1. KAPITEL

WENN WIR WAGEN, KÖNNEN WIR GEWINNEN

»Adella, sachte! Du erdrückst dein Seepferd ja beinahe mit deiner Umklammerung«, warnte Marus mich schmunzelnd. Er schwamm rechts von mir auf seinem Reittier und verströmte ungleich mehr Eleganz als ich, die herumhampelte und versuchte, nicht runterzufallen.

»Ich hab's verstanden«, murmelte ich unwirsch und löste meinen Griff ein wenig von dem Hals des Seepferdes, dessen geschwungener Rücken sich noch immer nicht wirklich sicher für mich anfühlte. Es war mir peinlich, dass ich mich so anstellte, aber ich war schon als Mensch kein Fan von Pferden gewesen und hatte eher Respekt als Bewunderung für diese überaus kraftvollen Tiere empfunden. Seepferde waren ihnen keineswegs unähnlich und auch wenn ihre Farbpalette nur von Rosa bis Lila reichte, konnte mich das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nun mal fast doppelt so groß waren wie ich.

Eineinhalb Wochen waren nun bereits vergangen seit unserer Abreise aus König Fortis' Reich. Er hatte uns mit wehenden Fahnen und einem riesigen Orchester verabschiedet. Das Volk hatte gejubelt, die Krieger und meine Freunde hatten sich feiern lassen wie Helden. Und ich … Nun ja, ich war knallrot angelaufen, während wir an der tosenden Menge vorbeigezogen waren, und hatte gehofft, dass der Trubel bald ein Ende nahm.

Jetzt war ich mit Marus ganz hinten in der Reihe, die von Nobilis und Kriegerchef Basil angeführt wurde. Zwei von Basils Leuten waren nicht mitgekommen, weil sie lieber bei ihren Familien bleiben wollten. Doch mit elf Medius war unser kleiner Trupp nun wieder um einiges gewachsen, seitdem ich von Königin Octavia verwandelt worden war.

Hinter Nobilis und Basil befanden sich die beiden kräftigsten Medius namens Wamil und Dastus. Von Letzterem hatte ich bisher so gut wie nichts mitbekommen, da er vornehmlich schwieg. In dritter Reihe schwammen die Zwillinge Sorbis und Lorbis – gemeinsam mit Santur, der sich seit unserer Abreise aus dem Königreich ziemlich seltsam mir gegenüber verhielt. Vielleicht mochte er mich einfach nicht, was ein wenig verletzend war, da er mich eigentlich gar nicht kannte. Im Grunde sollte es mir jedoch egal sein.

Dahinter und damit vor Marus und mir waren wiederum Laterus – ein eingebildeter blauhaariger Medius und Elea, die Piratentochter. Die beiden unterhielten sich gerade angeregt über Kampftechniken. Da hatten sich wohl zwei gesucht und gefunden.

Von meiner Position aus beobachtete ich Nobilis, der in ein Gespräch mit Basil vertieft zu sein schien, zwischendurch aber immer wieder strahlend lächelte, als wüsste er genau, wie fantastisch er so für mich aussah. Noch schlimmer war, dass er mich jedes Mal ansteckte und ich hastig versuchte, mein dämliches Aufseufzen verklingen zu lassen, bevor es jemand bemerkte.

In der letzten Zeit hatte sich Nobilis tatsächlich verändert, war offener geworden und nicht mehr ganz so mürrisch. Und das war … nett.

»Adella?«, fragte Marus unvermittelt, als wir weiter durch die karge Sandlandschaft schwammen, in der zwar durchaus Meeresbewohner hausten, die jedoch trotzdem irgendwie einsam und verlassen wirkte.

»Ja?« Ich starrte auf einen Berg in der Ferne und versuchte auszumachen, wo wir uns befanden. Meiner Schätzung nach mussten wir uns jetzt etwa am untersten Zipfel Südamerikas befinden. Natürlich war ich mir nicht sicher, aber da wir nach Auskunft Basils bald in die Nähe der Heimat der Sirenen kommen würden, vermutete ich es zumindest ganz stark. Diese lag direkt auf der Grenze zwischen dem Atlantikmeer, dem Pazifikmeer und dem Südpolarmeer. Wir würden die Stelle wahrscheinlich schon in wenigen Tagen mit mehreren Hundert Metern Abstand passieren. Doch meiner Meinung nach war das eindeutig noch zu nah an den gruseligen Unterwasseramazonen dran. Sicher würden sie nicht zögern uns alle zu töten, sobald sie uns sahen, nachdem Meister Arturo einen Teil von ihnen im Palast von König Fortis unschädlich gemacht hatte. Ein eiskalter Schauer durchzuckte mich, als ich daran dachte.

»Darf ich dich was fragen?«, flötete Marus von der Seite her.

»Natürlich?«, entgegnete ich vorsichtig.

»Wann lächelst du eigentlich wieder mal?« Er grinste mich frech an.

»Jetzt?« Ich versuchte mir das schönste Lächeln abzuringen, zu dem ich gerade fähig war, und strahlte ihn an, als wären Weihnachten und mein Geburtstag an ein und demselben Tag.

Im nächsten Moment erstarrte ich. Mein Geburtstag. Ich wusste nicht, welches Datum wir hatten, doch gefühlt musste er bereits seit einigen Wochen vorüber sein.

»Was ist los?« Langsam kam Marus mir mit seinem Seepferd näher.

»Ich glaube, ich hatte vor ein paar Wochen Geburtstag«, murmelte ich und kniff mir unauffällig in meine Flosse, um die in mir aufsteigende Traurigkeit zu unterdrücken.

»O nein, dann müssen wir das nachfeiern. Tut mir echt total leid!«, erwiderte er zerknirscht, als hätte er es wissen müssen.

»Nein, es geht mir nicht darum. Meine Oma Holly und Chasper … Verdammt. Das ist doch alles scheiße!«, rief ich so laut, dass sich alle zu mir umdrehten.

»Alles gut«, winkte ich hastig ab und wartete, bis alle wieder nach vorne blickten, bevor ich mich erneut Marus zuwandte: »Mir tut es leid! Ich bin momentan ein wenig dünnhäutig.«

»Was ist denn dünnhäutig?«

»Empfindlich«, antwortete ich knapp und versuchte das Gefühl der erstorbenen Hoffnung beiseite zu wischen, die sich einst in mein Herz geschlichen hatte, als mir Meister Arturo gesagt hatte, dass er mich verwandeln könnte. Doch dann war er im verzweifelten Kampf erlegen und zurückgeblieben waren nur der Schmerz und die Gewissheit, dass ich noch lange nicht nach Hause würde zurückkehren können. Gleichzeitig spürte ich Verbitterung und Scham, weil ich nicht einfach um ihn trauern konnte, ohne daran zu denken, was er alles hätte vollbringen können. Ich würde es niemals erfahren …

»Ich weiß, dass du darauf gehofft hattest, endlich wieder ein Mensch zu werden«, erriet Marus meine Gedanken. Wie machte er das nur immer?

»Ja, das hatte ich«, murmelte ich und schaute zur Piratenbraut Elea, die sich zu meiner Überraschung von Laterus abgeseilt hatte und nun wild gestikulierend mit den Krieger-Zwillingen Sorbis und Lorbis sprach. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wie ich die beiden Medius jemals auseinanderhalten sollte.

Marus knuffte mich freundschaftlich gegen meine Schulter und wechselte das Thema: »Bist du auch schon gespannt, wie es im Bermuda-Dreieck aussieht?«

»Ich bin zunächst einmal gespannt, wie wir unbemerkt an den Sirenen vorbeikommen. Ich habe zwar noch die Ohrstöpsel, die mir Kayra vor unserer Abreise aus Meister Arturos Vorrat gegeben hat, aber werden uns die allein reichen?«

»Wir sind eine gute Truppe. Und bewaffnet«, wandte einer der Zwillinge ein, der unser Gespräch anscheinend von vorne mit angehört hatte.

»Hm. Stimmt, aber wissen wir denn überhaupt, wie viele es von diesen Sirenen gibt? Kann es nicht sein, dass dort quasi Tausende von ihnen auf uns lauern?«

Der Gedanke schien dem Zwilling nicht zu behagen, denn er starrte offenbar verunsichert hinüber zu seinem Bruder, der jedoch nur mit den Schultern zuckte.

»Was bringt es, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen? Ändern können wir es ja ohnehin nicht. Es dauert auch noch einige Tage, bis wir dort ankommen. Und vergesst unsere Waffen nicht …« Anscheinend hatte Marus damit genau den richtigen Ton getroffen, denn Lorbis und Sorbis stimmten ihm zu und begannen sich gegenseitig mit Kampfansagen aufzuheizen.

Immer wieder fielen Sprüche wie: »Wir werden es diesen keifenden Biestern schon zeigen!« – »Wir machen sie fertig!« »Die können sich auf was gefasst machen!«

Konnte wirklich nur ich den Zweifel in Marus' Worten hören? Doch nicht nur das beunruhigte mich, sondern auch das Wissen, dass wir nach dieser Etappe in noch ganz andere Gefahren hineinschwimmen würden. Hatte ich schon das Bermuda-Dreieck erwähnt? Ein Thema, dass ich wahrlich gern verdrängen würde …

Im Grunde wusste ich nicht viel darüber, nur, dass dort immer wieder Flugzeuge und Schiffe verschwunden waren und man sich das nicht genau erklären konnte. Trotzdem war es unabdingbar, dass wir zunächst genau dorthin reisten. Laut König Fortis – Herrscher des Pazifikmeeres, aus dem wir gerade kamen verlangten Königin Romila und König Tarit nach einem ganz bestimmten Geschenk, wenn man sie um einen Gefallen bitten wollte. Anscheinend Tradition unter Herrschern des Indikmeeres. Und dieses Geschenk konnte man nur inmitten des Bermuda-Dreiecks finden. So weit, so schlecht.

Ich persönlich fand es unmöglich, dass man potenzielle Gäste – Bittsteller, gut – einfach in eine gefährliche Gegend schickte, damit sie bestenfalls gar nicht erst auf die Idee kamen, ihr Vorhaben weiter zu verfolgen. Zumindest war das meine Vermutung, weshalb sie sich das ausgedacht hatten.

Aber wir ließen uns nicht so einfach abschütteln, sondern setzten unbeirrt unseren Weg fort, um eine äußerst seltene Blume zu besorgen, die angeblich nur in der Gegend rund um das Bermuda-Dreieck wuchs, um sie dem König und der Königin zu überreichen.

Ich selbst wusste nicht viel mehr über die beiden und schraubte meine Hoffnungen auf Hilfe so weit wie möglich herunter. Nichtsdestotrotz würde ich alles tun, was nötig war, um wieder ein Mensch zu werden und endlich an Land zurückkehren zu können. Nicht umsonst hatte ich bereits zwei Königreiche durchquert, verzweifelt auf der Suche nach jemandem, der mir helfen konnte. Und wollte. Ich musste einfach zurück zu meinen Großeltern. Oma Holly und Chasper sorgten sich bestimmt fürchterlich um mich und ich würde den Gedanken nicht ertragen können, dass sie mich für tot hielten.

***

Weitere Stunden vergingen, in denen wir durch den dunklen Teil des Pazifiks schwammen. Der Meeresspiegel lag hoch über uns und immer wieder hechteten wir über finstere Täler hinweg, deren Grund stets so tief lag, dass ich es nicht wagte hinunterzusehen. Die Angst, jeden Moment könnte ein Tentakel nach uns greifen, saß mir noch im Nacken, nachdem wir dieses Horrorszenario das letzte Mal so knapp überlebt hatten.

Wir sprachen kaum miteinander, denn die gespenstische Stille um uns herum ließ uns aufhorchen und wachsam sein. Nicht einmal Sorbis und Lorbis scherzten, was schon etwas zu bedeuten hatte. Sie spürten zweifelsohne auch die Anspannung ihres Führers Basil, der sein Seepferd nun so führte, als würde er auf der Lauer liegen. Doch vor wem oder was? Schließlich begegneten wir kaum noch anderen Meeresbewohnern. Vielleicht war dies ja gerade auch ein untrügliches Zeichen?

Immer wieder sah ich mich um, aber egal, wie sehr ich in die Dunkelheit hinausstarrte: Ich konnte weder sehen, noch hören, ob uns Gefahr drohte.

Und es ging nicht nur mir so. Auch meine männlichen Begleiter ließen ihre Blicke mehr oder minder verstohlen schweifen. Selbst Elea, die als Piratin oft so furchtlos wirkte, schien sich nicht wohlzufühlen. Sie schwamm mit ihrem Seepferd nahe an mich heran – zu nahe für meinen Geschmack – und neigte ihrem Kopf zu mir. »Scheiße, ich hätte nicht gedacht, dass es hier so gruselig sein wird.«

Ich antwortete im Flüsterton: »Ich auch nicht. Hast du auch das Gefühl, beobachtet zu werden?«

»Nein«, zischte sie. »Aber danke. Jetzt schon! Als ob diese blöde Kälte nicht reichen würde, um mir Albträume für den Rest meines Lebens zu bescheren.«

»Du bist doch die mutige Piratin«, kicherte ich nervös und schaute mich weiter angespannt um.

»Klar, aber ich kann nur mutig gegen etwas antreten, das ich auch sehe! Hier ist ja nichts Konkretes, dass man bekämpfen könnte!«

Langsam nickte ich. »Die sichtbare Gefahr ist besiegbar, doch der wahre Horror beginnt in unseren Köpfen.«

»Woher hast du denn das?«

»Mein Opa hat ständig Krimis gelesen«, antwortete ich und lächelte traurig angesichts ihres fragenden Gesichtsausdrucks. Natürlich gab es das Wort »Krimi« hier unten nicht, weshalb ich es auf Deutsch ausgesprochen hatte und zusammenzuckte angesichts der Härte dieses Wortes. »Geschichten über Mordfälle und so.«

Eleas Augenbrauen hoben sich überrascht, die Angst verflog für einen Moment aus ihrem Gesicht. »Ihr Menschen seid ja so was von verrückt!«

»Ich hoffe, du weißt, dass ich momentan mehr Media als Mensch bin«, erwiderte ich mit erhobenen Augenbrauen.

»Entschuldige«, mischte sich nun Marus ein, der unsere Unterhaltung offenbar interessiert mitverfolgt hatte. »Aber du bist jetzt gerade durch und durch Media. Das einzig Menschliche an dir sind deine Gedanken.«

»Das war geradezu poetisch«, schnaufte ich und musste ihm doch innerlich recht geben. Mein Äußeres, mein gesamter Körper, ja selbst meine Atmung waren die einer Media. Nur meine Gedanken waren noch menschlich, als hätte ich sie an Land festgepflockt.

»Das war bestimmt ein Kompliment«, grinste Marus mich schief an.

»War es«, nickte ich und fühlte mich seltsam, weil ich in meinem Inneren wirklich noch ein Mensch war, es auch unbedingt sein wollte – aber gleichzeitig bereits so viel mit dem Meer verband.

Als hätten die anderen gespürt, dass meine Gedanken abdrifteten, verfielen wir alle wieder in dumpfes Schweigen.

Ich hätte nicht sagen können, welche Tageszeit wir mittlerweile hatten. Stunde um Stunde ritten wir mit unseren Seepferden weiter voran.

Irgendwann, als die Müdigkeit nicht nur uns, sondern auch unseren treuen Tieren merklich zu schaffen machte, suchten wir uns in einer entlegenen Höhle am Fuße eines Unterwasserberges einen Unterschlupf, der uns Schutz vor überraschenden Angriffen bieten sollte. Die Höhle war gerade so groß, dass sich unsere Seepferde in der einen Ecke zur Ruhe begeben konnten und wir gleichzeitig am anderen Ende noch genug Platz für uns selbst hatten.

Schweigend und mit großem Hunger ließen wir uns auf dem steinigen Boden nieder, um das karge Essen zu genießen, das die Krieger zwischendurch fangen konnten. Für mich hatte ich schnell ein paar Algen gepflückt, die ich mir nun genehmigte.

Ich beobachtete Wamil, der sich ächzend auf den Boden sinken ließ und dabei mit seiner Flosse gegen einen Stein stieß. »Verfluchter Walmist!«, heulte er so plötzlich auf, dass alle zu lachen begannen.

»Das ist nicht witzig!« Er versuchte uns anzufunkeln, doch das Zucken seines Mundwinkels machte seinen bösen Blick zunichte.

»Entschuldige«, kicherte ich und ließ einige Energiebälle erscheinen, die ich unter der Decke der Höhle positionierte, sodass wir alle in warmes Licht getaucht wurden.

»Doch, das war verflucht lustig«, entgegnete einer der Zwillinge – Lorbis? und erhielt prompt einen spielerischen Faustschlag von Wamil gegen den Oberarm. »Au!«

Nun wurde betont fröhlich gelacht, während wir alle versuchten, es uns auf dem kalten Steinboden irgendwie gemütlich zu machen. Im Halbkreis saßen wir den Seepferden gegenüber und beobachteten, wie sie sich auf ihr Essen stürzten, das wir in einer Extratasche mitgenommen hatten. Es bestand aus diversen Knollen und Pflanzen, bei denen wir nicht sicher gewesen waren, ob sie im offenen Ozean so leicht zu finden seien.

»Was macht ihr, wenn wir den Schatz gefunden haben?«, fragte einer der Zwillinge – ich vermutete, dass es nun Sorbis war in die Runde.

»Ich werde erst einmal die hübschesten Media zum Tanzen ausführen und mir ein wenig Spaß gönnen.« Sein Bruder zwinkerte vielsagend und wippte mit seinem Kopf hin und her, als würde er eine Melodie hören, zu der er sich am liebsten jetzt schon bewegen würde.

»Ich werde mir eine Media suchen und mit ihr eine Familie gründen«, erklärte nun der Fragesteller nachdenklich und errötete leicht.

»Wovon reden die?«, fragte ich Nobilis, der überraschenderweise neben mir, statt neben Basil saß.

Verwundert hob er darauf seine Augenbrauen, grinste etwas verlegen und nickte dann Marus zu, der mir antwortete: »Oh, tut mir leid. Das war alles so ein Hin und Her, dass ich schlichtweg vergessen habe es dir zu sagen. Die Krieger sind dabei, weil sie eigentlich einen Schatz suchen, den die Menschen vor ewigen Jahren verloren haben sollen.«

»Sollen? - Haben! Und wir werden ihn finden!«, lachte Laterus, warf seine blauen Haare in den Nacken und begutachtete sein Spiegelbild in der Klinge seines Schwertes. »Außerdem habe ich meinen Anteil schon verplant.«

»Wofür? Eine Haarverschönerung?«, lachte der dicke Wamil und machte seine Kopfbewegung nach, sodass seine schwarzen mittellangen Haare im Wasser hin und her wippten.

»Witzig!« Schmollend hob Laterus sein Kinn an und drückte sein Schwert zurück in seinen Schaft.

Dastus, der dickliche Medius, hielt sich wie gewohnt zurück, wobei seine Mundwinkel amüsiert zuckten. Santur saß direkt neben ihm und starrte finster den Boden an.

»Ihr wollt einen Schatz finden?«, fragte ich, um ganz sicher zu sein, denn diese Geschichte hörte sich für mich ziemlich abgedreht und seltsam an. Wäre das wirklich der Grund gewesen, uns zu begleiten, dann hätten wir doch sicher schon früher darüber gesprochen.

»Ja, das wollen wir. Natürlich werden wir euch bis zum Bermuda-Dreieck eskortieren und auch weiter bis in das Königreich des Indikmeeres, aber dann wollen wir uns auf die Suche nach dem Schatz machen«, antwortete nun Santur gepresst. »Dann können wir dankbar sein, wenn wir euch losgeworden sind.«

»Ey!«, rief Marus sofort empört, während die Zwillinge ein zischendes Geräusch von sich gaben.

»Können wir kurz raus schwimmen und reden?«, fragte ich Santur stirnrunzelnd und erhob mich. Mir war schon zuvor aufgefallen, dass ihn irgendetwas belastete – nein, dass er ein Problem mit mir hatte. Und bevor wir weiterreisten, sollten wir das langsam aber sicher mal klären. Wenn ich mich schon mit irgendwelchen Fremden in eine der gefährlichsten Ecken der Ozeane wagte, wollte ich alle Unklarheiten beseitigt wissen. Versuchsweise.

Ich schwamm voran, während Santur mir aus der Höhle heraus folgte, und spürte im Nacken die neugierigen Blicke der anderen, die sich wahrscheinlich ebenso wie ich fragten, was hier überhaupt los war.

In der Dunkelheit konnte ich kaum etwas erkennen, doch ich setzte meine Kräfte nicht ein, sondern beließ es dabei, weil ich dadurch einen trügerischen Schutz verspürte, den ich selbst nicht ganz verstand.

Vorsichtig setzte ich mich auf eine Kante nahe des Eingangs, damit mir das Licht meiner Energiebälle von drinnen auf den Rücken schien.

Santur ließ sich mit etwas Abstand neben mir nieder. Dann schwiegen wir erst einmal eine Weile.

Erst als ich von hinten wieder Stimmen hörte, die mir zeigten, dass die anderen uns nicht mehr direkt belauschten, entspannte ich mich und atmete tief durch.

»Es tut mir leid«, begann ich nach einem leisen Räuspern.

»Was tut dir leid?«, fragte Santur überrascht, doch schaute mich nicht an.

»Das, was ich getan habe, dass du so wütend auf mich bist«, erklärte ich langsam und schaute ihn von der Seite her an. Ich wusste von meiner Oma, dass es manchmal einfacher für den Kontrahenten war, schwierige Themen anzusprechen, wenn man sich einsichtig gab.

Santurs Kiefer war so angespannt, dass es selbst mir wehtat, eine dicke Ader auf seiner Stirn begann zu pochen, angestrahlt von dem Licht hinter uns. »Ist das so?«

»Ja«, antwortete ich zögerlich, doch wusste nicht, worauf er hinauswollte.

»Das glaube ich nicht«, zischte er und erhob sich so plötzlich, dass ich zurückzuckte – und mich gleichzeitig schämte, so viel Schwäche gezeigt zu haben. Es war ja nicht so, dass ich ihn fürchtete.

Verwirrt erhob ich mich ebenfalls, denn ich wollte ihm auf keinen Fall unterlegen sein, auch da er mich nun voll offensichtlicher Abscheu anstarrte, das Licht auf der Höhle im Rücken. »Was habe ich dir getan?«

Santurs Hände ballten sich zu Fäusten, die er fest an seine Seiten presste, als müsste er sich von etwas abhalten. »Wenn du das nicht weißt, dann kann ich dir auch nicht helfen. Ich an deiner Stelle würde mich nicht mehr in meine Nähe wagen.« Mit diesen Worten schwamm er davon, hinein in die Dunkelheit der Nacht, und ließ mich fassungslos und verwirrt zurück.

Seine Drohung drang nur langsam in mein Bewusstsein vor und auf einmal fühlte ich mich hier draußen allein nicht mehr wohl.

Langsam drehte ich mich um und schwamm zu den anderen, die mich neugierig musterten, aber auch verwundert wirkten, da ich nach so kurzer Zeit und vor allem allein zurückkehrte.

»Alles in Ordnung?«, flüsterte Nobilis, während um uns herum die Gespräche stockten.

»Ich bin mir nicht sicher«, murmelte ich und runzelte verwirrt meine Stirn.

»Wo ist denn Santur?«, fragte Wamil auf einmal laut und wieder wanderten alle Blick zu mir.

Ich schluckte und atmete tief ein. »Ich weiß es nicht. Er ist einfach davongeschwommen.«

»Mach dir nichts daraus. Wenn er schlechte Laune hat, dann verzieht er sich immer. Nimm das nicht persönlich«, erwiderte Anführer Basil und lächelte mir aufmunternd zu.

Ich lächelte halbherzig zurück und fühlte mich nur noch halb so mutig wie vor ein paar Minuten.

 

2. KAPITEL

VERRÜCKTE FREUNDSCHAFTEN

»Heilige Feuerqualle, wann bekommst du denn mal bessere Laune? Ist ja kaum auszuhalten dich so niedergeschlagen zu sehen.« Elea ließ sich neben mich sinken und knuffte mich in die Seite, wie sie es oft tat.

»Puh, keine Ahnung«, erwiderte ich mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Ich denke, wenn ich endlich wieder zwei Beine habe.«

»Ich stelle mir das total anstrengend vor, mit zwei von diesen Dingern klarkommen zu müssen. Okay, an Land machen die vielleicht Sinn, weil eine Flosse dich da nicht unbedingt weiterbringt.«

»Allerdings.«

»Was vermisst du am meisten, außer deiner Familie?«

»Fleisch«, war meine vorschnelle Antwort und ich lachte kurz auf, weil mir das im nächsten Moment so seltsam vorkam. »Jahaa, die Adella von früher würde erst einmal Tonnen von Hamburgern verdrücken. Dazu fettige Pommes mit Mayo und eine Cola.«

»Fleisch?« Sorbis und Lorbis hatten mich gehört und kamen neugierig näher.

»Ich weiß, ihr esst hauptsächlich Fisch, doch bei uns an Land gibt es noch ganz andere Tierarten«, begann ich zu erklären. »Riesige, schwarzweiß gefleckte Kühe oder Schafe mit dichtem, weißem Fell, das ganz bauschig ist.«

»Bei uns gibt es auch Fleisch, von Robben beispielsweise, aber das essen wir nicht. Höchstens, wenn wir wirklich kurz vorm Verhungern sind. Und überhaupt hört es sich irgendwie ekelhaft an, wenn du sagst, dass die Tiere bei euch alle mit Haaren überzogen sind«, lachte Elea und ihre Augen funkelten mir vergnügt entgegen. »Kein Wunder, dass du keinen Fisch magst.«

»Du magst keinen Fisch?!«, ertönte es plötzlich von allen Seiten und mir schien, als würde mich wirklich jeder in dieser Höhle anstarren – ebenso unsere Seepferde.

»Ja, ich mag ihn so gar nicht«, bekräftigte ich und spürte, wie ich rot wurde. »Ich habe ihn noch nie gemocht und hier unten ist er so … keine Ahnung … roh

»Wie konnten wir das nur übersehen? Hast du davon gewusst, Nobilis?«, fragte Marus, sichtlich schockiert.

Sein Bruder zog die Stirn in Falten. »Na ja, mir ist schon aufgefallen, dass sie ihn nicht isst, aber ich dachte, das würde an mangelndem Hunger oder so liegen. Wieso hast du nie etwas gesagt?« Sein Blick heftete sich nun an meinen.

In Anbetracht seines vorwurfsvollen Tonfalls verzog ich entschuldigend den Mund. »Wozu? Um mich noch seltsamer wirken zu lassen? Ist doch nicht so schlimm, dass ich es nicht mag.«

»Kein Wunder, dass du so dünn geworden bist«, murmelte auf einmal Marus.

Nobilis' Blick wurde noch finsterer, während er mich von oben bis unten musterte. »Das gefällt mir nicht.«

Sofort hob ich beschwichtigend meine Hände und wurde noch dunkler im Gesicht. »Alles okay. Leute! Es geht mir gut und dass ich abgenommen habe, liegt sicher nur am Stress. Immerhin mussten wir alle hier schon einiges mitmachen.«

Langsam nickte Nobilis, auch wenn er nicht sonderlich überzeugt schien.

»Also ich finde, dass ihr schmaler Körperbau sehr anziehend ist«, mischte sich nun Laterus ein, der für einen Moment nicht sich selbst, sondern mich betrachtete. Aber nicht begehrend, eher prüfend.

»Da muss ich Laterus ausnahmsweise zustimmen. Sie sieht gut aus«, bestätigte nun auch der kräftige Wamil und grinste mich an, während die Zwillinge Sorbis und Lorbis nickten und von den anderen Kriegern ebenso zustimmendes Gemurmel erklang.

»Könntet ihr bitte damit aufhören, sie anzustarren?«, knurrte Nobilis, bevor er sich abwandte.

»Er ist eifersüchtig«, flüsterte mir plötzlich Elea ins Ohr. »Dieser Medius steht ja so was von auf dich.«

»Was?! - Nein! Niemals!«, kreischte ich ein wenig zu schrill und wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch dunkler im Gesicht.

»Was nein?«

»Nichts«, erwiderte ich hastig auf Marus' Frage und drehte mich von ihm weg, um Elea einen strafenden Blick zuzuwerfen. »Sag so was niemals wieder, denn es stimmt nicht!« Ich warf einen Blick hin zu Nobilis, der sich nun wieder mit Basil unterhielt, mich jedoch weiterhin betrachtete.

»Ich weiß doch schon lange, dass du ein Auge auf ihn geworfen hast«, kicherte Elea. »Wieso machst du es dir denn so schwer?«

Mit entwich ein leiser Seufzer. »Das zwischen uns ist … kompliziert

»Ach ja? Ich verstehe wirklich nicht, was daran kompliziert sein sollte, außer –« Sie riss ihre Augen auf und starrte mich an, bevor sie Nobilis ansah, der uns nun mit sichtbarer Neugier musterte. »Das kann nicht wahr sein!«

»Was?«, fragten Nobilis und ich gleichzeitig.

Elea sprang auf und preschte auf Nobilis zu, bevor sie ihn umwarf und ihn auf den Rücken schmiss. »Du Dreckskerl!«

»Elea! Was soll der Mist?«, kreischte ich und sprang auf.

Nobilis tat es mir gleich und baute sich vor Elea auf: »Ja, das würde ich auch gerne wissen!«

Elea schnappte nach Wasser und bohrte ihm ihren Zeigefinger in die Brust, so fest, dass die Haut dort weiß anlief. »Du hast das arme Ding bereits verführt!«

»O mein Gott«, murmelte ich und schlug mir mit der Hand auf die Stirn, während ein peinlich berührtes Brennen in meinen Augen einsetzte. »Hat er nicht!«

»Nein? Aber … hä?« Völlig verwirrt schaute sie zwischen uns beiden hin und her. »Aber die Zeichen sind doch eindeutig.«

»Wir hatten nichts miteinander und ich habe sie schon gar nicht verführt«, knurrte Nobilis. Er schien nun echt sauer zu sein.

Ich fühlte mich schlagartig müde – und ich war verletzt, auch wenn ich keinen Grund dazu hatte. »Er hat recht«, murmelte ich und biss mir auf die Unterlippe, während ich allen Blicken um mich herum auswich und wieder einmal den Boden anstarrte. »Sorry, ich muss eben –« Ohne meinen Satz zu beenden, schwamm ich aus der Höhle hinaus und brachte Abstand zwischen mich und die anderen – nicht darüber nachdenkend, dass dort draußen irgendwo Santur war, der mich vorhin erst bedroht hatte.

»Adella, warte!« Nobilis packte mich, noch bevor ich in die Schatten der nächtlichen See eintauchen konnte. Er zog mich zu sich zurück.

»Was willst du?«

»Es ist hier zu gefährlich für dich«, erklärte er mir und legte seine Hand unter mein Kinn, womit er mich zwang, ihn anzusehen.

Tiefe Enttäuschung durchfloss mich, während ich meinen Kopf schüttelte und ihn von mir wegdrückte. »Ich bleibe in der Nähe, okay?«

»Du willst mit diesem Jack Kontakt aufnehmen, oder?« Er flüsterte so leise, dass nur ich ihn hören konnte.

»Und wenn es so wäre?«, knurrte ich und spürte unwillkürlich Magenschmerzen, da mir klar wurde, wie lange ich schon nichts mehr von Jack gehört hatte. Er war einfach so verschwunden. Elea und Nobilis hatten mich bei unserem letzten Gespräch belauscht, weshalb sie nun dachten, dass ich unter Halluzinationen litt.

»Adella …« Die vermeintliche Sanftheit in Nobilis' Stimme machte mich rasend vor Wut.

»Lass mich einfach in Ruhe! Ich will nichts davon hören! Er ist echt und wenn ihr wirklich meine Freunde wärt, würdet ihr mir nicht einreden, dass ich verrückt werde!«

Nobilis verzog beinahe qualvoll sein Gesicht, während seine Hände sich auf meine Schultern legten und er mich plötzlich und ohne Vorwarnung an sich zog. Er umarmte mich, hüllte mich mit seiner Wärme ein und hielt mich einfach fest.

»Ist das deine Art, dich zu entschuldigen?«, fragte ich atemlos und spürte, wie mein Herz heftig gegen seine Brust klopfte. Ich wagte es einfach nicht, mich zu entspannen, während mein verzücktes, dummes Mädchenherz nur noch schneller schlug, als er mit seinen Händen zärtlich über meinen Rücken glitt.

»Nein. Ja. Keine Ahnung«, lächelte er in meine Haare hinein und ließ mich für eine Sekunde das Wasser in meinen Lungen anhalten. »Wie kommt es, dass Elea denkt, wir hätten miteinander –«

»Keine Ahnung«, fiel ich ihm ins Wort und war wie erstarrt. »Sie ist verrückt, weißt du doch.«

»Elea ist verrückt, ja, aber sie ist auch wirklich nett und sie mag dich sehr.«

»Ich weiß«, murmelte ich an seiner Brust und irgendetwas in seiner Stimme ließ mich tatsächlich entspannen. »Aber ich … ich mag sie irgendwie auch, obwohl sie mich wahnsinnig macht. Doch ich will nicht … Ich kann nicht …«

»Du hast Angst, dass du sie zu sehr magst und es dir wehtun könnte, wenn du wieder ein Mensch bist und sie verlassen musst?«

Als ich nickte, lachte er leise, heiser, rauchig. »Und was ist mit uns?«

»Dafür ist es schon lange zu spät«, murmelte ich und machte mich langsam von ihm los, während ich ihn traurig betrachtete. »Ihr seid wie eine Familie für mich, wie Brüder –«

»Das hast du jetzt nicht ernsthaft gesagt?!«, kreischte Elea hinter mir, worauf wir herumfuhren und uns auch jetzt erst auffiel, dass sie, Marus, Lorbis und Sorbis nähergekommen waren, um uns zu belauschen.

Prompt brachte ich noch mehr Abstand zwischen mich und Nobilis. »Elea, das geht dich überhaupt nichts an!«

»Sag ihm endlich, dass du ihn scharf findest!«

Ich schnappte nach Wasser und sah sie so finster an, dass sie augenblicklich bleich wurde. Anscheinend wurde ihr gerade klar, was sie da eben gesagt hatte.

»O Adella … ich … ähm … «

»Adella, ist das wahr?«, fragte Nobilis neben mir. War ja klar, dass er direkt darauf einsteigen musste.

Mein Gesicht erstarrte, jeder Muskel wurde hart, als ich mich zu ihm drehte und ihn anstarrte.

Bei meinem Anblick zuckte er zusammen, bevor er beschwichtigend seine Hände hob. »Entschuldige.«

»Wisst ihr was?«, rief ich ihm und Elea aufgebracht zu, während ich spürte, wie heiße Röte meine Wangen und meinen Hals überzog. »Ich will nichts mehr davon hören. Von keinem von euch!« Damit fuhr ich herum und ließ sie zurück, während ich mich in Grund und Boden schämte.

***

Mitten in der Nacht weckte mich Basils leise Stimme. »Wir müssen herausfinden, was es damit auf sich hat. Wenn diese Legenden wahr sind, dann müssen wir doch mehr tun, als sie nur zu begleiten.«

»Denkst du wirklich, dass sie der Mittelpunkt dieser Legende ist?«, entgegnete Nobilis – und ich war wach. Hellwach.

»Welche Legende?«, fragte ich in die kurze Stille hinein.

Sie zuckten gleichzeitig zusammen und wandten ihre Köpfe mir zu, was ich nur schemenhaft erkennen konnte, während die anderen um uns herum sich davon nicht stören ließen und weiterschliefen.

»Die Legende von den Piraten«, erwiderte Basil sanft.

»Ach ja, da war ja was«, murmelte ich und lachte verhalten auf. »Ihr könnt unmöglich daran glauben. Wie war das noch mal? Ein Menschenmädchen kommt ins Wasser und besiegt die böseste Macht der Meere, damit alle in Frieden weiterleben können?« Ich schnaubte und funkelte Nobilis an. »Prinzessin Adellana soll sie heißen, aber sicher doch. Das ist so ein Quatsch!«

»Du erinnerst dich aber offenbar noch ganz genau daran, auch wenn du uns nicht glaubst«, konterte Nobilis und er hatte recht. Diese Worte hatten sich in mein Gehirn gebrannt, gleichwohl ich nicht wusste, weshalb.

»Reicht es denn nicht, dass ich in eine Media verwandelt wurde, obwohl ich ein Mensch bin? Muss ich dann auch noch diese komische Prinzessin sein?«, blaffte ich ihn an und verschränkte meine Arme vor der Brust. »Das sind Geschichten und alles andere nur reine Zufälle!«

»Adella, wir sagen doch überhaupt nicht, dass wir uns sicher sind. Aber falls – wirklich nur falls – diese Legende wahr sein sollte, dann sollten wir uns noch mehr als bisher um deine Sicherheit kümmern«, versuchte es Basil nach wie vor auf die versöhnliche Art.

Ich hingegen schnaubte genervt. »Können wir nicht einfach erst einmal davon ausgehen, dass diese Legende nicht mich meint? Das wäre wirklich nett. Ich habe, weiß Gott, andere Probleme, als diese blöde Legende.«

»Gut, wir lassen das Thema vorerst ruhen«, knickte Basil ein und lächelte mich an. »Wir sollten ein wenig schlafen. Morgen wird wieder ein langer Tag.«

Ich nickte und warf Nobilis noch einen finsteren Blick zu, bevor ich mich wieder hinlegte.

Die beiden unterhielten sich noch leise, doch ich konnte oder wollte ihnen nun nicht folgen, denn wie schon in der Nacht zuvor kreisten meine Gedanken um Oma und Chasper. Um unsere letzten gemeinsamen Stunden, in denen wir gelacht und trotz der Umstände eine glückliche Familie gewesen waren. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als ich daran dachte, wie ich ihnen einfach den Rücken zugekehrt und mich hatte hereinlegen lassen. Ich wollte mir den Moment gar nicht ausmalen, als sie gemerkt haben mussten, dass ich verschwunden war, und spürte dennoch Panik in mir aufsteigen, dieselbe, die auch sie empfunden haben mussten. Wir waren seit dem Tod meiner Eltern immer zu dritt gewesen, sie hatten mich aufgefangen und mir gezeigt, dass mein Leben nicht aus Schmerz bestehen musste. Sie waren immer für mich dagewesen. Und ich … war dumm.

Meine Augen brannten, während ich meine Lippen fest zusammenpresste und versuchte, mich nicht von Schmerz, Heimweh und Schuldgefühlen überrollen zu lassen.

Verzweifelt lenkte ich meine Gedanken in andere Bahnen und plötzlich sah ich Jacks Gesicht vor meinem inneren Auge. Die erste »Person«, der ich nach meiner Verwandlung begegnet war …

Jack …

War er wirklich nur … eine Halluzination? Wurde ich wirklich verrückt? Er war schon so lange nicht mehr aufgetaucht, dass ich langsam aber sicher an mir zu zweifeln begann. Doch am schlimmsten war der fast körperliche Schmerz, den ich empfand, wenn ich an ihn dachte.

Vielleicht war er tatsächlich nur meinem Geist entsprungen, meinem verqueren Kopf, damit ich nicht völlig durchdrehte und jemanden an meiner Seite hatte, der mir das Gefühl schenkte, er würde mich hier unten begleiten. Ganz wie Oma Holly und Chasper zuvor.

Und war nicht gerade das ein Zeichen dafür, dass etwas mit mir ganz und gar nicht stimmte?

***

Am nächsten Morgen war ich noch vor allen anderen wach und in meinem Kopf spukten immer noch so viele Gedanken, dass ich lautlos hinausschwamm und mich vor die Höhle setzte. Das Wasser war wie immer angenehm und der Sand unter meiner Flosse so ungemein weich, so anders als früher. Noch immer kam es mir seltsam vor, dass ich kein Mensch mehr war und dass ich es dem Anschein nach so schnell auch nicht wieder sein würde. Mehr und mehr machte sich die schmerzhafte Befürchtung in mir breit, dass ich mich an diesen Zustand gewöhnen musste.

»Kannst du nicht mehr schlafen?«

Ich nickte, als ich Marus dabei zusah, wie er sich neben mich setzte. »Du auch nicht?«

»Ich habe nachgedacht.«

»Ach ja?« Ich lächelte und begann mit meinem Zeigefinger Bilder in den Sand zu malen. »Worüber?«

»Über Santur. Weißt du, was mit ihm los ist? Was er gegen dich hat?«

Mein Lächeln verging und ich schüttelte langsam meinen Kopf. »Keine Ahnung …« Marus würde ausflippen, wenn er von der Drohung erfahren würde und ich wusste nicht, ob Santur es vielleicht gar nicht so gemeint hatte und einfach nur wütend gewesen war …

»Hat er dir denn nichts gesagt?«, hakte Marus nach und begann ebenfalls Linien in den Sand zu malen.

»Nein. Seine Aussage war: Wenn ich es selbst nicht wüsste, könnte er mir auch nicht helfen.«

»Das hört sich seltsam an. Ich finde, du solltest dir da nicht solche Gedanken drüber machen. Der hat doch echt einen Schaden, wenn er dich so behandelt und dann nicht einmal die Schwanzflosse hat, dir zu sagen, was sein verdammtes Problem ist.«

Ich grinste über seinen Ausdruck, doch wurde sofort wieder ernst. »Es ist echt seltsam. Vor allem, weil ich ihn überhaupt nicht kenne. Soweit ich weiß, sind wir uns noch nie zuvor begegnet. Wie kann er dann ein Problem mit mir haben?«

»Weil er ein Idiot ist. Hör auf dir darüber Gedanken zu machen. Dadurch wird es auch nicht besser.« Marus sah mich an und lächelte angriffslustig. »Wenn du willst, dann kann ich ihn mir auch gerne vorknüpfen.«

Ich verzog meinen Mund und hoffte inständig, dass Santur nicht genau jetzt irgendwo hier in der Nähe saß und uns belauschte. »Nein. Das will ich nicht. Wir sind doch alle erwachsen und können das schon irgendwie unter uns regeln. Aber danke für das Angebot.«

Jetzt wurde Marus wieder ernst. »Du weißt aber, dass ich das für dich tun würde, oder?«

»Warum? Weil kleine Brüder immer die Leute verhauen, die der großen Schwester auf die Nerven gehen?«, neckte ich ihn grinsend und stieß ihn an.

Seine Brust schwoll an. »Nein, weil große Brüder das für ihre kleinen Schwestern tun. Wie kommst du eigentlich auf die Idee, dass ich der Jüngere von uns beiden bin? Du bist einen halben Meter kleiner als ich.«

Ich lachte auf und knuffte ihn in die Seite. »Weil du dich wie ein Kind benimmst.«

Gespielt verletzt stöhnte er auf und begann kurz darauf in schallendes Gelächter auszubrechen. »Stimmt doch überhaupt nicht.«

3. KAPITEL

DAS BRENNEN VON ANGST

Marus und ich witzelten noch ein wenig herum und als hätten Sorbis und Lorbis nur darauf gewartet, dass die Stimmung sich lockerte, kamen sie zu uns herausgeschwommen – und taten so, als hätten sie uns überhaupt nicht hier erwartet. »Oh, was macht ihr denn hier?«

»Nichts«, kicherte ich ein wenig zu hastig und stieß die beiden Medius damit wohl vor den Kopf.

»Sorbis, ich denke, wir sollten uns wieder verziehen. Die zwei möchten bestimmt nicht mit uns hier draußen sitzen.«

»Du hast recht, Lorbis. Komm, wir schwimmen.«

Amüsiert verzog ich mein Gesicht zu einem schiefen Grinsen und bevor sie um die Ecke verschwinden konnten, rief ich nach ihnen: »Ach, ihr stört doch nicht. Kommt ruhig zurück.«

Kaum sprach ich das aus, glitten sie schon freudig auf uns zu und setzten sich uns gegenüber in den Sand.

»Und was gibt es so ›Interessantes‹ zu besprechen?« Sorbis versuchte seine Neugier ein wenig besser zu verbergen als sein Bruder und tat so, als würde er etwas Hochspannendes auf dem Meeresboden beobachten. Ein Schneckenrennen oder so.

»Wir reden über Geschwister. Für unsere kleine Adella ist das nämlich neues Gebiet und sie wollte ein paar Tipps haben.« Marus zwinkerte mir zu und ich musste mein Kichern schnell hinter einem vorgetäuschten Hustenanfall verbergen.

Die Brüder grinsten sich nur an und Lorbis lehnte sich zurück, als würde er etwas wissen, das ich nicht wusste.

»Also, du solltest das alles nicht so eng sehen. Einen Bruder zu haben ist an und für sich nicht so schlecht. Du hast immer jemanden, der zu dir steht. Manchmal ist es nervig, ja, dann geht dir die bloße Anwesenheit des anderen schon auf den Geist.«

»O ja! Dann müssen wir uns stundenlang aus dem Weg schwimmen. Aber ansonsten ist es ganz in Ordnung. Du weißt eben, dass du immer jemanden hast, der an dich denkt, wenn andere es eventuell nicht tun würden.« Wieder grinsten die beiden und sofort überkam mich eine wilde Freude.

»Ich glaube, es wäre doch irgendwie nicht so gut, wenn wir Geschwister wären … «, murmelte Marus auf einmal nachdenklich und legte mit angewidertem Gesichtsausdruck seinen Kopf schief.

Ich runzelte meine Stirn fragend.

»Nun«, räusperte er sich. »Dann wären du und Nobilis auch … Bah! Die Vorstellung ist echt ekelhaft!«

»Wow, Leute, zwischen mir und Nobilis läuft nichts!«

»Wer's glaubt!«, prustete Marus und schlug sich vor Lachen auf seine Flosse.

Auch ich begann schallend zu lachen und schaute zu den Brüdern hin, die sich erst verwirrt ansahen und dann genauso angewidert den Mund verzogen wie eben Marus. Anscheinend mahlten ihre Mühlen nicht so schnell.

»Bah!«, krächzten sie gleichzeitig und schüttelten sich.

»Was ist denn hier los?«

Ich versteifte mich, während alle anderen sich lachend zu Nobilis umdrehten. Natürlich! Wer sollte da auch sonst sein?

»Nichts, Adella und ich haben nur gerade festgestellt –«

»Halt die Klappe!«, zischte ich peinlich berührt und knuffte Marus in die Seite.

»Aber -«

»Sei leise!«

»Okay«, ertönte auf einmal Eleas Stimme und ich drehte mich zu ihr um, gerade rechtzeitig, um noch ihr verschlagenes Grinsen zu sehen. »Das hört sich doch verdammt interessant an, findest du nicht, Nobilis?«

»Allerdings.« Langsam verschränkte er die Arme vor seiner Brust und betrachtete uns prüfend.

Ich biss mir auf die Unterlippe und funkelte Marus gleichzeitig böse an. »Du bist schuld daran, wenn das jetzt in die Hose geht.«

»Hä?«

»Meine Güte, wieso versteht mich hier eigentlich niemand?«, murmelte ich, während ich mich aufrappelte und Nobilis einen hochmütigen Blick zuwarf. »Wir sind übereingekommen, dass es total ekelhaft wäre, wenn wir zwei etwas miteinander anfangen würden.«

»Wie bitte?!«, knurrte Nobilis.

»Ah!«, kreischte Elea, während Marus ebenfalls von seinem Platz aufsprang. »O nein, so haben wir das natürlich nicht gesagt!«

»Na ja doch, so ähnlich«, widersprach einer der Zwillinge, worauf der andere nickte und dabei ganz unschuldig zu Nobilis aufblickte. »Ja, fast genauso.«

»Ich wusste doch, dass es die beste Entscheidung meines Lebens war, euch zu begleiten«, japste Elea atemlos, wobei sie sich am Höhleneingang anlehnen musste, um nicht vor lauter Lachen umzukippen.

Nobilis sah so angepisst aus, dass ich meine Worte schnell bereute. Er war manchmal wirklich ein Arsch – immer noch –, aber er war auch irgendwie … Ich zuckte mit meinen Schultern. »Entschuldige, das war ein Scherz. Marus meinte, wenn er und ich Geschwister wären, wäre es ziemlich ekelig, da du und ich ja dann auch –« Ich unterbrach mich selbst und lächelte gequält. »Zum Glück ist das ja nicht so.«

Elea hörte schlagartig auf zu lachen und ihr Blick wurde ganz mitleidig, während sie auf mich zuschwamm und ihren Arm um mich legte. »Oh, du bist manchmal so süß.«

Ich zog meine Nase kraus. »Klar, süß.« Eher total bescheuert. »Ich hole mir mal eben was zu essen«, fügte ich schnell hinzu, als mich alle ansahen, und löste mich aus Eleas Umarmung, bevor ich an dem Berg entlangschwamm und nach Algen Ausschau hielt, die ich essen konnte.

Als ich endlich geeignete Wasserpflanzen fand, hatte sich mein polternder Herzschlag wieder etwas beruhigt. Trotzdem regte ich mich innerlich immer noch darüber auf, dass ich mich wieder dermaßen aus der Fassung hatte bringen lassen. Wegen ihm.

Ich schluckte, als ich daran dachte, wie Chasper mich immer damit aufgezogen hatte. Noch während ich ein paar Algen aus dem Boden riss, überkam mich eine dunkle Angst.

»Adella?«

Ich drehte mich nicht zu Elea um, sondern starrte den Boden an, wunderte mich nicht einmal, dass sie mir gefolgt war. »Was ist, wenn sie mich schon längst aufgegeben haben? Könnte es dann nicht sein, dass sie völlig durchdrehen, sollte ich eines Tages tatsächlich wieder zurückkehren?« Ein schmerzhafter Kloß bildete sich in meiner Brust. »Falls ich jemals zurückkehre …«

Als Elea nach einigen Momenten immer noch nichts darauf erwiderte, drehte ich mich zu ihr um. Meine Augen brannten, als ich bemerkte, wie mitleidig sie mich betrachtete. »Ich meine, das alles hier ist so … ich fühle mich wie in einem Fantasyroman. Als wäre ich nicht ich selbst und würde jeden Moment wieder aufwachen. Was ist, wenn ich …«

»Wenn du was?«, hakte sie nach und ihre Stimme klang ungewohnt sanft, beinahe zärtlich.

»Was ist, wenn ich nur einen Unfall hatte und im Koma liege? Was ist, wenn sie jeden Moment die Maschinen abschalten und ich dann sterbe? Wie kann ich sicher sein, dass das alles hier überhaupt echt ist?« Ein irres Lachen stieg in mir auf, während ich die Algen in meiner Hand zerquetschte. »Ich meine, scheinbar habe ich mir sogar Jack eingebildet, denn er ist schon ewig nicht mehr bei mir gewesen. Und weißt du, was das Verrückteste an all dem ist?«

»Was?« Elea sah mich nun so traurig an, dass ich wieder wegschauen musste.

»Ich vermisse Jack so sehr, dass es weh tut«, flüsterte ich und stieß ein gequältes Stöhnen aus. »Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat, aber ich fühle mich so … einsam.« Das letzte Wort sprach ich nur ganz leise aus, zaghaft – und doch schien es in meinen Ohren zu dröhnen.

»Du weißt, dass du nicht allein bist, oder?« Vorsichtig machte Elea einen Flossenschlag auf mich zu. »Du hast die Krieger um dich herum, Marus, Nobilis und natürlich mich. Wir sind die ganze Zeit bei dir.«

»Ich weiß«, stöhnte ich frustriert und strich mir über mein Gesicht, weil sie einfach nicht verstand, was ich meinte – ich verstand ja selbst nicht einmal, worauf ich genau hinauswollte!

»Du mochtest diesen Jack also sehr«, murmelte sie und runzelte ihre Stirn dabei so sehr, dass es fast schmerzhaft aussah.

»Ja.« Mehr konnte ich dazu nicht sagen.

»Aber du weißt, dass ihn bisher niemand außer dir gesehen hat, oder?«, fügte sie noch an und brachte mich dazu, frustriert aufzulachen.

»Ich weiß! Und das ist ja das Schlimme! Ich habe womöglich Gefühle für eine Halluzination!«

»Du glaubst uns also?«

Ich schluckte und ganz langsam nickte ich, denn es war Zeit, es mir einzugestehen. Ein Teil von mir glaubte ihr, glaubte, dass Jack nichts anderes war als pure Einbildung. Der andere Teil, der in meinem Inneren brüllte und zeterte, dass es ihn sehr wohl gab, wurde immer leiser. »Aber das bedeutet, dass ich wirklich verrückt werde, dass es mich wirklich verrückt macht, hier unten zu sein. Was ist, wenn ich völlig durchdrehe, bevor wir es ins Königreich des Indikmeeres schaffen?«

»Du hast so viele Wenn und Aber in deinen Gedanken«, lächelte sie und kam noch näher, so nah, dass sie meine Hand nehmen konnte. »Dabei ist es ganz einfach: Wir machen diese Reise und werden dich irgendwie wieder in einen Menschen zurückverwandeln lassen.«

»Und was ist mit eurer verrückten Legende?«

Elea lächelte breiter. »Legenden sind auch nur Geschichten. Solltest du tatsächlich eine Rolle darin spielen, werden wir das ohnehin herausfinden. Doch bis dahin werden wir alles dafür tun, dass du wieder gesund und munter nach Hause kannst.«

Mein Hals schnürte sich zu, während ich sie betrachtete, ihre Narben ansah, die ihre Flosse verzierten. »Warum bist du so nett? Ich war oft schon gemein zu dir, so genervt.«

»Tja«, lachte sie nun, »das habe ich so an mir. Ist ein Talent, wie mein Vater immer sagt.« Sie drückte meine Hand ein wenig fester. »Und ich bin wirklich froh, dass ich euch begleiten darf.«

»Und ich bin froh, dass du mitgekommen bist«, gestand ich und wurde - natürlich wieder rot, da Elea mich ansah, als würde sie gleich losheulen wenn sie denn könnte.

»Das ist wirklich das Netteste, was du jemals zu mir gesagt hast.«

»Hey, ein Mädchen dabei zu haben, ist für mich die Rettung. Niemals hätte ich das alles vor den anderen sagen können. Marus ist toll, aber … er würde es nicht verstehen. Und Nobilis schon gar nicht.«

»Siehst du! Ich bin toll!«

Ich löste meine Hand aus ihrer und stopfte mir eine Alge in den Mund, da mein Magen zu knurren begann. »Bloß nicht übertreiben.«