullerton sieht diesen Mann zum ersten Mal. Daran kann kein Zweifel bestehen. Sie hat keine Ahnung wie lange es dauern wird, bis sie klar sieht. Aber sie hat keine Wahl. Sie wird dieses Spiel vorerst mitspielen müssen. Wie gut, dass sie sich nicht fürchtet!
Ich bin unendlich müde, sagt sie bald wahrheitsgemäß.
Sie liebt jetzt diese plötzliche, unerklärliche Müdigkeit, denn sie wird im Bett bleiben können. Und das Bett ist ein guter Ausgangsort für Erkundungen jeder Art. Was tut sie, wenn er mit ihr schlafen will?
Bald wird es dir besser gehen, Sarah, sagt er.
Das hoffe ich auch, sagt sie, und erkennt bei jeder Antwort ein minimales Zögern in ihm, in seiner Sprache, den Bewegungen, als glaube er sich über irgendetwas zu täuschen.
Die lange Zeit im Krankenhaus!
Wie lange war ich eigentlich fort?
Fast ein Jahr, Darling, ein langes Jahr lang.
Sie schweigen. Zwischen ihnen knistert manches Geheimnis und eine Anziehungskraft, die vor allem Ally sich nicht eingestehen will. Auf seinem Nachttisch steht, von ihr abgewandt, ein Silberrahmen, in dem sie ein Foto von Kindern vermutet, die sie nicht kennt. Auf der Kommode neben dem Fenster liegen Exemplare des National Geographic und am Fußende ein aufgeschlagenes Heft von Harper's Bazar.
Sie isst zwei Scheiben Toast mit dunkler Marmelade und trinkt zwei Tassen Kaffee. Eine Schale mit Cerials lässt sie stehen. Mehr schafft sie einfach nicht.
Und hier, deine Medizin, sagt John.
Ach ja, sagt sie, was nehme ich denn im Moment?
Dein Beruhigungsmittel, Schatz, einfach wie immer. Du sollst es noch zwei Wochen nehmen!
Ich hätte lieber Milch, sagt sie, als er auf das Glas Wasser zeigt.
Du musst es mit Wasser nehmen.
Sie dreht sich zum Fenster und schließt die Augen.
Er öffnet die Tür. Sie erkennt eine blauweiße, kleingeblümte Tapete an der nach unten führenden Treppenwand. Links vom Schlafzimmer öffnet John eine Tür, lässt Wasser laufen. Da also ist das Bad. Irgendwann wird sie es benutzen müssen. Wann war sie eigentlich zuletzt auf der Toilette. Wenn nun John, ... oh mein Gott ... Sarah, ein schöner Name.
Hallo, Mama!
An der Tür lehnt ein knapp fünfjähriges Mädchen, an der Hand einen Jungen, fast drei Jahre alt. Sie sind beide eibenblond, wie sie selbst, tragen Jeans und das gleiche rote T-Shirt mit dem weißen Slogan Chicago Bulls. Ihr kommen die Tränen. Einmal, weil sie diese Kinder nicht kennt, zum anderen, weil sie selbst gern solche Kinder hätte.
Oh, ihr beiden Süßen, sagt John, ...eh, hier dein Wasser!
Die Kinder kommen langsam auf sie zu, lassen sich aber nicht los. Sie schauen sie staunend an und kriechen schließlich vorsichtig aufs Bett. Ally zieht sie an sich, was soll sie tun, sie drückt sie, sie riecht an ihnen, sie küsst sie. Sie hat keine Wahl, es gefällt ihr, sie hat ein schlechtes Gewissen, es sind schließlich nicht ihre Kinder. Sie beginnen nach kurzer Zeit auf dem Bett zu toben. Die Kinder haben ihre Haarfarbe . Evelyn ist bedächtiger. Die Gesichter erinnern an Putten. Helle Haut, die Augen ein Leuchten mit Fragen.
Das ist jetzt genug, William, komm Evelyn, Ma ist noch schwach. Sie muss sich schonen. Spielt unten, aber lasst Roosevelt nicht raus!
Sie rennen die Treppe hinunter, bleiben verschwunden. Einen Hund hat sie bisher nicht gehört. Kein Bellen. Ein Phänomen. Roosevelt.
Sie haben dich fast ein Jahr nicht gesehen, sagt John. Es ist ein bisschen schwierig. Sie werden sich wieder an dich gewöhnen.
Sie fühlt sich, als hinge sie plötzlich fest, irgendwo im freien Fall. Er setzt sich auf die Bettkante, an der Fensterseite.
Ich komme immer wieder nach dir zu sehen, Sarah, bitte bleibe im Bett! Wenn du irgendetwas brauchst, rufe einfach!
Dann küsst er sie auf die Stirn, er riecht unnachahmlich nach Obsession. Hatte sie nicht ... ihrem letzten Freund ...Venezia geschenkt? Sein Name fällt ihr nicht ein, aber bei Gerüchen kann sie sich nicht irren. Hatte sie überhaupt einen Freund? Hatte sie die Parfum-Szene im Film gesehen, war sie in einem Buch beschrieben? Sie weiß genau wie Venezia riecht und dass Obsession nicht Venezia sein kann.
Und dann tut John etwas, mit dem sie nicht rechnen konnte. Er zieht die Bettdecke sanft nach unten und küsst ihre beiden Brüste, die sich lose unter dem fremden Nachthemd bewegen. Sie schließt die Augen. Sie lässt sie geschlossen. Wer hat sie hierher gebracht? Wer hat sie ausgezogen? Mein Gott, wenn dieser John sie nackt gesehen hat! Aber wenn sie tatsächlich seine Frau ist, dann wäre ja alles in Ordnung. Ihr wird schwindelig. Sie zieht die Decke hoch, dreht sich zur Seite, schließt die Augen. Es ist wirklich das Allerbeste, wenn sie schläft. Entweder sie wacht ganz woanders auf, weil sie geträumt hat, oder doch hier, in diesem Bett. Dann muss sie sich ernstlich Sorgen machen, denn diesen Mann kennt sie nicht. Dieses Haus kennt sie nicht. Und die Kinder sind nicht ihre Kinder. Sie sieht noch, wie er das Zimmer verlässt und die Tür zuzieht. Dann fällt sie in einen Abgrund aus rotierenden Schatten.
Die Welt kommt wieder in Ordnung, Sarah, hat er gesagt. Doch die Welt muss riesengroß sein, kein Mensch könnte sie je ganz kennen. Und sie kennt nicht einmal diese fünfundzwanzig Quadratmeter Schlafzimmer. Ally Fullerton hat keine Ahnung wer Sarah ist, welchen Vor- und Familiennamen sie trägt. An einem x-beliebigen Sonntag ...
John, John, was hast du bloß mit mir, ... sagt sie ohne zu wollen, aber ihre gedämpfte Wut kann sie nicht mehr ausdrücken.
Sie gleitet in einen sinisteren Schlaf. Und vielleicht, ja vielleicht, tut sie ihm sogar Unrecht.
Er erinnert sich. Er fährt durch Landschaften nordöstlich seines Hauses. Er kann gar nicht anders. Denn da oben liegt eine Reihe kleinerer Städte, die er als Repräsentant einer Arzneimittelfirma regelmäßig besucht. Er kennt ganz Maine. Und das Panorama einer bestimmten Kurve, dreißig Meilen von hier, erzeugt das Gefühl geborgen zu sein, obwohl diese schmerzhaft leere Stelle in ihm nicht verschwunden ist. Das fehlende Viertel eines Fotos, blankweiß wie Milchglas.
Er hat Sarahs Verschwinden nie akzeptiert. Die Kinder sind nicht allein. Er verdient gut. Er hat ein Kindermädchen engagiert. Irgendwann, später, wird er erklären müssen, dass ihre Mutter, dreieinhalb Jahre nach der Geburt Williams, an einem x-beliebigen Tag das Haus verließ, in ihren Kleinwagen stieg um etwas einzukaufen und verschwunden blieb. Monate lang hatte er alles versucht. Es gab keine Spur von ihr. Und eines Tages, zufällig, entzifferte er auf der Vorratsschachtel ihrer Nachtcreme einen Satz, den er sich nicht erklären konnte. Der beginnt ohne regulären Anfang und endet ohne Punkt:
‘... entdeckte ich erschreckt, dass es hinter den Sternen noch viel mehr Land geben muss ...‘
Es war eindeutig die Schrift seiner Frau, seiner Sarah. Eilig hingeschrieben, die Buchstaben größer als sonst. Vielleicht auch nachlässiger. Er saß auf der Toilette und hatte die Vorratsschachtel in die Hand genommen. Einfach so. Weil er an sie dachte. Ihre Nachtcreme. Auf der Rückseite dann diese Worte. Seine Hände hatten gezittert. Es war keine gewöhnliche Nachricht. Es konnte auch ein Zitat sein. Es könnte ihr Verschwinden erklären. Er hatte die Worte im Internet untergebracht und keine Antwort erhalten. Die Schachtel mit den halbleeren Tuben darin hatte ihren besonderen Platz im Medizinschrank. Oben links. Und immer, wenn er sie hervorholte und auf die Tuben drückte, schien dieses Klock Klock ihn noch weiter von Sarah zu entfernen.
In ihrem Supermarkt, in dem sie fast alles kaufte, war sie an jenem Tag nicht angekommen. War sie verunglückt? War sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen? Man hätte wenigstens ihren Wagen finden müssen. War sie ins Meer gestürzt? Dort, an einer ganz bestimmten Stelle der Küstenstraße, die ihnen aus persönlichen Gründen viel bedeutete, die in abenteuerlichen Bögen übers Wasser hinausreichte, konnte ja in riesiger Tiefe beinahe alles verschwinden. Das Geländer war immer wieder beschädigt. Man hatte einst Taucher eingesetzt, aber nichts gefunden. Vielleicht hatte sie sich verlassen irgendwo das Leben genommen. In diesem großen Land gab es Millionen abgelegener Plätze, wo selbst ein Auto sich in Nichts auflösen konnte.
Wieder und wieder hatte er die Schachtel hervorgeholt, über den Satz nachgedacht, den er bald gleichgültig hingeschrieben fand, bald unter dem Einfluss großer emotionaler Aufwallung. Nie konnte er eine ausreichende, geschweige denn eine plausible Erklärung finden. Und manchmal schien er ihm nur noch wie die Spur schäbiger Sterblichkeit. Aber er konnte den Satz nicht einfach ablegen. Es kam vor, dass er da saß und weinte, weil die Fragen, die er ihr im Bad leise stellte, nicht beantwortet werden konnten. Die Ungewissheit, ob sie im vollen Einvernehmen mit sich selbst ein neues Leben angefangen hatte, ob sie einsam irgendwo gestorben war, oder vielleicht abhängig in irgendeinem Abseits lebte, höhlte ihn aus.
Alles was er zukünftig täte, schien benetzt vom Erlebnis ihres Verlustes und der Auffindung dieser im Raum schwebenden schlichten, doch fast pathetischen Worte.
Es war unglaublich, dass er die gleiche Frische und Jugendlichkeit bewahrt hatte, wie zu der Zeit, als Sarah noch da war. Man hatte ihn verdächtigt, man hat gemutmaßt, doch seine äußerliche Unversehrtheit hat mit den Genen zu tun, die er von beiden Eltern geerbt hat, mit dem unbedingten Willen, immer anzukommen und eine Lösung für alles zu finden. Seine Eltern sehen zehn Jahre jünger aus als sie sind. Noch immer. Fährnisse des Lebens haben sie kaum angegriffen. Wie sie, schien auch er außerhalb jeder Korrosionsfähigkeit. Sie lebten in Pasadena. Er lebte in Maine.
Es ist, als seien die unteren Räume dunkel, wie unter Wasser verschattet, obwohl von da helles Licht kommt und Stimmen, wie kleine Kometen. Vermutlich liegt das Haus allein. Weit und breit kein Nachbar. Ally richtet sich auf. Sie ist benommen, aber sie fühlt sich wohl. Nur ihr Kopf scheint zu schwer für diesen Körper, doch er schmerzt nicht. Sie hält die Lider geschlossen, wartet eine Weile.
Hinter den Augen entsteht ein anderes Zimmer, dunkel, ein anderes Gesicht. Undeutliche Begriffe laufen da wie Nachrichtenbänder, aber sie kann die Worte nicht übersetzen. Sie hat ein Gefühl von Schrecken, doch dieser Schrecken hat nichts mit dem Jetzt zu tun. Mehr kann sie nicht feststellen. Sie fühlt sich wie damals, als sie zur Strafe immer wieder für irgendetwas eingeschlossen wurde und man stundenlang nicht nach ihr sah. Damals, in der Pubertät. Wieso weiß sie es noch? Sie weiß nicht mehr wer sie eingeschlossen hatte. Mutter oder Vater. Kann sich keine Gesichter mehr vorstellen. Sie weiß nicht ob sie noch leben oder nicht und wo das alles war. In ihrem Kopf sind ganze Flächen leer. Ist sie überhaupt bei Eltern aufgewachsen? Die Pubertät muss lange her sein.
Ally geht zum Fenster. Etwa hundert Yards entfernt steht das nächste Haus. Und dahinter noch weitere in diesem Abstand. Es ist ein strahlender Maitag. In den Gärten bewegen sich einzelne Gestalten. Links, seitlich, endet die Landschaft abrupt im Himmel, als sei da Wasser. Rechts erkennt sie eine grüne Hügelkette mit einigen bizarren Felsen. Auf dem Weg ins Bad nimmt sie den Silberrahmen von Johns Nachttisch hoch. Sie sieht sich selbst mit zwei Kindern. William auf ihrem Arm, Evelyn an der Hand. Weiße Gartenmöbel. Eine Hecke. Sie zuckt zusammen. Sie begreift nicht, denn eines ist sicher: Das Kleid, in dem sie dort steckt, hat sie noch nie gesehen.
Von der Galerie lauscht sie angestrengt nach unten. Sie hört John mit den Kindern murmeln, wie hinter Bergen aus Watte. Ein herrliches Haus. Ein aufwendiges Haus. Unter schrägem Fenster ein geschlossener Sekretär und ein gepolsterter Stuhl. Bilder, Bücher. Ein Schreibset. Ein weißes Regal. Der Duft von Kiefern und Fichten.
Leise schließt sie die Tür zum Bad. Sie lehnt den Kopf, als sei er ein Fremdkörper, an die geschlossene Tür. Als sie sich entkleidet, sieht sie sich einige Male nervös um. Sie hat Angst abzuschließen. Als sie aus der Dusche kommt, wagt sie den Blick in den riesigen runden Spiegel. Sie ist sich nicht fremd, aber sie scheint nicht mit sich identisch.
Du da bist jedenfalls nicht Sarah, sagt sie leise, und hört lange nicht auf, den Kopf zu schütteln.
Man sieht nichts als ein Haus, wenn man über eine andere Ehe nachdenkt, nichts als den Garten, die Fenster und Pflanzen. Eine andere Ehe, eine andere Familie, das ist eine unwägbare Inszenierung, deren Auftritte und Abgänge einem fremd sind. Die Rituale sind fremd und können nie zu Eigentum werden, und was sie so unschätzbar macht ist der Fehler, dass man sie mit der eigenen Welt, den eigenen Erfahrungen vergleicht. Aber was hat man auch sonst zur Verfügung? Kaum einer kann über seine eigene Welt hinausdenken. Sobald sich etwas auftut, das gänzlich fremd erscheint, will man in dieser Musik Neutöner erkennen und lehnt sie in der Regel ab.
Jede Straße ihre eigene Haut. Jede Gegend hat ihre speziellen Gesetze. John Haddock, verbindlich, freundlich und erfolgreich. Er ist anerkannt, obwohl man über sein inneres Leben nicht viel weiß. Seine Frau Sarah hat zurückgezogen gelebt, doch galt sie nicht als verschlossen. Sie war schön und herzlich. Und Sarah ist offenbar zurückgekehrt. Allein das zählt. Alle Beteiligten sind erleichtert und haben die Akten geschlossen. Sie hatte ihren Wagen zu Schrott gefahren, das Gedächtnis verloren und lange Zeit in einer Klinik in Pennsylvania zugebracht, ohne dass man sie dort hatte identifizieren können. All das hat John erzählt und auch, dass sie eher zufällig, in einem lichten Moment, ihre Adresse genannt haben soll. Wer kann daran zweifeln? Ein privater Krankentransport hatte sie erst kürzlich gebracht und John hatte gleich über Sarah ein Auskunftsverbot verhängt, weil das für ihre Genesung unabdingbar sei.
Sie sitzt in der Ecke des Schlafzimmers. Links das mit Voile verhangene Fenster, vor sich die Ecke ihres Bettes. Sie zieht die Luft durch die Nase ein und hat den Eindruck, dass die immer dünner wird. Es ist nur ein Gefühl. Ally Fullerton ist machtlos, aber nicht unglücklich. Sie spürt, dass sie am falschen Platz ist. Gleichzeitig fühlt sie sich geschützt und wohl und will nicht weg, doch diese Diskrepanz kann sie sich nicht erklären. Sie findet, dass Sarah ein schöner Name ist, aber sie weiß, dass sie so nicht heißen kann. Es gibt Brand- und Brachflächen in ihrem Kopf. Da wächst noch etwas, aber sie kann nicht erkennen was es ist. Es scheint, als sei jedes Wachsen ruhig gestellt und verharre dort ohne Namen. Sie spürt, dass sie Schmerzen hat, aber sie kann sie nicht lokalisieren.
Das Mittel, tatsächlich! Eine fast leere Packung in Johns Nachttisch. Auch er hat das populäre, aber gefährliche Zeug genommen. Wer weiß, welche Träume er hatte, welche Schuldgefühle, Schlafstörungen und Phantasien. Und welche Ursachen mögen die gehabt haben? Ihr Atem ist normal. Ihr Puls auch. Wenn sie am oberen Treppenabsatz steht, kann sie durch das Geländer hindurch einen Teppich, einen Sessel, Bilder und ein kleines Zweiersofa erkennen. Und den Schatten einer stumm agierenden Person. John wird da umhergehen!
Die Stimmen der Kinder kommen von draußen, kommen von hinter dem Haus, wohin sie, außer von der Galerie aus, nicht sehen kann. Die Treppe läuft direkt auf eine Schiebetür mit weißlichem Ornamentglas zu. Dahinter turnt der Schatten, kommt näher, wird kleiner, verzerrt sich zu einer sich im Nichts auflösenden Länge. Man kann sich alles darunter vorstellen. Die Hand greift nach der Tür, in diese kleine metallene Wanne und Ally zieht sich zurück. Sie ist unsicher auf den Beinen. John setzt sich rechts auf das kleine Sofa und greift zum Telefon. Sie sieht nur seine Beine, die Hand, die den Hörer nimmt. Dann lässt er ein Geschirrtuch fallen, mit dem er seine Hände getrocknet hat. Er spricht leise, unaufgeregt. Seine rechte Hand spielt gelassen mit der Schnur. Bald zieht die gleiche Hand die linke Socke hoch.
Nein, sagt er, ganz normal, es wird dauern. Ich habe ja Hilfe. Eben. Sie ist noch schwach. Ich bin froh, dass sie wieder da ist!
Ally fühlt wieder diesen pelzigen Geschmack im Mund, sinkt in neue Erschöpfung. Sie wird sich hinlegen müssen. Kurz sieht sie sich im Toilettenspiegel. Dann weiß sie nichts mehr.
Er sitzt entspannt an der Terrassentür, neben einer großen hellen Tonvase. Sein Gartenstuhl steht in Richtung Haus. Neben sich sieht er die Kinder spielen. Wenn sie herunterkommt muss sie in der Durchreiche erscheinen, zumindest aber ihr Schatten hinter dem Ornamentglas. Sex mit Ally wäre möglicherweise eine Initialisierung, deren Folgen er aber nicht absehen kann. John Haddock weiß nichts über ihren Körper, obwohl er ihn begehrt. Ja, er hat sie geküsst, hat zaghaft ihre Brust gestreichelt, aber er weiß nicht wie es ist, sie zu lieben. Er kennt keine Lust mit ihr, nachmittags, auf hellem Laken, oder vor dem im Nichts endenden Blau eines nächtlichen Himmels.
Vielleicht ist es ja nicht schlimm, dass sie eine andere Frau ist. Liebt man nicht immer einen anderen Menschen in seinem Partner? Einen, der er gar nicht sein kann und vielleicht auch nicht sein will? Man erkennt doch nie den wirklichen Menschen. Wäre es da nicht gleichgültig, wenn er ...
In seinem Nachttisch hat er Kondome deponiert, für alle Fälle. Weiß er denn, ob sie die Pille nahm? Wäre sie dazu momentan überhaupt in der Lage? In ihrer Rocktasche hatte er gar nichts gefunden. Eine Handtasche hatte es nicht gegeben. Und mit wem hat sie vorher geschlafen? Mein Gott, wenn sie die Dinger entdeckt hätte! Wenn sie sich für seine Frau hielte, würde sie doch deshalb Fragen stellen. Vermutlich hat sie sie noch nicht gesehen. Immerhin, er hat Ally im Bad gehört, aber nicht sofort dort auftauchen wollen. Es muss eben alles ganz natürlich aussehen.
Du hast doch längere Zeit die Pille nicht genommen, würde er sagen, da dachte ich ...
Beim Nachbarn zur Rechten blitzen die Scheiben. Die Kinderstimmen fangen sich da kurz, kehren verwirbelt zurück. Morgen würde Ann kommen und die ganze Woche bleiben. Sie hat ihre Instruktionen. Freundlich und sanft würde sie Ally helfen sich wieder einzugewöhnen. John hätte seine Touren und wäre jeweils abends gegen sieben zurück.
Mittag. Er hat den Kindern das Essen gemacht. Zugegeben, ein Fertiggericht. Oben ist es klinisch still. Inzwischen hat er einige Male nach Ally gesehen, aber sie ist im Tiefschlaf. Sie ankert fest in ihm. Doch der Grund in dem sie ankert, ist merkwürdig aufgeworfen, als sei ein Schrank von Fremden durchwühlt worden und dadurch selbst entfremdet.
Esquire