Das Höhlengleichnis ist das berühmteste Gleichnis der antiken Philosophie und der Erkenntnistheorie. Platon schildert einige gefangene Menschen, die in einer Höhle einzig die durch ein Feuer aufgeworfenen Schatten der wirklichen Gegenstände sehen können. Da sie nur diese Schatten wahrnehmen, halten sie sie für die reale Welt.

Platons zentrale Grundgedanken treten in den von ihm erzählten Mythen und Gleichnissen hervor, sie erscheinen in verwandten, aber abgewandelten Bildern: die Wiedergeburt der Seele, das Leben im Jenseits, die Geburt des Eros, die Erfindung der Schrift, das Goldene Zeitalter und das Höhlengleichnis als Abbilder der menschlichen Kenntnis.

PLATON

DAS HÖHLENGLEICHNIS

Sämtliche Mythen und Gleichnisse

Ausgewählt und eingeleitet von Bernhard Kytzler

Insel Verlag

Umschlagabbildung: Bildnis Guillaume Apollinaire, 1914,

Centre Georges Pompidou, Paris.

© VG Bild-Kunst, Bonn 2009

Der Herausgeber dankt der University of KwaZulu/Natal, Durban, RSA,

für die bei der Ausarbeitung erfahrene Unterstützung.

eBook Insel Verlag Berlin 2012

© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1997

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des Bandes

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-458-73185-6

www.insel-verlag.de

Inhalt

Vorbemerkung

Mythen

Vom Ursprung der Tiere und Menschen · Protagoras

Zamolxis · Charmides

Das Leben im Jenseits · Apologie

Die Inseln der Seligen und der Tartaros · Gorgias

Das Faß und das Sieb · Gorgias

Die Wiedergeburt der Seele · Menon

Das Leben im Jenseits · Phaidon

Bericht aus dem Jenseits · Der Staat

Die Erdgeborenen · Der Staat

Gyges und sein Ring · Der Staat

Der Seelenwagen · Phaidros

Die Zikaden · Phaidros

Von der Erfindung der Schrift · Phaidros

Der kugelrunde Urmensch · Symposion

Die Geburt des Eros · Symposion

Das Goldene Zeitalter · Der Staatsmann

Atlantis · Timaios

Der Demiurg · Timaios

Das Zeitalter des Kronos · Gesetze

Gleichnisse

Das Höhlengleichnis · Der Staat

Das Schiffergleichnis · Der Staat

Das Ungeheuer, der Löwe und der Mensch · Der Staat

Der Vogelkäfig · Theaitetos

Die Marionette · Gesetze

Der Magnetstein und die Muse · Ion

Nachwort

Nachweise

Vorbemerkung

Im folgenden werden die Mythen und Gleichnisse in Platons Werk zum ersten Mal gesammelt in deutscher Übertragung vorgelegt. Die Zeugnisse seiner bildlichen Rede sind, wie leicht zu sehen, schon quantitativ beeindruckend genug. Mehr noch ist es ihr Inhalt: eine Art Quintessenz seines Denkens zeichnet sich ab, ein Summarium seines Fragens und Antwortens. Die dem Philosophen wichtigen Probleme treten wiederholt hervor, die Grundgedanken erscheinen mehrfach in verwandten, aber abgewandelten Bildern. Der poetische Glanz der Rede, die gedankliche Kraft und Tiefe der Vorstellungen machen diese Texte zu einem zentralen Zugang zu der Welt des Fürsten der Philosophie, wie kaum ein anderer Weg sonst ihn bieten kann.

So ist diese Sammlung mehr als nur eine bunte Bildergalerie; sie will hinführen zu dem Gedankenreichtum Platons, indem sie mit der einen, der mythischen Seite seines Vortrags vertraut macht und so den Kontakt mit der anderen, dem Bereich des Logos, vorbereitet und erleichtert. Das Miteinander und Ineinander dieser beiden Ebenen im Werk des Atheners, ihr Wirken aufeinander ist ein fesselndes Schauspiel; ein erster Ansatz zu seiner Betrachtung und Beobachtung bietet sich hier in diesem Buch an. Alle Teile enthalten das Ganze; dieses teilt sich mit in unterschiedlicher Gestalt, doch ohne grundsätzlichen Gegensatz, und die einzelnen Elemente verstärken und erhellen sich gegenseitig. Der Poet Platon hat hier seine größte Wirkung, der Philosoph seine persönlichste Kommunikation. In diesen Bildersaal einzutreten, ihn zu besuchen, zu besichtigen und zu bedenken bedeutet Bereicherung eigener Art und Beglückung hohen Ranges.

Mythen

Vom Ursprung der Tiere und Menschen

Protagoras 320 C-323 A

Fast in Form einer Fabel führt der Philosoph Platon seinen frühesten mythologischen Vortrag vor. Die Erzählung rührt an eine gerade heute aktuelle Thematik: Es geht um Arterhaltung und Umweltanpassung. Bemerkenswert ist zunächst, daß sie nicht von Sokrates selbst berichtet wird, sondern von einem seiner geistig bedeutendsten Zeitgenossen: Protagoras.

Dieser, aus Abdera stammend, gilt als erster, vielleicht auch als wichtigster der Sophisten. Er führte ihre Lebensformen vor und damit auch ein. Er erteilte Unterricht gegen gutes Honorar, um areté zu lehren, »Tugend« oder besser »Tüchtigkeit« bzw. »Effizienz«. Er unternahm Vortragsreisen, und er lehrte als Gast bei begüterten bildungsbegeisterten Familien. Zahlreiche Jahre verbrachte er in Athen; daß er dort wegen seiner skeptischen Götterlehre verbrannt worden sei, ist späte Legende. Er war im Gegenteil mit Perikles befreundet und übte beachtlichen Einfluß aus auf Denker wie Demokrit, Antisthenes, Euripides und auch Platon, der seinen bedeutendsten Frühdialog nach ihm benannte und des Sophisten Figur in den Mittelpunkt des Szenarios stellte. Protagoras (ca. 485-415 v. Chr.) war freilich nicht mehr unter den Lebenden, als Platon ihn zur Titelfigur stilisierte; doch war, ähnlich wie im Falle des Gorgias (s. u. S. 27 ff.), sein Einfluß nach einiger Zeit noch immer stark, sein Name klangvoll genug, um ins Zentrum einer Auseinandersetzung gestellt werden zu können.

In der Philosophiegeschichte ist Protagoras vor allem durch zwei bedeutende Sätze bekannt. Der eine findet sich im ersten griechischen Werk ›Über die Götter‹, das er mit der Aussage begann: »Über die Götter vermag ich nichts zu erkennen, weder daß sie sind noch daß sie nicht sind, noch welcher Gestalt sie sind; denn vieles verhindert das Erkennen: ihre Nichtwahrnehmlichkeit und auch die Kürze des menschlichen Lebens.« Noch berühmter ist der sogenannte homo-mensura-Satz, den Protagoras an den Anfang seiner Schrift ›Die Wahrheit‹ stellte: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, für die seienden, daß (wie) sie sind, für die nichtseienden, daß (wie) sie nicht sind.«

Platon placiert seinen Dialog ›Protagoras‹ kurz vor den Beginn des Peloponnesischen Krieges. Sokrates zählt 432 v. Chr. 36 Jahre, Alkibiades 19; Platons Leben beginnt erst 5 Jahre später. Die Eingangsszene führt die Aufregung vor Augen, die aufgrund der Ankunft des Stargastes in Athen eingesetzt hat. Im privaten Gespräch eines Elite-Zirkels, den neben Protagoras Namen wie Sokrates und Alkibiades, die führenden Sophisten Prodikos und Hippias, die Politiker Kallias und Kritias auszeichnen, werden die Positionen abgesteckt: In der Fragestellung des Sokrates wird es zweifelhaft, ob die These des Protagoras stichhaltig ist, daß die »Tugenden« – Weisheit, Maß, Gerechtigkeit, Reinheit, Mut – lehrbar sind. Platon läßt nun Protagoras mit einem Mythos für die Haltbarkeit seiner Auffassung eintreten. Der Sophist stellt zur Disposition, ob er einen logos, eine logisch lehrhafte Darlegung, einen Lehrvortrag, vorlegen solle oder aber einen mythos, also eine Art Fabel. Protagoras entscheidet sich für die indirekte Erörterung in Fabelform, und Platon mag damit auch eine leise Karikatur des großen Mannes verknüpfen, der in seiner etwas simplistischen Aufbereitung eines komplizierten Fragenkomplexes eher einen breiteren Schülerkreis zu fesseln als einen Sokrates oder Platon zu beeindrucken vermag. Es sei noch vorweggenommen, daß das Ende des Dialoges dazu führt, daß Protagoras anerkennen muß, daß ›Tugend‹ im Wissen besteht; wie anders könnte sie lehrbar sein: wohingegen Sokrates seinerseits anerkennen muß, daß Tugend lehrbar ist.

Der Mythos selbst ordnet sich jenen Ursprungsmythen zu, wie sie schon zuvor bei Hesiod erscheinen und von Platon später mehrfach aufgegriffen und ausgeführt werden. Der Grundgedanke hier ist die physische Schwäche des Menschen im Vergleich zu den anderen Lebewesen und ihre Überwindung durch die Kulturfaktoren zweierlei Art: zum einen durch die vielfältigen Fertigkeiten der Handwerker zum Nutzen des Individuums; zum anderen durch die im Staat verwirklichte Gerechtigkeit als Organisationsprinzip zum Zwecke der Arterhaltung. Unterschiedlich sind demnach auch die beiden mythisch-übermenschlichen Gestalten der Stifter, das Brüderpaar Epimetheus (= »Nachbedacht«) und Prometheus (= »Vorbedacht«). Der erste vermag den anderen Arten viel zu helfen, um ihr Überleben zu sichern, aber er kann sein Werk nicht vollenden und den Menschen nicht sichern; der zweite führt die Schöpfung erfolgreich zu Ende, indem er statt der physiologischen Vorteile für den Menschen eine geistige Grundlage gewährt. Sie liegt für den einzelnen in den Fähigkeiten der Verarbeitung, also der technischen Intelligenz. Hinzu tritt zum anderen für die Erhaltung der Gattung die Gewährleistung der Gerechtigkeit im Rahmen staatlicher Ordnung, die allen die Rettung bietet. Während so die vordergründigen Fähigkeiten des physiologischen Überlebens Resultat des Feuer-Raubes bleiben, ist die große Gabe der Gerechtigkeit eine Gnade des Gottes.

Daß die Figur des Prometheus ein Ursymbol des Abendlandes ist, befragt, nachgestaltet, ausgelegt und stetig umgeformt, beweisen die zahlreichen – fast: zahllosen – Texte von Aischylos und Hesiod über Boccaccio und Bacon bis zu Goethe und Nietzsche, Brecht und Artaud, Kafka und Mandelstam; sie sind eben von Wolfgang Storch und Burghard Damerau vorzüglich versammelt und vor Augen gestellt worden (Mythos Prometheus, Leipzig 1995).

Der modern anmutende Bezug, daß Epimetheus natürlichen Schutz für die Gattungen ersann, »daß nicht eine Art ausgetilgt werde«, und daß er »Rettung für die Arten schuf«, darf nicht übersehen, aber auch nicht überzogen werden. Die These der Arterhaltung hat hier einen gewiß gewichtig grundierenden Klang, ist auch für die Spezies der Menschen relevant; doch steht das nicht im Zentrum der Fragestellung, sondern am Rande. Wichtigstes Resultat der Fabel bleibt, daß kulturelle Leistungen den Menschen zum Überleben befähigen, nämlich seine technische Intelligenz und seine Befähigung zum gerechten politischen Handeln.

Es war einst eine Zeit, wo es Götter zwar gab, sterbliche Geschlechter aber gab es noch nicht; nachdem aber auch für diese die vorherbestimmte Zeit ihrer Erzeugung gekommen war, bildeten die Götter sie innerhalb der Erde aus Erde und Feuer, auch das hinzumengend, was von Erde und Feuer gemengt ist. Und als sie sie nun ans Licht bringen sollten, übertrugen sie dem Prometheus und Epimetheus, sie auszustatten, und die Kräfte unter sie, wie es jedem zukomme, zu verteilen. Vom Prometheus aber erbat sich Epimetheus, er wolle verteilen, und, sagte er, wenn ich ausgeteilt, so komme du es zu besichtigen. Und so nachdem er ihn beredet, verteilte er. Bei der Verteilung nun verlieh er Einigen Stärke ohne Schnelligkeit, die Schwächeren aber begabte er mit Schnelligkeit; Einige bewaffnete er, Anderen, denen er eine wehrlose Natur gegeben, ersann er eine andere Kraft zur Rettung. Welche er nämlich in Kleinheit gehüllt hatte, denen verlieh er geflügelte Flucht oder unterirdische Behausung, welche aber zu bedeutender Größe ausgedehnt, die rettete er eben dadurch, und so auch verteilte er alles übrige ausgleichend. Dies aber ersann er so aus Vorsorge, daß nicht eine Gattung gänzlich verschwände. Als er ihnen nun des Wechselverderbens Entfliehungen zu Stande gebracht, begann er ihnen auch gegen die Zeiten vom Zeus leichte Gewöhnung zu ersinnen durch Bekleidung mit dichten Haaren und starken Fellen, hinreichend um die Kälte, aber auch vermögend die Hitze abzuhalten, und außerdem zugleich jedem, wenn es zur Ruhe ging, zur eigentümlichen und angewachsenen Lagerbedeckung dienend. Und unter den Füßen versah er einige mit Hufen und Klauen, andere mit Haaren und starken blutlosen Häuten. Hiernächst wies er dem einen diese, dem anderen jene Nahrung an, dem einen aus der Erde die Kräuter, dem anderen von den Bäumen die Früchte, einigen auch verordnete er zur Nahrung anderer Tiere Fraß. Und diesen letzteren verlieh er dürftige Zeugung, dagegen den von ihnen verzehrten eine vielerzeugende Kraft dem Geschlecht zur Erhaltung. Wie aber Epimetheus doch nicht ganz weise war, hatte er unvermerkt schon alle Kräfte aufgewendet [für die unvernünftigen Tiere;] übrig also war ihm noch unbegabt das Geschlecht der Menschen, und er war wieder ratlos was er diesem tun sollte. In dieser Ratlosigkeit nun kommt ihm Prometheus die Verteilung zu beschauen, und sieht die übrigen Tiere zwar in allen Stücken weislich bedacht, den Menschen aber nackt, unbeschuhet, unbedeckt, unbewaffnet, und schon war der bestimmte Tag vorhanden, an welchem auch der Mensch hervorgehn sollte aus der Erde an das Licht. Gleichermaßen also der Verlegenheit unterliegend, welcherlei Rettung er dem Menschen noch ausfände, stiehlt Prometheus die kunstreiche Weisheit des Hephaistos und der Athene, nebst dem Feuer, denn unmöglich war, daß sie einem ohne Feuer hätte können angehörig sein oder nützlich, und so schenkt er sie dem Menschen. Die zum Leben nötige Wissenschaft also erhielt der Mensch auf diese Weise, die bürgerliche aber hatte er nicht. Denn diese war beim Zeus, und dem Prometheus stand in die Feste, die Behausung des Zeus, einzugehen nicht mehr frei, auch waren furchtbar die Wachen des Zeus. Aber in das dem Hephaistos und der Athene gemeinschaftliche Gemach wo sie ihre Kunst übten geht er heimlich hinein, und nachdem er so die feurige Kunst des Hephaistos und die andere der Athene gestohlen, gibt er sie dem Menschen. Und von da an genießt nun der Mensch Behaglichkeit des Lebens; den Prometheus aber hat hernach, so wie erzählt wird, die Strafe für diesen Diebstahl um des Epimetheus willen ergriffen. Da nun aber der Mensch göttlicher Vorzüge teilhaftig geworden, hat er auch zuerst, wegen seiner Verwandtschaft mit Gott das einzige unter allen Tieren, Götter geglaubt, auch Altäre und Bildnisse der Götter aufzurichten versucht, dann bald darauf Töne und Worte mit Kunst zusammengeordnet, dann Wohnungen und Kleider und Beschuhungen und Lagerdekken und die Nahrungsmittel aus der Erde erfunden. So ausgerüstet wohnten die Menschen anfänglich zerstreut, Städte aber gab es nicht. Daher wurden sie von den wilden Tieren ausgerottet, weil sie in jeder Art schwächer waren, als diese, und die verarbeitende Kunst war ihnen zwar zur Ernährung hinreichende Hülfe, aber zum Kriege gegen die Tiere unwirksam; denn die bürgerliche Kunst hatten sie noch nicht, von welcher die kriegerische ein Teil ist. Sie versuchten also sich zu sammeln, und sich zu erretten durch Erbauung der Städte; wenn sie sich aber gesammelt hatten, so beleidigten sie einander, weil sie eben die bürgerliche Kunst nicht hatten, so daß sie wiederum sich zerstreuend auch bald wieder aufgerieben wurden. Zeus also für unser Geschlecht, daß es nicht etwa gar untergehn möchte, besorgt, schickt den Hermes ab, um den Menschen Scham und Recht zu bringen, damit diese der Städte Ordnungen und Bande würden, der Zuneigung Vermittler. Hermes nun fragt den Zeus, auf welche Art er doch den Menschen das Recht und die Scham geben solle. Soll ich, so wie die Künste verteilt sind, auch diese verteilen? Jene nämlich sind so verteilt: Einer, welcher die Heilkunst inne hat, ist genug für viele Unkundige, und so auch die andern Künstler. Soll ich nun auch Recht und Scham eben so unter den Menschen aufstellen, oder soll ich sie unter Alle verteilen? Unter Alle, sagte Zeus, und Alle sollen Teil daran haben; denn es könnten keine Staaten bestehen, wenn auch hieran nur Wenige Anteil hätten, wie an anderen Künsten. Und gib auch ein Gesetz von meinetwegen, daß man den, der Scham und Recht sich anzueignen unfähig ist, töte wie einen bösen Schaden des Staates. Auf diese Art also, Sokrates, und aus dieser Ursach glauben alle anderen und auch die Athener, daß wenn von der Tugend eines Baumeisters die Rede ist oder eines andern Künstlers, alsdann nur Wenigen Anteil zustehe an der Beratung; und wenn Jemand außer diesen Wenigen dennoch Rat geben will, so dulden sie es nicht, wie du sagst, und zwar ganz mit Recht, wie ich sage.Wenn sie aber zur Beratung über die bürgerliche Tugend gehen, wohin Alles auf Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt, so dulden sie mit Recht einen Jeden, weil es Jedem gebührt, an dieser Tugend doch Anteil zu haben, oder es könnte keine Staaten geben.

Zamolxis

Charmides 156 D-157 C

Von den vier griechischen Grund- oder Kardinaltugenden ist die im Dialog ›Charmides‹ diskutierte gewiß die für den modernen Blick am schwersten faßbare. Sind Werte wie »Tapferkeit« oder »Gerechtigkeit« uns leichter zugänglich, so ist sophrosyne heute schwierig zu übersetzen und nur mühsam einzuordnen. Die Wörterbücher schlagen Bezeichnungen vor wie Mäßigung, Selbstbeherrschung, Enthaltsamkeit, Sittsamkeit, aber auch umschreibende Doppelbegriffe wie vernünftige Besonnenheit oder rechter Sinn, gesunder Verstand. Das griechische Wort selbst verbindet den Stamm phronein, denken, mit der Vorsilbe soos, wohlbehalten, gesund, heil; es weist so auf die Ausgewogenheit des Denkens und Trachtens.

Um die Klärung dieses Begriffes bemühen sich in unserem Text vier Personen: Sokrates als der Gesprächsführer, Charmides als sein Kontrahent im Dialog, ferner noch Chairephon und Kritias. Charmides, im Dialog ein intelligenter, gutaussehender junger Mann, war übrigens ein Bruder der Mutter Platons, Periktione, und somit sein Onkel. Er wird hier als Ephebe im Glanz strahlender Schönheit eingeführt; Sokrates sieht ihn voller Begeisterung und Bewunderung, begehrt aber zu wissen, ob der Jüngling auch eine gleichermaßen schöne Seele besäße.

Da Charmides gerade an Kopfschmerz leidet, stellt Kritias ihm Sokrates als Arzt vor. In diese Szene hinein placiert Platon den Mythos, der den jungen Gesprächspartner von seinem Interesse an der Heilung zur Anteilnahme am philosophischen Gespräch hinführen soll. Selten wird die propädeutische Funktion des Mythos bei Platon so deutlich wie hier.

Der kurze Mythos erzählt von Zamolxis, einem göttlichen getischen König. Sein Name ist schon seit Herodot (4,94-96) bekannt. Freilich ist sich bereits der Vater der Geschichtsschreibung über Wesen und Zeit des Zamolxis nicht im klaren, und auch andere Autoren berichten Widersprüchliches: Ist er eine chthonische Gottheit? Oder ein Prophet und Gesetzgeber (Diodor 7,99)? Oder einer der ersten Philosophen unter den Barbaren (Diogenes Laertios 1,1)? Platon jedenfalls erzäht von ihm auf eigene Weise: Zamolxis ist ein Weiser auf dem Herrscherthron, er wird als Kronzeuge eingeführt für das Postulat, daß Körper und Seele miteinander verflochten sind und daß jeder Heilungsversuch, soll er gelingen, beide gemeinsam berücksichtigen muß. So ist hier die Beglaubigung der Forderung nach eingehender Seelenprüfung, bevor überhaupt eine Kopfschmerzkur einsetzen kann, aus geheimnisvoll fernem göttlichen Geheiß gegeben. In leicht spielerischer Weise wird die Brücke geschlagen zwischen dem Alltagsbereich der Kopfschmerzen des Charmides und dem Grundgedanken der Seelenforschung des Sokrates, zwischen medizinischem Problem und ethischer Erkenntnis. Ein motivierender Mythos, der mit dem Reiz einer gewissen Exotik arbeitet; er will weniger wörtlich genommen werden als vielmehr in seiner fast märchenhaften Art und Weise das Ganzheitsgebot vertiefen helfen: Das Auge ist nicht zu heilen ohne den Kopf, der Kopf nicht ohne den Körper, der Körper nicht ohne die Seele. So wird selbst die legendarische Figur eines fremden Führers zum mythischen Mahner.

Eben so nun, o Charmides, ist es auch mit diesem Spruch. Gelernt aber habe ich ihn dort im Felde von einem jener Ärzte unter den Zamolxischen Thrakiern, von denen man sagt, sie machten auch unsterblich. Dieser Thrakier nun sagte, in Jenem, was ich eben gesagt habe, hätten die Hellenischen Ärzte ganz recht; aber Zamolxis unser König, sprach er, der ein Gott ist, sagt, so wie man nicht unternehmen dürfe die Augen zu heilen ohne den Kopf, noch den Kopf ohne den ganzen Leib, so auch nicht den Leib ohne die Seele; sondern dieses eben wäre auch die Ursach, weshalb bei den Hellenen die Ärzte den meisten Krankheiten noch nicht gewachsen wären, weil sie nämlich das Ganze verkennten, auf welches man seine Sorgfalt richten müßte, und bei dessen Übelbefinden sich unmöglich irgend ein Teil wohlbefinden könnte. Denn alles, sagte er, entspränge aus der Seele, Böses und Gutes dem Leibe und dem ganzen Menschen, und ströme ihm von dorther zu wie aus dem Kopfe den Augen. Jenes also müsse man zuerst und am sorgfältigsten behandeln, wenn es um den Kopf und auch um den ganzen Leib gut stehen solle. Die Seele aber, mein Guter, sagte er, werde behandelt durch gewisse Besprechungen, und diese Besprechungen wären die schönen Reden. Denn durch solche Reden entstehe in der Seele Besonnenheit, und wenn diese entstanden und da wäre, würde es leicht, Gesundheit auch dem Kopf und dem übrigen Körper zu verschaffen. Als er mich daher das Mittel und die Besprechungen lehrte, sprach er, daß dich ja nicht Jemand überrede, mit dieser Arznei seinen Kopf zu behandeln, der dir nicht zuvor auch seine Seele darbietet, um sie mit den Besprechungen von dir behandeln zu lassen. Denn auch jetzt, sagte er, ist eben dieses der Fehler bei den Menschen, daß welche unternehmen, abgesondert für eins von beiden Ärzte zu sein. Und gar sehr befahl er mir an, daß ich mich ja von Niemand, wäre er auch noch so reich und vornehm und schön, sollte überreden lassen anders zu tun. Ich nun habe ihm geschworen, und muß notwendig gehorchen, werde es also auch. Und du, wenn du nach des Fremdlings Vorschrift zuerst die Seele hergeben willst, um sie zu besprechen mit des Thrakiers Besprechungen, so werde ich auch deinem Kopf das Mittel auflegen; wenn aber nicht, so weiß ich nichts, was ich für dich tun kann, lieber Charmides.

Das Leben im Jenseits

Apologie 40 D-41 C

Im Jahre 399 v. Chr. wurde Platons Lehrer und Freund, der so seltsame Sucher und Philosoph Sokrates, wegen Gottlosigkeit und Jugendgefährdung öffentlich angeklagt. Unter den Frühschriften Platons findet sich eine von ihm ausgearbeitete Verteidigungsrede, die Sokrates selbst so oder ähnlich vor dem Richterkollegium gehalten haben mag; an ihrem Ende findet sich die erste jener faszinierenden Jenseits-Visionen, die das Lebenswerk des Atheners in stetiger Folge bis zum Ende durchziehen. Die Gewichtigkeit des hier folgenden kurzen Textes gründet sich vor allem auf die Situation: Sokrates steht vor Gericht, er redet sich selbst um Kopf und Kragen, da er es verschmäht, seine eigene Wahrheit hintanzustellen und liebedienerisch dem Gremium nach dem Munde zu reden. Ja, er geht sogar so weit, die anwesenden irdischen Richter in Gegensatz zu stellen zu den »wahren Richtern« im Jenseits, zu Minos und Rhadamanthys und Aiakos und Triptolemos und den anderen Halbgöttern. Wichtig, daß er wiederholt den Wahrheitsgehalt zur Disposition stellt: »falls das Gesagte wahr ist« (40 E, ferner 41 A und C).

Für das, was dem Menschen nach dem Tode widerfährt, sieht Sokrates, wie Platon ihn sprechen läßt, zwei Möglichkeiten. Beide weichen von dem überlieferten hellenischen Jenseitsbild ab, beide sehen den Tod als Gewinn gegenüber der glücksarmen Gegenwart des Lebens an: Der griechische Pessimismus zeichnet sich ab. Die eine ist das empfindungslose Nichts, vergleichbar einem Schlaf ohne Traum – kein schlechter Zustand, findet der Sprecher, vielmehr ein höchst erfreulicher, wünschenswerter. Der andere ist freilich ihm noch bei weitem vorzuziehen. Er ist die Erfüllung eines anderen Traumes: nicht der der Ruhe, sondern der des erfüllten Daseins. Die Begegnung mit den Großen der Geschichte und der Mythologie erlaubt in dieser Vision dem Redner, sein irdisches Tun, die Menschenprüfung, im Jenseits ad infinitum fortzusetzen. In seine Gestaltung ist orphisches Gut eingeschmolzen, beispielsweise die Namensliste der Totenrichter, und auch homerische Anschauung in der Ausmalung des Jenseits. Als Quelle wird die Überlieferung, ta legomena, angeführt, die Platon meist für religiöse Gedanken wie die Mysterien oder für die pythagoreischen Theorien einsetzt. Der Schlußsatz der Rede lautet: »Es ist nun Zeit zu gehen – für mich zum Sterben, für euch zum Leben. Wer von uns das bessere Los findet, ist keinem kund außer dem Gott.«

Und ist es nun gar keine Empfindung, sondern wie ein Schlaf, in welchem der Schlafende auch nicht einmal einen Traum hat, so wäre der Tod ein wunderbarer Gewinn. Denn ich glaube, wenn jemand einer solchen Nacht, in welcher er so fest geschlafen, daß er nicht einmal einen Traum gehabt, alle übrigen Tage und Nächte seines Lebens gegenüberstellen, und nach reiflicher Überlegung sagen sollte, wieviel er wohl angenehmere und bessere Tage und Nächte als jene Nacht in seinem Leben gelebt hat: so glaube ich würde nicht nur ein gewöhnlicher Mensch, sondern der große König selbst finden, daß diese sehr leicht zu zählen sind gegen die übrigen Tage und Nächte. Wenn also der Tod etwas solches ist, so nenne ich ihn einen Gewinn, denn die ganze Zeit scheint ja auch nicht länger auf dies Art als Eine Nacht. Ist aber der Tod wiederum wie eine Auswanderung von hinnen an einen andern Ort, und ist das wahr was gesagt wird, daß dort alle Verstorbenen sind, was für ein größeres Gut könnte es wohl geben als dieses, ihr Richter? Denn wenn einer in der Unterwelt angelangt nun dieser sich so nennenden Richter entledige, dort die wahren Richter antrifft, von denen auch gesagt wird, daß sie dort Recht sprechen, den Minos und Rhadamanthys und Aiakos und Triptolemos, und welche Halbgötter sonst gerecht gewesen sind in ihrem Leben, wäre das wohl eine schlechte Umwanderung? Oder auch mit dem Orpheus umzugehn und Musaios und Hesiodos und Homeros, wie teuer möchtet ihr das wohl erkaufen? Ich wenigstens will gern oftmals sterben, wenn dies wahr ist. Ja mir zumal wäre es ein herrliches Leben, wenn ich dort den Palamedes und Aias des Telamon Sohn anträfe, und wer sonst noch unter den Alten eines ungerechten Gerichtes wegen gestorben ist: mit dessen Geschick das meinige zu vergleichen, das müßte glaube ich gar nicht unerfreulich sein. Ja was das größte ist: die dort ebenso ausfragend und ausforschend zu leben, wer unter ihnen weise ist, und wer es zwar glaubt es aber nicht ist. Für wieviel, ihr Richter, möchte das einer wohl annehmen, den welcher das große Heer nach Troja führte auszufragen oder den Odysseus oder Sisyphos, und viele andere könnte einer nennen, Männer und Frauen; mit welchen dort zu sprechen und umzugehn und sie auszuforschen auf alle Weise eine unbeschreibliche Glückseligkeit wäre. Gewiß werden sie einen dort um deswillen doch wohl nicht hinrichten. Denn nicht nur sonst ist man dort glückseliger als hier, sondern auch die übrige Zeit unsterblich, wenn das wahr ist, was gesagt wird.

Die Inseln der Seligen und der Tartaros

Gorgias 523 A-527 E

Eine eigenartige Einleitung erfährt die Erzählung am Ende des ›Gorgias‹: Es wird dem Leser freigestellt, sie als mythos oder als logos aufzufassen. Freilich folgt alsbald der Hinweis, der Erzähler trage sie als Wahrheit, nicht als Fabel vor. So sollten wir sie auch in der Tat ernst nehmen und ihren Inhalt akzeptieren als abschließende Aussage eines der großen Dialoge Platons.

Gorgias (ca. 480-380 v. Chr.) kam aus seiner Heimatstadt Leontinoi (Lentini in Ostsizilien) 427 als Gesandter nach Athen. Der Sophist, angeblich ein Schüler des Empedokles und späterhin Lehrer des Isokrates, erregte mit seiner kunstvollen Vortragsart erhebliches Aufsehen. In der Rhetorik werden nach ihm die sogenannten »gorgianischen« Figuren in der Prosarede benannt, z. B. Parallelismus, Antithese, Gleichklang usw. Gorgias ist damit einer der bedeutendsten Schöpfer der antiken Kunstprosa. Wenn auch nur wenig Schriftliches von ihm erhalten ist, so ist doch sein Einfluß, u. a. beim Historiker Thukydides, groß genug. Auch Platon hat Stellung genommen: Im ›Gastmahl‹, wo er in der Rede des Agathon den Stil des Gorgias genußvoll parodiert, und im vorliegenden Dialog ›Gorgias‹, wo er die Titelfigur des vielleicht erfolgreichsten Sophisten einführt als Chiffre für die Auseinandersetzung zwischen Form und Gehalt, zwischen Genuß und Gerechtigkeit, zwischen Macht und Recht. Und letztlich zwischen diesseitiger und jenseitiger Lebensorientierung.

War in der ›Apologie‹ die jenseitige Gerichtsbarkeit mit ihren »wahren« Richtern eine Korrektur der irdischen, so ist im ›Gorgias‹ die jenseitige Aburteilung selbst Ergebnis einer Korrektur. Der Mythos erzählt, wie zunächst die Urteilsfindung infolge der Verkleidung der Seelen mittels des Körpers inkorrekt ausfiel und nun erst, nach der Entkleidung der Person durch den Tod mit seiner Trennung von Seele und Leib, gerechtes Richten ermöglicht ist. Diese Entscheidung des Zeus stellt sich neben sein ähnliches Eingreifen im Mythos des ›Protagoras‹ (s. o. S. 13 ff.). Hat Zeus die Urteilsfindung verbessert, so verbessern die Strafen auch ihrerseits. Einmal werden Frevler, die korrigierbar sind, zum Besseren geleitet; umgekehrt leitet der Schock des Anblicks jener Qualen, welche die Unkorrigierbaren erleiden, die anderen ebenfalls dazu, besser zu werden.

In der Tat führt dieser Mythos, als abschließende Aussage des Dialogs, nach vielfältigen Erörterungen der Beteiligten über Prinzipien der Lebensführung, hin zum Lebensende: Hier muß sich bewähren, was während des langen Lebensganges entstanden ist. Gewiß gibt es für den Disput über das Danach im Jenseits keine geeignetere Formulierungsform als den Mythos. Wenn der platonische Sokrates hier die Wahl läßt zwischen der direkten und der bildlichen Darstellung, so wird damit der Aussagewert des Mythos betont, der hinter dem Logos nicht an Wahrheitsgehalt zurücksteht. Und wenn Sokrates am Ende nochmals direkt die Wahrheitsfrage anspricht, so betont er, nun unverhüllt, daß für ihn – und, wie er hofft, auch für die Hörer – die Richtigkeit der Mitteilungen unbezweifelt feststeht. Selten hat Platon so sehr die unabweisbare Wichtigkeit seiner mythisch gefaßten Darlegungen unterstrichen.

Was mitgeteilt wird, ist die Verzahnung zwischen irdischem und jenseitigem Leben, die gerecht ausgleichende Beziehung zwischen Diesseits und Jenseits. Hier hat die Mythenform Hilfsfunktion: Einen Erfahrungsbericht aus der Anderen Welt gibt es nicht, Dokumente liegen nicht vor, Spekulationen wie Visionen bleiben zweifelhaft. Die mythische Erzählung dagegen vermag kraft der ihr innewohnenden Stimmigkeit zu überzeugen – vielleicht nicht den radikalen Skeptiker und entschiedenen Zweifler, doch jedenfalls den Hörer, der am Gedankengang interessiert ist und hinter dem Bild die Wahrheit zu erfahren vermag. So rundet der Mythos bildhaft bekräftigend ab, was zuvor in abstrakten Sätzen erörtert worden war. Das Ziel des Dialoges ist nicht mehr die Aporia, sondern die Gewißheit. Zu ihr führt nur die eine Straße: der Königsweg des Mythos. In Franz Kafkas Worten (›Prometheus‹, sub fine): »Die Sage versucht, das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.«

Sokrates: So höre denn, wie sie zu sagen pflegen, eine gar schöne Rede, die du zwar für ein Märchen halten wirst, wie ich glaube, ich aber für Wahrheit. Denn als volle Wahrheit sage ich dir, was ich sagen werde.

Wie also Homeros erzählt, teilten Zeus, Poseidon und Pluton die Herrschaft, nachdem sie sie von ihrem Vater übernommen hatten. Nun war folgendes Gesetz wegen der Menschen unter dem Kronos schon immer, besteht auch noch jetzt bei den Göttern, daß welcher Mensch sein Leben gerecht und fromm geführt hat, der gelangt nach seinem Tode in die Inseln der Seligen, und lebt dort sonder Übel in vollkommner Glückseligkeit; wer aber ungerecht und gottlos, der kommt in das zur Zucht und Strafe bestimmte Gefängnis, welches sie Tartaros nennen. Hierüber nun waren unter dem Kronos, und auch noch später, da schon Zeus die Herrschaft hatte, Lebende der Lebenden Richter, und saßen zu Gericht an dem Tage, da jemand sterben sollte. Schlecht wurden daher die Sachen abgeurteilt. Weshalb denn Pluton und die Vorsteher aus den Inseln der Seligen zum Zeus gingen und ihm sagten, wie beiderseits bei ihnen unwürdige Menschen ankämen. Da sprach Zeus, Diesem will ich ein Ende machen. Denn jetzt freilich wird schlecht geurteilt, weil, sagte er, die zur Untersuchung Gezogenen verhüllt gerichtet werden; denn sie werden lebend gerichtet. Viele nun, sprach er, die eine schlechte Seele haben, sind eingehüllt in schöne Leiber, und Verwandtschaften und Reichtümer, und wenn dann das Gericht gehegt wird, so stellen sich viele Zeugen ein, um ihnen Zeugnis zu geben, daß sie gerecht gelebt haben. Teils nun werden die Richter von diesen übertäubt, teils richten auch sie selbst verhüllt, da ja ihre Seele ebenfalls hinter Augen, Ohren und dem ganzen Leibe versteckt ist. Dieses alles nun steht ihnen im Wege, ihre eignen Verhüllungen und der zu Richtenden ihre. Zuerst also, sprach er, muß dieses aufhören, daß sie den Tod vorher wissen; denn jetzt wissen sie ihn vorher. Auch ist dies schon dem Prometheus angesagt, daß er es ändern soll. Ferner sollen sie gerichtet werden entblößt von diesem allem. Wenn sie tot sind nämlich, soll man sie richten. Und auch der Richter soll entblößt sein, ein Toter, um mit der bloßen Seele die bloße Seele eines Jeden anzuschauen, plötzlich wenn jeder gestorben ist, entblößt von allen Verwandtschaften, und nachdem sie allen jenen Schmuck auf der Erde zurückgelassen, damit das Gericht gerecht sei. Dies Alles habe ich schon früher eingesehen als ihr, und habe von meinen Söhnen zu Richtern ernannt zwei aus Asia, den Minos und Rhadamanthys, und einen aus Europa, den Aiakos. Diese also sobald sie nur werden gestorben sein, sollen Gericht halten auf der Wiese am Kreuzwege, wo die beiden Wege abgehn, der eine nach der Insel der Seligen, der andere nach dem Tartaros. Und zwar die aus Asia soll Rhadamanthys richten, und die aus Europa Aiakos.