Der härteste, schnellste und kälteste Sport der Welt
von Frank Bröker
Verlag Andreas Reiffer
Edition The Punchliner
Umschlaggestaltung: Karsten Weyershausen (unter Verwendung eines Fotos von Andrii IURLOV)
Lektorat: Lektorat-Lupenrein.de
1. Auflage (E-Book), 2015, identisch mit der Printversion von 2015
© Verlag Andreas Reiffer, 2015
ISBN 978-3-945715-33-8
Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meine
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»Es ist nicht der Name auf dem Stanley Cup. Es ist nicht der Ring. Irgendwo auf der Straße, nächste Woche, nächstes Jahr,
in 20 Jahren wird jemand auf dich schauen und dir sagen:
Du bist ein Gewinner. Das ist es.«
Kirk Muller, 1993
»Ich dachte immer, der Stanley Cup sei so verdammt schwer.
Als ich ihn in Händen hielt, konnte ich es kaum glauben.
Er war leicht wie eine Feder.«
Henri Richard, 1973
Ich bin sehr stolz. Ein Kindheitstraum geht in Erfüllung.
Leon Draisaitl, 06.10.2014
Der sechste Himmel eines jeden Eishockeycracks öffnet sich auf einer Spielerziehungsparty im Showroom eines samtbehangenen Glaspalastes in Übersee. Es ist Juni, die Teams der National Hockey League (NHL) wählen ihre jährlichen Perspektivspieler, die Draft Picks, in Losrunden aus und erwerben die Rechte an ihnen. Die Saison ist vorüber, das schlechteste Team hat die erste Wahl, das beste die letzte in dieser Zeremonie. Versammelt ist neben den größten Talenten die Crème de la Crème des nordamerikanischen Hockeys. Die Show wird live bis in den hintersten Winkel der Welt übertragen.
Die Familie ist dabei. Mein Vater, selbst Profi gewesen, platzt auf seinem Plüschsessel vor Stolz. Mein Vater aus der Trainergeneration Hans Zach, dem ich alles zu verdanken habe, der es mir ermöglichte, früh aufs College nach Übersee zu gehen, wo Eishockey Religion ist. Ich muss an seinen Vater aus der Ära Ambros, Unsinn, Egen denken. Wir waren schon immer eine verrückte Eishockeygemeinde. Ich werde gleich in der ersten Runde als Top Pick aufgerufen, stehe im Rampenlicht. Mein Puls schlägt wild bis zum Hals. Mit einem Male öffnet sich das Tor zur besten Profiliga der Welt. Was folgt, ist weniger ein Wurf, denn ein Einschlag ins kalte Wasser, der Traum muss wahr sein. Sequenzen ziehen an mir vorbei. Ich im Trikot meines Clubs, dann das Trainingslager, das Rookie Camp. Die Einladung ins Hauptlager der Profis folgt auf dem Fuß, mein Sprungbrett ins Team, in den endgültigen siebten Hockeyhimmel. Der erste Scorerpunkt, das erste Tor. Pucks, die ich danach einsammele und rahmen lasse.
Im Vergleich zu Europa ist alles größer und furchtbar imposant. Die Stadien, die Krafträume, die Entfernungen zu den Städten. Das ist Amerika, das ist Kanada. Eishockey wird schlicht Hockey genannt. Hier wurde es in über 100-jähriger Geschichte zu dem, was es heute ist. Nur die Eisflächen sind kleiner. In Europa muss man vorm Tor immer einen Pass mehr spielen. In der neuen Welt wird nach den NHL-Regeln getanzt. Der Unterschied zu Europa sind Raum und Zeit. Das Spiel ist wahnsinnig intensiv und schnell. Willst du dich als junger Spund durchbeißen, darfst du nie lange fackeln, musst schneller denken, aggressiver zum Mann, zur Scheibe gehen. Timing ist alles, um unter dem Radar in den Torraum zu fliegen. Die Physis ist die eine, die richtige Mentalität die andere Hürde, willst du Sniper, Boxer, Schachspieler und Eisathlet zugleich werden. Du musst den Kopf immer oben halten, sonst wirst du weggerammt. Es ist der Traum von einer völlig anderen Welt, das Maß aller Dinge, und er hört einfach nicht auf. »Du hoffst immer auf das Beste, bist auf das Schlimmste gefasst und nimmst die Dinge so, wie sie kommen«, hat Uwe Krupp, Deutschlands bisher erfolgreichster Überseeprofi, einmal gesagt. Wenn mir im Training die Zunge bis zum Hals heraushängt, muss ich an diese Worte denken. Und an Evgeni Malkin, an seinen Traum, in Pittsburgh zu spielen, der erst zwei Jahre nach dem Draft wahr wurde. Erst zog ihm die komplette Saisonabsage 2004/05 einen Strich durch die Rechnung. Dann stritt sich der Internationale Eishockeyverband mit der NHL, und Malkin musste in Magnitogorsk bleiben, seinen Vertrag erfüllen, während Kumpel Alexander Ovetchkin bereits in Washington durchstartete. So sauer war Malkin darüber, dass er in der Heimat allen zeigte, wo er wirklich hingehörte. Er wurde zum besten Profi der Welt ohne NHL-Uniform, was die russischen Funktionäre nur noch mehr bestärkte, ihn nicht über den Teich ziehen zu lassen. Doch er büxte aus und lebte seinen Traum. An der Seite von Sidney Crosby.
Meine Rückennummer ist eine Glückszahl, der Eishockeygott hat mehr als Segen für mich übrig. Ich arbeite hart an meinen künftigen Spieltagritualen. Der Headcoach vertraut mir, gibt mir Eiszeit. In der »Hockey Night in Canada« verpasste mir Don Cherry mit »The German Flash« meinen ersten Spitznamen, lobte mein exzellentes Spiel, meine läuferischen Qualitäten, meinen Schuss und zog Vergleiche mit Martin St. Louis und Anže Kopitar. Nicht schlecht. Wenn die raue Seele der alten Boston Bruins manchen Finnen im TV ankündigt, fällt ihm dazu nichts anderes ein als: »Der Name klingt irgendwie nach Hundefutter.« Das Training ist hart. Eine einzige Knochenmühle. Hier wird niemand entwickelt oder langsam an ein Team herangeführt, wie es in den deutschen Ligen geschieht. Die NHL-Clubs geben Gas, setzen auf kompakte, fertige Cracks. Ein einziges Haifischbecken. Viele wissen, sie sind Rollenspieler und jederzeit ersetzbar. Sofern sie nicht zur Garde der unnachahmlichen Top-50-Superstars wie Tyler Seguin, Jonathan Toews, Patrick Kane, Steve Stamkos, Crosby, Ovechkin, Malkin, Kopitar, Claude Giroux oder Ryan Getzlaf gehören.
Ich darf spielen. In der NHL. Das macht mich mit einem Mal für die Eishockeywelt unsterblich. In Unter- und Überzahl bin ich Teil der Spezialteams. Neben dem Eis-oval liegen mir alle zu Füßen. Der Fitnesstrainer sowieso, die Fans, die Frauen. War nicht Anna Kournikova zuerst mit Pavel Bure und gleich danach mit Sergei Fedorov zusammen? Madonna mit Mark Messier? Ich werde als Rookie des Jahres ausgezeichnet, bin ein Hollywood-Star auf Gala-Schlittschuhen, fühle mich wie Mickey Mouse in Disneyland, und meine erste Frau muss mindestens genauso umwerfend ausschauen wie Henrik Zetterbergs Gattin Emma Andersson. Mein Marktwert steigt, die Dollars fließen. In Sachen Arbeitsethik macht mir niemand etwas vor. Der Einstiegsvertrag wurde um satte fünf Jahre verlängert. Ich bin kein Starlet mehr, sondern ein Star, einer der Führungsspieler, trug schon das A, jetzt das C auf der Brust. Ich score in der ersten Sturmreihe nach Belieben. Die magische 30-Tore-Marke konnte gleich im zweiten Jahr geknackt werden, meine ganz persönliche »Breakout-Season«, mein Durchbruch. Keine Spur vom gefürchteten Torriecher-Schnupfen, dem schon Granden wie Rick Nash einst zum Opfer fielen.
Die »Hockey News« taufte unsere Sturmlinie in Gedenken an Wayne Cashman, Phil Esposito und Ken Hodge »The New Nitro Line«. Als Teil der nächsten NHL-Spielekonsolen-Serie grüße ich vom Cover. Nebenher arbeite ich mit Fleiß am Golfhandicap. Warum alle Profis Golf spielen? Weil Golf, genau wie Eishockey, ein Präzisionsspiel ist. Ruhe und Cleverness sind da gefragt. Mein Körper ist mein Kapital, auch abseits des Stadions, in den Werbedrehs. Ich lebe absolut professionell. Nie musste ich runter in die AHL, in die American Hockey League, zum Farmteam meines Clubs, um zu zeigen, was ich kann. Von Verletzungen bleibe ich verschont, mein Beschützer vor all den bösen Matt Cookes auf dem Eis wird »E.B.« genannt. Die Initialen für »Electrical Breaker«. Den Kampfnamen trägt er nicht umsonst. Wenn der Deutsche Eishockeybund nachts anruft und fragt, ob mir ein paar WM-Länderspiele recht wären, denke ich nur: »Ihr Amateure. Qualifiziert euch erst mal für Olympia.« Sage ich aber nicht, denn seine Farben lässt man als Sportler nie im Stich. Also halte ich meine Knochen auch für Deutschland hin, sofern sie mich hier weglassen, falls mein Team die Play-offs verpasst. Was ich naturgemäß nie hoffe. Schon sehr bald stehe ich erneut in der Liste der Award-Champions, wird mein Name erstmals in den Stanley Cup eingraviert.
Dann tritt genau dieses Spektakulum ein. Die Erfüllung des allergrößten Traums. Mein Team wird auf einer Euphoriewelle durch die Meisterrunden getragen und gewinnt das vierte Spiel einer packenden Endspielserie. Mein ansatzloser Schuss im Slot sorgt für das entscheidende Tor. Ich habe ihn: »The Cup«, »Lord Stanley’s Cup«, »The Holy Grail«, »Stanley’s Mug«. Wie viele Begriffe es doch für einen Silbertopf gibt, der die gesamte Eishockeywelt mit Glanz und Gloria seit gefühlten Ewigkeiten überstrahlt.