Philipp Hacker-Walton

Vom Außenseiter zum Boss

Als Bruce Springsteen sich seine
Songs zurückholte

Philipp Hacker-Walton

VOM AUSSENSEITER ZUM
BOSS

ALS BRUCE SPRINGSTEEN SICH
SEINE SONGS ZURÜCKHOLTE

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1. Auflage 2016
© 2016 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto: © Lynn Goldsmith | Rex Features | picturedesk.com
Bilder: Seite 8 © Andre Csillag | Rex Features | picturedesk.com
Seite 143 © Lynn Goldsmith | Camera Press | picturedesk.com
ISBN Printausgabe: 978-3-99100-183-6

ISBN E-Book: 978-3-99100-184-3

Für Emily

Inhalt

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Epilog

© Andre Csillag | Rex Features | picturedesk.com

Bruce Springsteen und Steve Van Zandt während eines Konzerts an der University of California, Santa Barbara. Aufgenommen am 15.06.1975

„More than rich, more than famous, more than happy, I wanted to be great.“

Bruce Springsteen

Prolog

31. Dezember 1975

Der Scheinwerfer hat ihn eingefangen und begleitet ihn auf seinem Weg in die Mitte der Bühne. Es ist dunkel im ausverkauften Tower Theater von Philadelphia. Was man sieht, was das Rampenlicht zeigt, ist ein Bild, an dem man in den vergangenen Monaten in Amerika nicht vorbeigekommen ist: Jeans, T-Shirt, Lederjacke. Dichter Bart, schwarze Locken. Die Gitarre lässig in der Hand. So hat man ihn auf dem Cover seiner jüngsten Platte gesehen, die sich schon mehrere Hunderttausend Mal verkauft hat. So zeigen ihn die Plakate, die das heutige Konzert ankündigen, sowie die drei davor – alle ausverkauft. So steht er heute auf der Bühne.

Bruce Springsteen hält kurz inne, wirft einen Blick auf seine Band, die überraschenderweise in weißen Smokings und Zylindern auftritt. „Wenn ich gewusst hätte, dass ihr euch so anziehen würdet, wäre ich nicht gekommen“, feixt er, aber das geht schon im erwartungsvollen Applaus der Menge unter. Sie legen los. Ein fulminantes Schlagzeug-Feuerwerk, schon setzt das Saxofon ein und das Tower Theater ist erfüllt vom Sound der sechsköpfigen E Street Band. Bruce Springsteen beginnt mit seiner unverkennbaren Stimme zu singen:

You get up every morning at the sound of the bell

You get to work late and the boss man’s giving you hell …

Es ist Silvester. An diesem letzten Abend des Jahres 1975 endet für Bruce Springsteen eine denkwürdige Tour. Seit ihrem Beginn Ende Juli hat er von New York bis Los Angeles triumphale Shows gespielt, erstmals ist er sogar in Europa aufgetreten. Born to Run, sein drittes Album, ist in dieser Zeit bis auf Platz 3 der US-Charts gestiegen, es ist sein erster kommerzieller Erfolg. Im Alter von 26 Jahren hat er endlich den Durchbruch geschafft. Das Tower Theater mit seinen 3.000 Plätzen könnte er noch einen ganzen Monat lang ausverkauft bespielen: Für die 12.000 Tickets der vier Konzerte gab es 90.000 Anfragen.

Das ist die Kurzfassung der letzten Zeit. Die oberflächliche Version, jene, mit der der DJ eines lokalen Radiosenders Bruce soeben im Tower Theater angekündigt hat: „1975 war ein großartiges Jahr für Bruce und die Band, und was könnte besser sein als Silvester mit ihren Freunden in Philadelphia zu verbringen …“

Es gibt aber auch eine längere Variante. Bruce spricht sie an, bevor er das dritte Lied einzählt: „Die Jahreszeiten kommen und gehen, dein Foto ist auf den Titelseiten von Time und Newsweek …“ Für Bruce hat alles erst richtig Fahrt aufgenommen, seitdem er auf den Covers der beiden Magazine war – gleichzeitig. Diese tiefer gehende Version der letzten Monate dreht sich auch um die Schattenseiten seines Durchbruchs. Um das Gefühl, dass alle auf einmal etwas von ihm wollen; dass er jetzt ein Geschäftsmodell ist; dass er dabei ist, die Kontrolle zu verlieren. Über seine Musik und damit über sein Leben.

Nach zweieinhalb atemberaubenden Stunden gibt es zum Abschluss eine ausgelassene Coverversion des Rock-’n’-Roll-Klassikers Twist and Shout, die Menge tobt. Das Lied ist zu Ende, die Band steht nach dem Schlussakkord auf der Bühne und blickt in den erleuchteten Zuschauerraum. Sie winken dem Publikum zu, das ebenso durchgeschwitzt und erschöpft ist wie sie. Dann ist das Konzert vorbei und damit der erste Teil der Tour. Hinter Bruce Springsteen liegt das erfolgreichste Jahr seiner Karriere. Vor ihm liegt eine Zukunft, in der für ihn vieles möglich scheint, aber nur eines sicher: So kann es nicht weitergehen.

Er ist jetzt bekannt. Er ist beliebt. Vor allem aber ist er verdammt unglücklich.

EINS

November 1975

„Ich denke, Bruce Springsteen könnte wirklich das Genie sein, von dem seine PR-Leute und seine Manager reden, aber sie haben es ihm schwer gemacht, das zu zeigen.“

The Guardian

Es ist Mitte November 1975, Bruce und seine Band sind über den Atlantik geflogen für jenen kleinen Teil der Born-to-Run-Tour, der in Europa stattfindet: sieben Tage, vier Konzerte, drei Städte – London, Stockholm, Amsterdam, und wieder London. Für den englischen Markt, den wichtigsten außerhalb der Vereinigten Staaten, hat die PR-Abteilung seiner Plattenfirma Columbia Records ganze Arbeit geleistet: „Endlich“ steht in riesigen Blockbuchstaben auf den Plakaten. Darunter: „Die Welt ist bereit für Bruce Springsteen.“

Die Poster mit diesem anmaßenden Satz und dem überlebensgroßen Bild des Born-to-Run-Plattencovers verfolgen Bruce in der ganzen Stadt. Auf dem Parkplatz des Hammersmith Odeon, wo er im trüben Londoner Novembergrau Autogramme schreibt, wirkt die Werbung besonders deplatziert: Da ist er, dieser unscheinbare Kerl Mitte zwanzig, der sich mit Fans durch ihr Autofenster unterhält und dabei mit seiner zu großen Hose, der Cartoon-Katze auf seiner Jacke und der schlabbrigen Wollmütze eher aussieht wie ein Parkplatzanweiser – und über ihm leuchtet in der kalten englischen Nacht die Anzeigetafel, auf der verkündet wird: „Endlich. London ist bereit für Bruce Springsteen und die E Street Band.“

Das ist noch bescheiden im Vergleich zu dem, was die Plattenfirma im Inneren des Hammersmith Odeon angestellt hat. Der Vorraum und die Konzerthalle sind gepflastert mit dem unsäglichen Satz; selbst auf den Sitzen liegen Zettel, die damit bedruckt sind; sogar Anstecker hat man eigens anfertigen lassen, auf denen zu lesen ist: „Ich habe die Zukunft des Rock ’n’ Roll im Hammersmith Odeon gesehen.“ Es ist der zweite Werbespruch der Plattenfirma, den Bruce so hasst und für dessen Verwendung als Marketing-Claim er, wie er immer wieder betont, „gerne den Typen erwürgen würde, dem das eingefallen ist“.

Draußen konnte Bruce sich noch beherrschen. Er war freundlich zu den Fans, hat mit ihnen Small Talk geführt und gescherzt. Im Inneren des Odeon hält Bruce seinem inneren Druck nicht mehr stand und explodiert. Die Flyer müssen sofort von den Wänden und den Sitzen. Er legt persönlich Hand an, reißt und zerreißt – und verbietet umgehend, dass von den Ansteckern auch nur ein einziges Stück verteilt wird.

Bruce lässt Dampf ab, doch übrig – und bestärkt – bleiben die vielen Fragen, die seit Wochen an ihm nagen und in seinem Kopf immer lauter werden: Hört mich noch jemand zwischen den Marktschreiern von der Plattenfirma und den Brüllaffen von den Zeitungen und Magazinen, die sich Tag um Tag, Woche um Woche mit immer lauteren Schlagzeilen zu übertönen versuchen? Macht es überhaupt noch einen Unterschied, wie gut ich heute im Hammersmith Odeon spiele, ob der Auftritt in drei Tagen im Stockholmer Konzerthaus gelingt und dann jener im Amsterdamer Messezentrum?

Er, bei dem die Konzerte länger sind als bei praktisch allen anderen Rockern, intensiver noch dazu. Er, der die Floskel „als ob es kein Morgen gäbe“ mit Leben erfüllt. Er muss sich jetzt ernsthaft fragen: Macht es noch einen Unterschied, wie gut ich spiele, wie gut meine Musik ist?

Die Fragen sind berechtigt: Glaubt man der Berichterstattung der vergangenen Wochen, geht es tatsächlich längst weniger um Bruce Springsteen und um seine Songs. Vielmehr um den Hype, der rund um ihn entstanden ist.

Für Bruce steht die Welt seither Kopf: Der seit Jahren übliche Rhythmus zwischen ihm und der Öffentlichkeit hat sich gedreht. Er war daran gewöhnt, im besten Sinn unter „Kult“ eingeordnet zu werden: kaum mediale Aufmerksamkeit, dafür ein kleiner, treuer Kern an Anhängern, der stetig wächst. Wer Bruce live gesehen hat, ist überzeugt; wer ihn noch nicht gesehen hat, kommt zum Konzert, weil ein Freund davon geschwärmt hat oder weil die Uni-Zeitung schreibt, dass es sich lohnt. Bruce’ Popularität hat sich jahrelang via Mund-zuMund- und nicht mittels Poster-zu-Schlagzeilen-Propaganda verbreitet. Jetzt eilt ihm sein Ruf nicht mehr in Form begeisterter Erzählungen voraus, sondern in fetten Lettern. In Blockbuchstaben: „FINALLY.“ Endlich.

Was sich Mitte November 1975 in London abspielt, ist der Höhepunkt des Rummels, der im Sommer begonnen hat. Unmittelbar nachdem Bruce seine dritte LP fertiggestellt und seine Plattenfirma gemerkt hat, wie anders Born to Run im Vergleich zu seinen zwei Alben zuvor ist: wie viel ausgereifter, wie viel einzigartiger, wie viel tauglicher für das Radio – und wie viel besser zu vermarkten.

August 1975

Im Sommer 1975 macht es in der Musikszene die Runde, dass Columbia Records stattliche 250.000 Dollar Werbebudget für Bruce Springsteen, ihren neuen Star, und seine neue Platte freigemacht hat, von dem unter anderem ganzseitige Inserate in den Musikmagazinen Billboard und Rolling Stone bezahlt werden. Es funktioniert – und wie: Ein Monat bevor das Born-to-Run-Album erscheint, erreichen Ende Juli sogar seine bis dahin von der Masse ignorierten Vorgänger, Greetings from Asbury Park, N.J. und The Wild, the Innocent and the E Street Shuffle, die Charts – beide zum ersten Mal. Anfangs stimmt das Gleichgewicht noch einigermaßen. Die mediale Aufmerksamkeit speist sich nicht nur aus Werbekampagnen und Berichterstattung – und vor allem konzentriert sich Letztere noch auf Bruce und seine mitreißende Musik, nicht auf das, was darüber schon alles gesagt und geschrieben wurde.

Die beste Werbung für sein neues Werk kommt (noch) von Bruce selbst: Mitte August spielt er mit seiner Band täglich zwei Shows im Bottom Line. Gerade einmal 500 Leute passen in den kleinen New Yorker Klub, und was die Zuschauer für die fünf Dollar Eintritt zu sehen bekommen, ist ein losgelöster, aufgedrehter Bruce Springsteen, der nach quälend langen Monaten im Studio endlich wieder das tun kann, was er am liebsten und am besten tut: seine Musik live vor Publikum darbieten.

Jeweils um halb neun beginnt die erste Show des Abends, um halb zwölf die zweite, und weil jede gut zwei Stunden dauert, bleibt dazwischen gerade genug Zeit für die Band, sich umzuziehen. Während seines Auftritts rennt Bruce von einem Ende der kleinen Bühne zum anderen. Oft wird sie ihm zu klein, dann steigt er auf das Klavier, tanzt auf den Tischen. Manche Lieder singt er, während er mit dem Mikrofon an einem langen Kabel durch die Reihen geht oder gleich im Liegen, mitten im Publikum, ausgestreckt auf einem Tisch. Den meisten Zusehern kommt Bruce so nahe, dass sie feststellen können, was man aus der Ferne nur vermuten kann: Seine Turnschuhe passen nicht zusammen.

Obwohl es für die zehn Konzerte insgesamt gerade einmal 5.000 Tickets gibt, haben die Shows im Bottom Line ungeheuren Multiplikatoreffekt: Die „Früh-Vorstellung“ vom 15. August wird live im Radio übertragen. Zudem hat Columbia im Vorfeld ein Viertel der Tickets aufgekauft. Sie gehen an Angestellte, Journalisten und wichtige Menschen aus der Musikbranche, die ihre Eindrücke von Bruce’ neuer Platte und seinen atemberaubenden Auftritten verbreiten sollen.

Die Shows sind ekstatisch, elektrifizierend. Eine Kritik der New York Times vergleicht Bruce sogar mit Mick Jagger, Frontmann der Rolling Stones und aktuell das Nonplusultra, wenn es um energiegeladene Rockkonzerte geht.

Bruce Springsteen, der nächste Mick Jagger?

An dem Tag, an dem Born to Run als erstes Springsteen-Album in die Top Ten der Billboard-Charts klettert, spielt Bruce das spektakulärste, am besten besuchte Konzert in der Geschichte … des Grinnell College. Für die Studenten ist es ein Glücksfall: Der Auftritt vom 20. September 1975 wurde schon vor den Sommerferien vereinbart, vor Erscheinen des Albums. Und so spielen der Chartstürmer und seine Band in einem Kaff im Nirgendwo von Iowa vor 1.000 Zusehern in der ausverkauften Turnhalle der Uni zum Spottpreis von rund 3.000 Dollar.

Es gibt Gerüchte, dass sich Springsteen-Fans aus New York und New Jersey in Hundertschaften auf die Reise ins verschlafene Grinnell machen könnten, aufgestachelt von der vielen medialen Aufmerksamkeit. Die Uni engagiert zusätzliche Sicherheitskräfte und rät den Studenten, Fenster und Türen verschlossen zu halten, sollten die Horden von der Ostküste tatsächlich eintreffen.

Die Invasion bleibt an diesem Abend aus. Doch das Konzert und der Wirbel rundherum sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Dinge dabei sind, aus dem Gleichgewicht zu geraten: Ein Rockstar mit Top-Ten-Album kann nicht ewig von einem Provinz-College zum nächsten tingeln. Wer Zehntausende, bald Hunderttausende Platten verkauft, sollte irgendwann nicht mehr für ein paar Dollar Eintritt Samstagabend in Turnhallen auftreten. Wer so viel Talent hat, sollte es auch in die weite Welt hinaustragen. Auch auf das Risiko hin, dass man nicht mehr bestimmen kann, was die Welt damit anstellt.

Während Born to Run zum Hit und er zum Star wird, fühlt Bruce, wie er die Kontrolle verliert. In seinem Kopf ist es eine einfache Rechnung: Solange er jeden Abend vor ein paar hundert, vielleicht ein-, zwei-, dreitausend Menschen spielt, so lange kann er jeden Einzelnen von ihnen erreichen. Solange die Konzerte klein genug sind, dass jeder gut hört und man auch in der letzten Reihe die Bühne noch gut sehen kann, so lange kann er die Menschen auf seine Weise gewinnen, einen nach dem anderen, jeden Abend ein paar hundert. Mit einem Gefühl von Sicherheit.

Es ist für Bruce nicht nur der einzige Weg, den er kennt – so hat er über Jahre eine treue, wenn auch überschaubare Schar an Fans gewonnen. Es ist auch der einzige Weg, den er sieht. Natürlich will er die Anerkennung für seine Songs, die Begeisterung für seine Konzerte, aber er will sie auf seine Weise. Auch wenn das heißt, nur einen Bruchteil seines kommerziellen Potenzials zu nutzen und unterm Strich weniger Menschen mit seiner Musik erreichen zu können.

Bruce kontrolliert, was er kann: Für sein Management und die Konzertagentur gilt weiterhin seine eiserne Regel, dass die Hallen, in denen er spielt, maximal 3.000 Menschen fassen dürfen; und nach wie vor soll bei den Konzerten kein Merchandising verkauft werden. Keine T-Shirts, keine Baseballkappen, keine Anstecker.

Die Konzerte sind weiterhin großartig, das Album klettert bis auf Platz 3 der Billboard-Charts – doch es scheint, als würde der Star der Show am liebsten den Vorhang fallen lassen.

Er blockt ab, wenn sein Manager Mike Appel mit ihm über lukrative Angebote sprechen will. Zum Treffen mit einem Regisseur, der ihn engagieren möchte, fährt er erst gar nicht hin. Bruce ist genervt, er ist gereizt – und er kann es nicht immer unterdrücken. Wenn in diesen Tagen beim Soundcheck etwas in der Tonmischung nicht passt, lässt er die aufgestaute Anspannung mit Tritten an den Verstärkern aus. Eines Abends in New Orleans wagt es der Roadmanager, das übliche Fried chicken gegen eine lokale Spezialität zu tauschen. Bruce wirft sein Cordon bleu, das eigentlich nur eine mit Käse und Schinken ergänzte Variation seines geliebten Fried chicken ist, quer über den Tisch Richtung Roadmanager, ehe er wutschnaubend den Speisesaal verlässt.

Es gibt noch ein Symptom: Bruce hat aufgehört zu schreiben. Er, der für gewöhnlich ohne Unterlass ein Notizbuch nach dem nächsten vollkritzelt mit Songtiteln, Ideen, Text-fragmenten, schreibt nicht. Wochenlang, monatelang – nichts. Er ist blockiert. Es will ihm nichts gelingen. Der Druck lähmt seine Kreativität.

Wer schreibt, das sind in diesen Tagen die anderen.

Am 5. Oktober druckt die New York Times in ihrer sonntäglichen Kunst- und Freizeit-Beilage einen Text mit dem vernichtenden Titel: „Die Erfindung von Bruce Springsteen.“ Der zweite Teil der Überschrift ist der Satz gewordene Albtraum: „Gäbe es keinen Bruce Springsteen, dann hätten ihn die Rock-Kritiker erfunden.“

Allein die Idee, er könnte nur eine Erfindung sein – der Kritiker, der Plattenfirma, seines Managements –, bringt auf den Punkt, warum Bruce den Rummel, die viele Werbung und die unzähligen Schlagzeilen verteufelt: Denn genau so kann der Eindruck entstehen, man sei von heute auf morgen aus dem musikalischen Nichts ins Rampenlicht gestolpert (und genauso schnell, wie man gekommen ist, könnte man auch wieder verschwunden sein).

Es ist ein Affront für Bruce. Seit zehn Jahren schon steht er Abend für Abend auf der Bühne. In jeder gottverdammten Bar von New Jersey bis Virginia, die ihn auftreten lässt. Meist für wenig Publikum, fast immer für wenig Geld. Und egal, ob er für drei oder dreitausend Leute spielt: Die Konzerte sind lang, sie sind intensiv. Sie sind immer so gut, wie es an diesem Abend für Bruce und die Band nur möglich ist. Sie spielen bis zur körperlichen Erschöpfung. Nicht selten sind alleine die Zugaben so lange wie ganze Konzerte anderer Bands. Es gibt keine schlechten Konzerte von Bruce Springsteen und der E Street Band – es gibt nur gute und sehr gute.

Das neue Album, die ausverkauften Liveshows, die Unterstützung der Plattenfirma und die wachsende Fangemeinde sind die redlich verdienten Früchte jahrelanger ehrlicher Arbeit. Mit Zufall oder einer „Erfindung“ haben sie sehr wenig zu tun.

Bruce erlebt ein Déjà-vu: Als er vor ein paar Jahren bei Columbia vorspielte, kam er alleine zum Termin. Ohne Band, nur mit seiner Gitarre. Der Thesaurus war damals sein ständiger Begleiter. Seine Lieder hatten vor allem eines: viel Text, mit einer hohen Quote obskurer Begriffe. Sein Song Blinded by the Light besteht durchgehend aus Zeilen wie diesen: Some brimstone baritone anti-cyclone rolling stone preacher from the east / He says, “Dethrone the dictaphone, hit it in its funny bone, that’s where they expect it least”. Bei der Plattenfirma machte es sofort klick: Haben wir nicht schon so einen? Einen verstrubbelten Wörterbuch-Freak mit Gitarre, der sich gut als Musikpoet vermarkten lässt? Hatten sie: Bob Dylan. Und so wurde Bruce mit dem Erscheinen seiner ersten Platte gleich ein dicker Stempel aufgedrückt: „Der neue Bob Dylan.“ Gleichgültig, dass der alte Bob Dylan Anfang dreißig und hoch produktiv war, es also gar keinen neuen Bob Dylan brauchte. Unerheblich auch, dass Bruce hauptsächlich mit Band auftrat, seine Musik eine wilde Mischung aus Rock ’n’ Roll, Blues-Einflüssen und R&B war und eher nicht in die Folk-Schublade passte. Hauptsache, es gibt einen Stempel. Dieses erdrückende Gefühl, von der Welt nicht als der gesehen zu werden, als der man sich selbst sieht, kommt jetzt zurück: Raus mit dir, Bruce, aus der Dylan-Schublade! Rein mit dir in die Kiste mit den Erfindungen.

Wie geht man am besten um mit dem Erfolg und all seinen Begleiterscheinungen? Bruce fragt einen, der es wissen muss: Jack Nicholson, der in den vergangenen Jahren viermal für einen Oscar nominiert war und gerade Einer flog über das Kuckucksnest fertiggedreht hat. Doch die Antwort des Filmstars ist für Bruce wenig brauchbar: Er habe so lange darauf gewartet, endlich ein Star zu sein, sagt Jack, dass er sich nun ziemlich uneingeschränkt darüber freuen könne. Die beiden treffen einander in Los Angeles, wo Bruce und die Band Mitte Oktober spielen. Für die Plattenfirma ist es der Versuch, den Erfolg der Konzerte im Bottom LineColumbiaThunder RoadSpirit in the Night