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Pirouetten des Lebens

MARIKA KILIUS

Pirouetten des Lebens

ERINNERUNGEN

Unter Mitarbeit von Shirley Michaela Seul

Integral

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Abbildungsnachweise Bildteil: Seite I, II, III, IV, VI rechts oben und Foto unten, VII, XX, XXI, XXII: privat; Seite VI links oben, XVIII oben: Fritz Frischmann, Frankfurt am Main; Seite VIII: Pressebilderdienst Horst Müller/Aufn. Schoelkopf; Seite IX oben: ddp images; Seite IX unten: HIPP-Foto Marianne Winkler; Seite X: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin/Hanns Hubmann; Seite XI oben: Winfried E. Rabanus, Bochum; Seite XI unten: Süddeutsche Zeitung Photo; Seite XII: Hans Krutsch, Frankfurt am Main; Seite XIII: Kineos GmbH, Oberhaching; Seite XIV: JNA Berneis, München; Seite XV: ROBA Press/René Durand; Seite XVI, XVIII unten, XIX, XXIII, XXIV unten: Nobel-Press, F. G. Schulze, Berlin; Seite XVII: Holiday on Ice; Seite XXIV oben: babirad pictures, Roman Babirad, München.

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Integral Verlag

Integral ist ein Verlag der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

ISBN 978-3-641-10388-0
V002

Erste Auflage 2013

Copyright © 2013 by Integral Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte sind vorbehalten.

Einbandgestaltung: Guter Punkt, München – Andrea Barth

Coverfoto: Stephan Pick Photography

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

www.integral-verlag.de

Inhalt

Die vorgeburtlichen Fußstapfen

Im Spagat

Das Geheimnis

Anschaffen

Eine Weltmeisterin genügt

Axelrausch

Wunderkinder

Die Hellseherin

Wachstumsstörungen

Käfer in Krinoline

Sommertraining

Vom Einzelläufer zum Paar

Der Eisprinz

Das Eislaufmutterpaar

Lampenfieber

Elvis on Ice

Die Magie des Eislau fens

Sommereis

In fünf Min uten du rch die Hölle in den Himmel

Der Berliner Vierer

Zwei Verehrer und ein 4711

Olympische Spiele in Squaw Valley

Der Absturz

Der Prager Sturz

Weltmeister!

Sechskommanull

Sprünge, Spiralen und der Gesamteindruck

Olympische Spiele 1964, Innsbruck

Angst vor den Russen

Der Abschied von den Amateuren

Die verlorene Medaille

Die große Kür

Die große Hochzeit

Die Wiener Eisrevue

Kugelrund und kerngesund

Premiere als Mutter

Schneewittchen

Zirkus first class

Zwei Feuerzeichen im Frühling

Kondition gegen Kreislauf

Liebe auf den ersten Blick

Hinter den Kulissen

Familienzuwachs

Schwester Melanie

Der Beinbruch

Die Scheidung

Hochzeit in Las Vegas

Alles Acryl

Abschiede

Das Osterei

Disco!

Das Wassermannzeitalter der Frauen

Adagio mit Billy

Würstchenbörse

Goldstücke

Dancing on Ice

Weggefährten

Die Wiedergeburt meines spirituellen Lebens

Auszeichnungen und sportliche Erfolge (Auswahl)

Bildteil

Die vorgeburtlichen Fußstapfen

Ich war vier Jahre alt, als meine Mutter ihre Erwartungen an mich von höherer Stelle bestätigt haben wollte. »Ihre Tochter wird ihren späteren Beruf mit den Beinen ausüben«, prophezeite eine bekannte Astrologin. Meine Mutter nickte. Diesen Weg hatte sie bereits für mich eingeschlagen. »Und sie wird außerordentlich erfolgreich sein.«

Das hörte meine Mutter gern. Ihr Plan schien aufzugehen. Die Fußstapfen, in die ich einmal treten sollte, hatte sie bereits vor meiner Geburt für mich bestimmt, und ich trainierte hart, um sie eines Tages auszufüllen. Im Ballett war ich seit meinem zweiten Lebensjahr, kurz danach kam ich in die »Kautschukschule«, wo ich mich zu verbiegen lernte. Und natürlich meldete meine Mutter mich auf der Frankfurter Rollschuhbahn zum Training an. Groß waren die Fußstapfen, die sie für mich auserkoren hatte. Und sie wollte keinen Fehler machen. Deshalb schrieb sie noch vor meiner Geburt an ihr Idol, die weltberühmte Schauspielerin, Tänzerin und Sängerin Marika Rökk.

»Ich werde eine Tochter bekommen«, schrieb meine Mutter, »wäre es Ihnen recht, wenn ich sie nach Ihnen nennen würde? Denn sie soll so werden wie Sie.«

Marika Rökk hatte nichts dagegen. Sie teilte meiner Mutter sogar mit, dass sie die Laufbahn ihrer Tochter, die damals noch gar nicht auf der Welt war, gespannt verfolgen würde. Was meine Mutter beflügelte. Kaum kam ein neuer Film mit Marika Rökk ins Kino, ließ sich meine Mutter schon die aktuelle Garderobe des Stars nachschneidern. Marika Rökk hielt übrigens Wort. Ich lernte sie im Alter von sechs Jahren kennen – da hatten meine Füßchen schon Hunderte von Auftritten absolviert, und ich war Stadtmeisterin im Rollschuhlaufen. Wir trafen uns viele Male bis zu ihrem Tod 2004.

Meine Mutter Leni, 1909 geboren, träumte als junge Frau von einer Karriere an der Operette. Das Zeug dazu hätte sie gehabt. Sie war hübsch und konnte singen und pfeifen wie Ilse Werner. Doch meine Großmutter hatte andere Pläne für sie. »Du wirst Modistin.«

»Ja, und was macht man da?«, fragte meine Mutter.

»Das lernst du dann schon.«

Mit der Modistin gab meine Mutter sich nicht zufrieden, sie wurde Hutmachermeisterin und eröffnete Anfang der 1930er-Jahre in Frankfurt ein Geschäft. Später stellte sie noch einige Angestellte und Lehrmädchen ein.

In Frankfurt lernte sie auch meinen Vater, 1907 geboren, kennen; seine Familie betrieb mehrere Friseursalons, die er nach der Hochzeit übernahm. Ferner arbeitete er zeitweise in Berlin für die Ufa. Universum Film war die größte deutsche Filmproduktion. Zu ihren Stars zählten Zarah Leander, Marlene Dietrich und Marika Rökk.

Ich selbst wusste sehr früh, was einmal aus mir werden sollte: so etwas Ähnliches wie meine Namenspatin. Von der rosigen Zukunft, die die Astrologin meiner Mutter für mich prophezeite, merkte ich mir als Vierjährige nur eins: »Sie wird dreimal heiraten.«

Meine Mutter war hoch zufrieden mit den erlangten Auskünften. Vielleicht schöpfte sie auch Hoffnung daraus, immerhin war Krieg, Frankfurt zu fast siebzig Prozent zerstört. Auch das Haus meiner Eltern, in dem wir nach meiner Geburt lebten, wurde bei einem Bombenangriff in Schutt und Asche gelegt. Mein Großvater väterlicherseits kam dabei ums Leben.

Leider erinnere ich mich nicht an unsere erste Wohnung in der Hochstraße, wo heute das Hilton Hotel steht, sondern nur an den Taunus. In Königstein hatte meine kluge Mutter zu Beginn des Krieges ein kleines Häuschen gekauft, um mich weg aus dem gefährlichen Frankfurt in Sicherheit zu bringen.

»Wir flüchten vor dem Idioten«, sagte sie zu anderen Erwachsenen. Ich wusste zwar nicht, wer der Idiot war, wollte aber schleunigst in den Taunus. Dort legte mich meine Mutter gelegentlich in eine Hängematte im Garten. Sobald die brummenden Flugzeuge – ob Feind oder Freund – unser Haus überflogen hatten, rief ich: »Tilius, tomm raus, Flieger weg.«

Da mein Vater seine schwer kranke Mutter nicht im Stich lassen konnte, blieb er in Frankfurt, und wir besuchten ihn oft. Im Grunde genommen war das schon eine Vorbereitung auf später, wenn meine Mutter mich zu Auftritten und Trainings brachte. Papa hielt zu Hause die Stellung, Mutter und Tochter waren unterwegs … mit Hansi. Man erzählte mir, dass meine Mutter nie ohne ihren Kanarienvogel in den Taunus reiste. Leider erinnere ich mich nicht daran, obwohl ich es eigentlich wissen müsste: Sie stellte den Käfig mit Hansi auf meinen Kinderwagen.

Mein Vater Hans hatte das Sagen im Haus. Meine Mutter bestimmte, was draußen passierte. Die Grauzone war groß, und im Zweifelsfall entschied meine Mutter, was nach drinnen und was nach draußen gehörte. Ich glaube, die Ehe meiner Eltern verlief harmonisch, doch viel habe ich davon nicht mitbekommen, denn ich war ständig beschäftigt. Und meine Eltern waren mit ihren Geschäften beschäftigt, den Friseurläden und der Hutmacherei. Seinerzeit war das Entwerfen und Herstellen von Hüten kein Nischenberuf. Ohne Hut war man quasi nackt. Zu jeder Garderobe gehörte ein Hut – zum Mantel, zum Kleid, zum Kostüm. Schon als junges Mädchen habe ich Hüte getragen, und ich finde es schade, dass sie aus der Mode gekommen sind. Meine Mutter kreierte wunderschöne Kopfbedeckungen, und ich half gern in ihrer Werkstatt mit. Fürs Handarbeiten und Basteln hatte ich schon immer eine Schwäche. Mit meinem ersten Paarlaufpartner Franz Ningel harmonierte ich nicht nur auf Roll- und Schlittschuhen: Gemeinsam bestickten wir auch riesengroße Decken. Franz, später mehrfacher Weltmeister und Vizeweltmeister im Rollschuh- und Eislaufen, konnte sogar stricken.

In der Werkstatt meiner Mutter mochte ich das Hüteziehen über dem heißen Dampf am liebsten. Zuerst war so ein Filzhut bloß ein Stumpen. Da mussten viele Hände kräftig ziehen, wenn die Krempe breit werden sollte, und es erforderte einiges Geschick, sie nicht abzureißen oder ein Loch in das Material zu zerren.

Meine Mutter wollte nur ein einziges Kind, eine Marika; das Mädchen, das all ihre Träume erfüllen sollte. Auf die Umsetzung dieses Plans konzentrierte sie sich mit voller Kraft und Aufmerksamkeit. Da wäre gar keine Zeit gewesen für ein zweites Kind. Neben Ballett und Rollschuhtraining brachte meine Mutter mich während eines dreiwöchigen Aufenthalts in Garmisch-Partenkirchen auch zu einem Skitrainer.

»Hoch begabt«, stellte der Mann fest und wollte mich gern in seinen Kader aufnehmen, denn »die hat keine Angst«.

Auch bei einem Eislauftrainer wurde meine Mutter mit mir vorstellig. Eine Eisbahn hatten wir zu Hause nicht. »Hoch begabt«, hörte sie erneut und wunderte sich nicht, denn Rollschuhlaufen und Eislaufen sind verwandt. Auf Rollschuhen war ich mit meinen vier Jahren in Frankfurt schon ein kleiner Star.

Neben dem Stadion in Garmisch-Partenkirchen befand sich die Casa Carioca, ein exklusiver Nachtclub, der damals mit dem Lido in Paris verglichen wurde. Alle Berühmtheiten, die seinerzeit in Garmisch weilten, angefangen bei Errol Flynn und Liz Taylor, speisten in der Casa. Gezahlt wurde mit Dollars. 1946 von den amerikanischen Besatzungssoldaten eröffnet, brannte das Lokal 1970 bis auf die Grundmauern nieder.

In der Casa Carioca gab es die einzige ganzjährig befahrbare Eisfläche Europas. Nach der täglich außer Montag stattfindenden Eisrevue wurde eine zweiundsiebzig Tonnen schwere Tanzfläche über das Eis gefahren, und die Tanzbegeisterten konnten loslegen.

Die meisten Amerikaner waren sehr kinderlieb und fanden mich wohl ziemlich drollig, obwohl ich bereits eine gute Figur auf dem Eis machte, nach all dem harten Training auf der Rollschuhbahn. Als in der Casa Carioca ein Film gedreht wurde, bekam ich mein erstes Rollenangebot, beziehungsweise meine Mutter bekam es für mich. Ich begriff nicht, was da vor sich ging, fand allerdings die glänzende Glatze des Hauptdarstellers faszinierend. Ich konnte gar nicht wegschauen.

»Starr den Mann nicht so an«, ermahnte meine Mutter mich, die natürlich wusste, wer das war: Hubert von Meyerinck, der berühmte Schauspieler.

»Wir haben Ihre Tochter beobachtet«, ließ der Regisseur meine Mutter wissen, »sie sieht ganz entzückend aus auf dem Eis. Wir planen eine Szene mit einem Clown, und wir hätten gern, dass Ihre Tochter ihm aus den Hosenbeinen rutscht.«

Zuerst war meine Mutter begeistert. Doch dann riet ihr der Eislauftrainer ab. »Wenn Ihre Tochter ein einziges Mal als Profi auftritt, wird sie niemals an einer Meisterschaft teilnehmen können. Als Sportlerin muss sie bei den Amateuren bleiben. Und, Frau Kilius, Ihre Tochter ist ein Riesentalent. Verbauen Sie Ihr diese Karriere nicht.«

Film oder Sport?

Seltsamerweise entschied sich meine Mutter für den Sport. Sie muss gefühlt haben, dass dies besser für mich wäre. Und das habe ich auch gefühlt in den nächsten Jahren, die angefüllt waren mit hartem und sehr hartem Training.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich meiner Mutter im Rückblick böse wäre, weil sie mir meine Kindheit und Jugend raubte.

»Aber wieso sollte ich ihr böse sein?«, frage ich dann nach. »Ich habe mir meine Mutter doch ausgesucht!«

Wer, wie ich, an die Reinkarnation glaubt, weiß, dass man sich seine Eltern aussucht, um gewisse Aufgaben im Leben oder im Karma zu bearbeiten. Als Kind wusste ich das natürlich nicht. Doch im Laufe des Lebens habe ich Erfahrungen gesammelt, die mich sicher sein lassen, dass der Mensch mehr ist, als er zu sein scheint und glaubt.

Im Spagat

Zu Hause hatte mein Vater die Hosen an, draußen meine Mutter. Ich richtete mich danach. Im Haus folgte ich Papa, draußen Mama. Da mein Training sich draußen abspielte, unterstand ich in diesen Zeiten meiner Mutter. Wann immer sie konnte, begleitete sie mich. Oft brachte sie mich aber auch nur – zu Frau Zeiler zum Ballettunterricht, in die Kautschukschule, zur Rollschuhbahn – und holte mich dann wieder ab.

Papa wusste nichts von diesen Aktivitäten. Sie fielen ja in den Draußen-Bereich. Ich hätte ihm gern erzählt, dass ich Rollschuh lief, obwohl ich lieber daheim geblieben wäre. Ich hätte es ihm gern verraten, damit er es verbieten würde, aber es gehörte ja nach draußen und unterstand meiner Mutter. Ich hätte meinem Vater auch gern erzählt, dass ich das Ballett nicht mochte, vor allem Frau Zeiler nicht, den »alten Drachen«, wie wir Mädchen die ehemalige Tänzerin an der Oper in Frankfurt nannten. Meine Mutter hatte sie für mich organisiert, irgendwie.

Meine Mutter trieb ständig Leute auf, die mich weiterbrachten. Manchmal sogar ohne Lohn. Meine Ausbildung war teuer und wurde nicht immer mit Geld bezahlt. Frau Zeiler hatte keinen Ofen in ihrer zugigen Wohnung, und es war bitterkalt in den ersten Wintern nach Kriegsende. Im Wohnzimmer meiner Eltern im Westend stand ein großer grüner Kachelofen. Frau Zeiler war dankbar, wenn sie sich ein bisschen aufwärmen durfte, während sie mir Unterricht erteilte, heimlich. Papa war beim Arbeiten.

Die Bereitwilligkeit anderer lag nicht nur daran, dass meine Mutter für ihre begabte Tochter bat. Sie konnte auch lachen wie niemand sonst. Da musste man einfach herzlich mitlachen.

Meine ersten eigenen Rollschuhe, winzig kleine Dinger, bekam ich mit drei Jahren. Da war ich im Ballett schon fast ein alter Hase. Die Rollschuhbahn in Frankfurt ist am Main gelegen, es gab sie bereits vor dem Krieg. Auch meine Mutter war als junge Frau Rollschuh gelaufen, allerdings bar jeden Talents, wie ich von meinem Vater wusste. »Das war so ein schrecklicher Anblick, die Leni auf Rollschuhen, das will ich nie wieder mit ansehen müssen«, vertraute er mir an.

»Wieso?«, fragte ich, selbst schon ziemlich anmutig in meinen Pirouetten, von denen ich nichts verraten durfte.

»Die hat sich immer nur an der Bande festgehalten. Deshalb sollst du nicht Rollschuh laufen. Das ist nichts für dich. Such dir lieber was anderes aus.«

Ratlos schaute ich meine Mutter an.

»Ja, ja«, sagte sie und gab meiner Tante kurz darauf heimlich eine goldene Uhr, die sie gegen ein kleineres Paar Rollschuhe für mich eintauschen sollte. Zu allem Unglück verlor Tante Liesl die Uhr in ihrem Bemühen, sie sicher zu verwahren. Die Rollschuhe bekam ich trotzdem. Irgendwie organisierte Tante Liesl das. Wie damals alles irgendwie organisiert wurde.

Vielleicht wusste mein Vater, was meine Mutter mit mir vorhatte und wollte es verhindern. Vielleicht hatte er auch nur Angst, die Gene meiner Mutter würden durchschlagen, denn sie war eine miserable Tänzerin, und das schmerzte meinen Vater, der sich mit meiner Mutter im Arm beim Tanzen fühlte, als würde er »einen Baumstamm vor sich herschieben«. Oder wollte er mir die Tortur ersparen? Ich hätte sie mir auch gern erspart, doch ich wurde nicht gefragt. Ich kannte auch keine Alternative. Ich machte, was von mir erwartet wurde – und manchmal ein paar Zentimeter mehr. Frau Zeiler trainierte uns kleine Mädchen nicht nur mit dem Rohrstock, sondern setzte ihren ganzen Körper ein. An diesem Frühlingsnachmittag fand der Unterricht nicht bei uns zu Hause statt, sondern in einer weitläufigen Wohnung mit Parkettböden. Da konnte man schön tanzen. Doch heute sollte ich nicht tanzen. Heute sollte ich den Spagat lernen. Deshalb gab mich meine Mutter bei Frau Zeiler ab.

»Wenn Sie wiederkommen, Frau Kilius«, sicherte Frau Zeiler meiner Mutter zu, »kann sie ihn.«

»Gut«, nickte meine Mutter.

Nach dem Aufwärmen wies Frau Zeiler mich an, mich so gegrätscht wie nur möglich auf den Boden zu setzen. Bis zum vollendeten Spagat fehlten noch einige Zentimeter. Hilfsbereit zog Frau Zeiler ihre Schuhe aus und stieg, an meinen Füßen beginnend, langsam höher, über die Waden, die Knie, bis sie schließlich mit ihrem ganzen Gewicht auf meinen Oberschenkeln stand. Tränen liefen mir übers Gesicht. Frau Zeiler ließ nicht nach. Gütig bis zum Grund zeigte sie mir den Spagat. Ich habe ihn nie wieder vergessen.

Vielleicht war meine Mutter stolz, dass ich ihn nun konnte. Ich selbst war nicht stolz. Ich war viel zu klein, zu verstehen, worum es ging, warum ich das tun sollte; ich machte, was von mir verlangt wurde. Ob bei Frau Zeiler oder auf der Rollschuhbahn. Es war normal für mich, dass meine Mutter mich irgendwo abgab und dann wieder holte. Und ich in der Zwischenzeit wieder ein Stück mehr in die großen Fußstapfen meiner Namenspatronin hineinwuchs. Stolz legte meine Mutter ein Album an und klebte Zeitungsartikel und Fotos aus der Frankfurter Rundschau, Neuen Presse und einigen anderen Zeitungen ein. Eine ganze Seite in diesem Album nimmt das Titelbild der Weekend ein, wo ich als fünfjähriges »Skating Starlet« einem GI das Rollschuhfahren beibringe.

»Die fünfbejahrte Marika Kilius, die in ihrem reizenden Kostümchen wie eine Käthe-Kruse-Puppe aussah, zeigte Sicherheit und Charme.«

Das Geheimnis

Am Tag der großen Offenbarung, ich konnte bereits eine Kür auf Rollschuhen laufen, lockte meine Mutter meinen Vater mit einem Ausflug an den Main. Mein Vater besaß ein BMW-Motorrad mit Seitenwagen. Wie immer nahmen meine Mutter und ich im Seitenwagen Platz. Meine Rollschuhe waren so klein, dass sie unauffällig in Mutters Tasche passten.

Als wir am Main parkten, wusste mein Vater es schon, wie ich an seinem Gesicht erkannte, doch er sagte nichts. Um zur Rollschuhbahn zu gelangen, mussten wir ein paar Treppen hochlaufen, dann die Brücke über das Zuggleis passieren. Von hier oben konnte man die Bahn bereits sehen – und die zwei fünf Meter hohen Kübelpalmen auf der anderen Seite des Flusses. Vor dem Krieg waren es einmal sechzig Stück gewesen. Manchmal schaute ich sie beim Training an, je höher ich sprang, desto näher kam ich ihren Kronen. Aber eigentlich hatte ich keinen Blick für die Aussicht: vorne der Main, ruhig und dunkel beständig fließend, links die Silhouette des Domes und rechts die Wilhelmsbrücke.

»Ich bleib mal hier«, sagte Papa.

»Wie du meinst«, sagte meine Mutter und nahm meine Hand. Auf der Rollschuhbahn zog ich meine Schuhe an und lief dann los wie jeden Tag. Vorwärts und rückwärts, und im Drehen und Springen und Posieren vergaß ich meinen Vater. Der plötzlich an der Bande stand. Strahlend. Lachend. Und bestimmt sehr stolz. Doch alles, was er sagte, war: »Gott sei Dank kommst du nicht nach deiner Mutter.«

Meine Mutter strahlte genauso wie er und nutzte die Gunst der Stunde. »Dass sie so eine gute Tänzerin ist, das hat sie natürlich von dir«, schmeichelte sie ihm.

Mein Vater nickte.

»Und das Graziöse, das kommt durch die Übung im Ballett.«

»Ballett?«, wiederholte mein Vater in einem Tonfall, als würde sich eine seiner Dauerwellen-Stammkundinnen eine Glatze rasieren lassen wollen.

»Seit etwa einem Jahr nimmt Marika Unterricht«, fügte meine Mutter beiläufig hinzu.

Das musste mein Vater erst mal verdauen. Schließlich fragte er: »Du hast mich doch nicht etwa hintergangen, Leni?«

»Jetzt weißt du es ja«, stellte meine Mutter ihn vor vollendete Tatsachen.

Kurz darauf war mein Vater zweiter Vorsitzender des Rollschuhvereins. Anders wäre ich nicht weitergekommen. Ich brauchte die Unterstützung meiner beiden Eltern. Nicht nur seelisch, auch finanziell.

Ich bezweifle, dass meine lieben Eltern wussten, worauf sie sich einließen. Zu Beginn, auf der Rollschuhbahn in Frankfurt, waren die Kosten noch überschaubar. Je größere Sprünge meine Karriere machte, desto teurer wurde sie. Da verlangte die Ausbildung der talentierten Tochter mehr als nur hin und wieder ein Paar neue Rollschuhe und mal zwanzig Minuten Unterricht bei Bernd Häusel auf der Bahn. Da mussten wir reisen, zum Beispiel nach Garmisch, dort übernachten, essen – und teure Trainer bezahlen. Wenn meine Mutter mit mir unterwegs war, konnte sie nicht arbeiten. Zwar hielten ihre Angestellten die Hutmacherei am Laufen, doch natürlich kauften die Kundinnen mehr, wenn die Chefin anwesend war. Die Chefin war aber damit beschäftigt, die Füße der kleinen Marika in die Fußstapfen des großen Vorbilds zu formen.

Auch Stars bestätigten mein Talent, wie Ria Baran, die deutsche Meisterin auf Rollen und Kufen. Meine Mutter hat einen Zeitungsartikel aufbewahrt, in dem die große Ria mit der kleinen Marika über die Bahn rollt: »Es machte ihr Freude, mit der begabten Frankfurterin Marika Kilius zu trainieren. Ob die Kleine der Großen Nachfolgerin werden wird?«, formulierte ein Journalist die leuchtende Hoffnung meiner Mutter.

Heute rührt es mich, wie meine Mutter meine ersten Erfolge dokumentierte. Tatkräftig unterstützt wurde sie von den Hausmeistersöhnen und vom ersten Vorsitzenden der Rollschuhbahn, der eine besonders schöne Handschrift hatte und später auch meine Autogrammpost beantwortete. René Welker und Fritz Frischmann mussten immer fleißiger werden – die Unterschriften leistete ich selbst. Ich konnte noch gar nicht richtig schreiben, da gab ich schon Autogramme. Später hörte die Artikelsammelei auf. Es wäre auch gar nicht mehr zu bewältigen gewesen; es gab fast keinen Tag, an dem nicht irgendetwas über Kilius-Bäumler in der Zeitung zu lesen oder im Radio zu hören gewesen wäre.

Als es für meine Mutter deutlich war, dass ihre Tochter die erwünschte Karriere aufs Eis und die Bretter legen würde, gab sie ihr Geschäft auf und konzentrierte sich ganz auf mich. Was ich nicht so toll fand. Von mir aus hätte sie ihre Hutmacherei ruhig behalten und sich ein bisschen mehr um ihr Geschäft kümmern können als allein um mich. Doch die Würfel waren gefallen, auch für meinen Vater. Sein Job war es in Zukunft, das Geld heranzuschaffen, das Mutter und Tochter ausgaben.

Meine Mutter fragte mich nie, ob ich gern trainierte. Und wenn ich es einmal wagte, meine Unlust zu äußern, half mir das nichts. Ich musste die Schuhe schnüren und raus auf die Bahn, raus aufs Eis.

Auch mein Vater fragte nicht. Vielleicht setzte er einfach voraus, dass ich gern Rollschuh lief, sonst hätte ich doch was gesagt. Ich ging auch nicht gern ins Ballett. Und auch nicht in die Kautschukschule. Ich machte es, weil ich klein war und es nicht anders kannte. Es war genauso normal, wie abends aufzutreten. Wenn die Erwachsenen lachten und klatschten und pfiffen und meine Eltern sich freuten, freute ich mich auch. Das war die schöne Seite, die mich motivierte weiterzumachen. Man kann ein Kind nicht zwingen. Trotz aller Qual muss es auch selber wollen. Ich wollte! Vielleicht nicht so viel und ständig. Aber prinzipiell wollte ich schon. Und außerdem wollte ich gern immer besser werden. Ich ließ mich auch gern schön anziehen, und mir gefielen die tollen Kostüme, die ich tragen durfte. Noch lieber mochte ich es, wenn ich beim Nähen und Dekorieren helfen durfte. Auf das Handarbeiten begleitende Training hätte ich gern verzichtet.

Anschaffen

Viele Amerikaner waren nach dem Krieg in Frankfurt stationiert, ein begeistertes Publikum für mich. Manchmal tagsüber, meistens abends im I.G.-Farben-Haus führte ich meine Kür mit Musik bei Veranstaltungen und Festen vor. Als kleines süßes Mädchen hätte ich wahrscheinlich bloß herumzustolpern brauchen; die Amerikaner waren freundlich und großzügig. Ich gab immer mein Bestes, niemals halbe Kraft, stets in die Vollen. Danach gaben die Amerikaner. Meine Mutter reichte mir das Körbchen, ich fuhr die Reihen ab und erntete: Kaffee, Hershey-Schokolade, Butterfinger, Babyroute und das Wichtigste: Zigaretten. Viele warfen ihre Gaben auch einfach auf die Bahn. Über die Zigaretten freute sich besonders mein Vater. Solche Aktionen wurden früher anschaffen genannt: »Marika geht heute Abend bei den Amerikanern anschaffen.«

Es machte mir Spaß, für meine Eltern Waren zu beschaffen. Es kam mir nicht in den Sinn, dass mein Leben nicht kindgerecht verlief. So war es eben. Ich hatte kaum Spielkameraden, nur Sportkameraden, und deren Leben sah so ähnlich aus wie meines, wenn auch nicht so durchgeplant. Spielplätze gab es seinerzeit kaum, überall Ruinen, Trümmer, Dreck. Auch auf unserer Rollschuhbahn aus Terrazzo, fünfzig Meter lang, zweiundzwanzig Meter breit, sammelte sich Schmutz. Die Schiffe, die über den Main fuhren, tuteten laut, wenn sie die Rollschuhbahn passierten, und pusteten dicke schwarze Wolken in die Luft. Der Ruß legte sich auf den Terrazzo. Wenn wir hinfielen, färbten sich unsere Knie und Ellenbogen schwarz. Mein Vater säuberte meine Verletzungen mit Jod, das brannte wie der Teufel, und klebte ein Pflaster darauf. Irgendwann begannen die Wunden zu eitern. Ich fiel wieder hin und zog mir mit dem Pflaster eine Eiterschicht ab. Und alles begann von vorn, nie war meine Hauttapete makellos. Stürze auf der Rollschuhbahn sind viel schmerzhafter als auf dem Eis, weil man dort nicht rutscht. So etwas wie Schoner gab es damals noch nicht. Es gab nur ein Gegenmittel: nicht hinfallen!

Da ich täglich beim Training war, hörte ich ständig Musik. Nie war es ruhig. Die Lautsprecher auf der Rollschuhbahn hatten den Krieg mit Ach und Krach überstanden, und genauso klangen sie. Es kratzte und krächzte. Ich fand das schrecklich, und wann immer es mir möglich war, suchte ich einen Ort der Stille auf: »meine« Kirche in der Hansaallee, fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt. Am liebsten war ich dort ganz allein, setzte mich auf eine der harten Holzbänke und hörte der Stille zu. Schaute den Jesus am Kreuz an, die Bilder und spürte die Kühle auf der Haut. Hier gefiel es mir. Die Atmosphäre beruhigte mich. Was meine Mutter überhaupt nicht verstand.

»Warum läufst du immer in diese Kirche?«, fragte sie mich. »Wir sind nicht katholisch! Wir sind evangelisch reformiert.«

Ich konnte nicht erklären, was mich an diesen Ort zog. Genauso wenig konnte oder wollte mir meine Mutter ausführlich erklären, was es mit Jesus und den Geschichten in der Bibel auf sich hatte. Die interessierten mich brennend. Doch wenn ich fragte, sagte sie: »Für so was haben wir jetzt keine Zeit. Wir müssen zum Training.«

Später hätte ich gern mehr Zeit mit meinen Schulbüchern verbracht, doch meine Mutter drängte mich zum Training. Ich besuchte ein humanistisches Gymnasium und wollte Ärztin werden, wenn es mit den Plänen meiner Mutter nicht klappen würde. Die Ärztin behielt ich für mich. Aber es war mir klar, dass ich gut in der Schule sein musste, um dieses Ziel zu erreichen.

»Kind, mach die Bücher zu!«, befahl meine Mutter.

Manchmal lernte ich abends noch ein wenig, bis mir die Augen zufielen.

Ich war erst nach meinem siebten Lebensjahr eingeschult worden. Meine Mutter hatte die Schulzeit hinausgezögert, damit ich länger intensivst trainieren konnte. Zur Schule ging ich allein. Der Weg führte an einem der wenigen Spielplätze in Frankfurt vorbei. In den ersten Tagen schaute ich nur. Ließ meine Blicke über die Schaukel, die Rutsche, die rostigen Klettergerüste gleiten. So etwas kannte ich fast nur vom Sehen. Schließlich traute ich mich. Und beruhigte mein schlechtes Gewissen: Ich hab nie Zeit zum Spielen.

Morgens auf dem Spielplatz, mutterseelenallein und glücklich, holte ich Kindsein nach. Schaukelte und rutschte nach Herzenslust. Und kam zu spät zur Schule. Mal fünfzehn Minuten, mal dreißig, mal fast eine Stunde. Dann öffnete ich die Tür zu meinem Klassenzimmer, grüßte artig: »guten Morgen«.

Herr Wehner, mein Lehrer in der ersten Klasse, nickte mir zu, ich setzte mich auf meinen Platz, warf einen Blick auf die Bücher meiner Nachbarn, schlug mein eigenes Buch auf und konzentrierte mich auf den Lehrstoff.

Es dauerte einige Monate, bis Herr Wehner meine Mutter in einer Sprechstunde bat: »Schicken Sie die Marika doch ein bisschen früher los, damit sie nicht immer zu spät kommt.«

»Aber sie verlässt das Haus pünktlich!«, rief meine Mutter.

»Warum kommt sie dann jeden Tag zu spät, manchmal eine ganze Stunde?«

»Das kann nicht sein!«

»Ich verstehe es ja, wenn Ihre Tochter müde ist«, meinte Herr Wehner gutmütig. »Sie leistet enorm viel mit ihren Auftritten am Abend.«

»Sie verlässt das Haus rechtzeitig«, beharrte meine Mutter und verfolgte mich am nächsten Morgen, beobachtete, wie ich den Schulranzen auf die Bank legte und schaukelte und rutschte und in den Himmel schaute. Dies war das Ende meines Kinderglücks am Spielplatz.

Nach der Schule musste ich Hausaufgaben machen, zwei Stunden schlafen und dann ging es auf die Rollschuhbahn bis um 22 Uhr und zu Auftritten. Oft wurde es Mitternacht, bis ich müde ins Bett fiel, und um acht am nächsten Morgen musste ich in der Schule sein. Leider war die herrliche Zeit der Winterpause vorbei, als meine Mutter in Bad Nauheim, 45 Kilometer entfernt von Frankfurt, eine Eisbahn ausfindig machte.

Obwohl Roll- und Schlittschuh einander auf den ersten Blick ähneln, gibt es doch entscheidende Unterschiede. Beim Rollschuh ist die Auflage durch die vier Rollen viel breiter, und er ist schwieriger zu »fuß«haben als der Schlittschuh, bei dem es auf die Balance ankommt. Das sieht man den Tänzern auch an. Rollschuhläufer wirken immer ein bisschen klobig. Wer das Schlittschuhlaufen beherrscht, zeigt auch beim Rollschuhlaufen Anmut. Der Umstieg fiel mir nicht schwer. Ich habe diese Sportart sehr schnell gelernt. Mir kommt es so vor, als hätte ich dabei zurückgegriffen auf alte Zeiten. Ganz im Sinne Einsteins, der einmal sinngemäß sagte: Glauben denn die Menschen, dass ich das alles aus diesem Leben weiß? Ich greife auf einen Wissensschatz aus früheren Leben zurück.